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Rifa'at Lenzin

Sterben, Tod – und was dann?

Mit seiner Geburt wird ein muslimisches Neugeborenes mit der Glaubensformel ins Ohr geflüstert in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen. Mit dem Tod schliesst sich der Kreis mit den gleichen Worten. Der Tod ist im islamischen Verständnis also mehr als das Ende biologischer oder chemischer Lebensprozesse; vielmehr wird das menschliche Leben in einem religiösen Gesamtzusammenhang verstanden, an dessen Anfang und Ende Gott steht.

Genauso wenig wie es den Islam gibt, gibt es die islamische Vorstellung davon, was beim Sterben und danach geschieht. Grundsätzlich muss man bei Fragen der religiösen Praxis unterscheiden zwischen dem, im eigentlichen Sinn islamischen Gehalt einerseits sowie traditionellen und/oder lokalen Vorstellungen, Sitten und Bräuchen andererseits. Letztere differieren je nach Herkunftsregion, sozialer Zugehörigkeit, Bildungsstand etc. beträchtlich.

Die Vorstellungswelt eines traditionell aufgewachsenen Menschen aus der Türkei unterscheidet sich wesentlich von derjenigen eines Muslims aus Afrika oder Indien. Menschen, die in der Zweit- und Drittgeneration hier aufgewachsen sind, sind mit diesen Vorstellungswelten überdies oft nicht mehr vertraut oder haben möglicherweise ein distanziertes Verhältnis dazu. Verbindende Elemente sind die im eigentlichen Sinn islamischen Auffassungen und Vorschriften. Diese beziehen sich auf die Waschung des/der Verstorbenen, das Totengebet und die Bestattung.

Glaubenswelt und Rituale

Wie in allen Religionen und Kulturen gibt es auch im Islam Rituale, die die Übergänge von Geburt, Leben, Tod und Bestattung markieren und erleichtern. Daher ist der letzte Liebesdienst, den Angehörige und Freunde einem Sterbenden erweisen können, dass man ihn oder sie so positioniert, dass sie mit dem Gesicht Richtung Mekka, dem spirituellen Zentrum aller Muslime, blicken und ein letztes Mal die Glaubensformel sprechen: La illaha illa-lah wa Muhammad ar-rasul al-lah – Es gibt keinen Gott ausser Gott und Muhammad ist der Gesandte Gottes. Es ist ein letztes Gebet und zugleich ein Bekenntnis, Muslim ergo ein «Gottergebener» zu sein, einer oder eine, die sich dem Willen Gottes überantwortet. Damit schliesst sich der Kreis, der mit den gleichen Worten – unmittelbar nach der Geburt ins Ohr des Neugeborenen geflüstert – begonnen hatte. Mit seiner Geburt wird ein muslimisches Neugeborenes in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen. Darin kommt kraftvoll die islamische Auffassung zum Ausdruck, dass der Gottesbezug unmittelbar zum Menschen gehört.

Geburt, Sterben und Tod, aber auch Alter, Krankheit und Leiden gelten dem gläubigen Muslim als Ausdruck göttlichen Willens: «Gott ist es, der euch zuerst schwach erschafft. Dann bringt Er nach Schwäche Kraft. Dann bringt Er nach der Kraft Schwäche und graues Haar. Er schafft, was Er will.» (30:54) Glauben bietet allerdings keinen Schutz vor Leiden: «Und meinen die Menschen, sie würden in Ruhe gelassen und nicht auf die Probe gestellt werden, nur weil sie sagten: ‹Wir glauben›?» (29:1/2) Der Tod ist unausweichlich; er ist für den gläubigen Muslim aber nicht das Ende, sondern die Rückkehr zu Gott und der Anfang zu einem neuen «Sein»: «Sprich: ‹Der Tod, vor dem ihr flieht, wird euch sicher ereilen. Dann werdet ihr zu Dem zurückgebracht werden, Der es kennt, das Verborgene und das Sichtbare; und Er wird euch verkünden, was ihr zu tun pflegtet.›» (62:8). Deswegen lautet auch die islamische Kondolenzformel: Inna lilahi wa inna ilayhi rajioun – Von Ihm sind wir, und zu Ihm kehren wir zurück.

Ein wichtiger Grundpfeiler des Islams und Basis der islamischen Weltanschauung ist der Glaube an ein ewiges Leben. Im Qur‘an begegnen wir einer Vielzahl von Versen, die die Welt nach dem Tod, den Tag der Auferstehung, die Auferstehung von den Toten, Gericht und Werteskala, Aufzeichnung unserer Taten, Paradies und Hölle, Ewigkeit und andere Themen diskutieren.

Die Seele oder das Selbst des Menschen ist die wahre Grundlage seiner Persönlichkeit. Der Mensch ist unsterblich, weil seine Seele unsterblich ist. Seine Seele ruht und existiert an einem Horizont über dem Horizont von Materie und materiellen Dingen. Obwohl Geist bzw. Seele das Produkt der gegenständlichen Evolution der Natur ist, werden Existenzhorizont und reale Position der Natur verändert und erhöht, d. h. sie werden zu einer anderen metaphysischen Welt hin entwickelt.

Mit dem Tod wird die Seele in einen Zustand transformiert, der selbst eine Kategorie des Geistes ist. Sie nimmt, anders ausgedrückt, die jenseits der Physik liegende Wahrheit an. Der indo-pakistanische Denker und Philosoph Muhammad Iqbal spricht hier vom Tod als Tor zu neuen Möglichkeiten der Höherentwicklung in einem geistigen Raum. Auf diese Qualität und Kategorie jenseits der Materie verweist der Qur’an-Vers, in dem Gott sagt: «Und Ich hauchte ihm [Adam] von Meinem Geist ein.» (15:29). Die Originalität des Geistes, seine Unabhängigkeit vom Körper und sein Weiterleben nach dem Tod gehören zu den bedeutendsten Themen der islamischen Wissenschaften.

Der Tod geschieht angesichts des einen Gottes, in dessen Hand Leben und Tod stehen und aus dessen Hand auch im Tod niemand fällt.

Muslimische Grabfelder auf dem Bremgarten Friedhof. © Christoph Knoch

Der Tod ist im islamischen Verständnis also mehr als das Ende biologischer oder chemischer Lebensprozesse; vielmehr wird das menschliche Leben in einem religiösen Gesamtzusammenhang verstanden, an dessen Anfang und Ende Gott steht. Der Tod geschieht angesichts des einen Gottes, in dessen Hand Leben und Tod stehen und aus dessen Hand auch im Tod niemand fällt. Der Tod sollte deshalb auch nicht aus dem Leben verdrängt werden, sondern der Muslim und die Muslimin sollten mit dem Bewusstsein ihrer Sterblichkeit leben. Durch das göttliche Einhauchen wird der Fötus zum Menschen, er wird damit sozusagen beseelt. Im Tod geschieht das Umgekehrte: «Der Engel des Todes, der über euch eingesetzt wurde wird euch abberufen; dann werdet ihr zu eurem Herrn zurückgebracht.» (Koran, Sure 32,11).

Der Tod bedeutet Heimkehr zu Gott, aber nicht das Ende.

Dieser Engel, in der Tradition Izra‘il genannt, tritt in der Todesstunde an einen Menschen heran und nimmt ihm die Seele weg, so dass er stirbt. Geburt und Tod einschliesslich Todesstunde und Todesort des einzelnen Menschen sind von Gott vorherbestimmt: «Wir haben für euch den Tod verordnet, und Wir sind nicht unfähig dazu an eurer Stelle andere wie euch hervorzubringen und euch in einen Zustand zu versetzen, den ihr nicht kennt.» (Koran, Sure 59,60-61). Der Tod bedeutet Heimkehr zu Gott, aber nicht das Ende. Nebst der erschaffenen Welt, in der wir leben, gibt es eine Wirklichkeit, in die der Mensch nach seinem Tod eintritt.

Volkstümliche Überlieferungen

Darüber hinaus haben die spätere Tradition und die volkstümliche Überlieferung etliche Vorstellungen darüber entwickelt, was nach dem Tod geschieht. Sie prägen die Vorstellungen und Bräuche vieler Muslime. Eine allgemein akzeptierte Vorstellung ist die Befragung im Grab. Sie erfolgt anschliessend an die Bestattung. Mancherorts dienen Bräuche und Rituale im Zusammenhang mit der Bestattung dazu, den oder die Verstorbene bei dieser Befragung, die sich um Glaube und Glaubensleben dreht, zu unterstützen. Je nach Ausgang der Befragung erhalten die Verstorbenen entweder frohe Kunde vom bevorstehenden Paradies oder werden bei negativem Ergebnis von den Grabesengeln gepeinigt und gequält. Dann folgt die Zeit des Wartens bis zur Auferstehung und dem Endgericht am Jüngsten Tag.

Religiöse Begleitung

In der islamischen Tradition ist im Blick auf die religiöse Begleitung die Unterscheidung zwischen dem lebenden Körper und dem toten Leichnam grundlegend. Für den lebenden Menschen ist eine Begleitung auch durch christliche Seelsorgerinnen und Seelsorger – sofern gewünscht – denkbar. In dem Moment jedoch, da eine muslimische Person stirbt, ist die religiöse Begleitung alleinige Sache der muslimischen Familie und Gemeinschaft. Dies gilt auch für den Umgang mit dem Leichnam und für das Begräbnis.

Es wird auch unter Muslimen diskutiert, ob von einer muslimischen Seelsorge gesprochen werden soll. Eine professionelle Seelsorge, wie man sie in der Schweiz im Christentum kennt, ist im muslimischen Kontext traditionellerweise unbekannt. Die institutionelle muslimische Seelsorge ist ein neues Phänomen, welches sich nicht nur in der Schweiz und in einigen westeuropäischen Ländern, sondern zunehmend auch in diversen islamischen Ländern beobachten lässt. Grundsätzlich ist für die religiöse Begleitung Sterbender wie auch Verstorbener und ihrer Angehörigen traditionell nicht ein Professioneller, also beispielsweise der Imam, zuständig, sondern alle Angehörigen – wobei die Angehörigen häufig weit über den engsten Familienkreis hinausreichen. 

Traditionell und modern

Oft verändern sich bei Zugewanderten der ersten oder der folgenden Generationen das Verständnis und manchmal auch die Bedeutung der mitgebrachten religiösen Tradition. Dies gilt auch für Muslim:innen in der Schweiz. Andererseits lässt sich oft beobachten, dass gerade in Krisensituationen wie beispielsweise beim Sterben auch bei Menschen, die bereits lange in der Schweiz leben, mit den Traditionen und der schweizerischen Kultur vertraut sind und den eigenen Traditionen weitgehend entfremdet sind, frühere, traditionelle Bräuche an Bedeutung gewinnen. 

Beispiele kulturell-religiöser Herausforderungen

Stichwort Intimsphäre: Während es in der westlich geprägten christlichen Seelsorge üblich ist, bei der Begleitung Kranker und Sterbender oft recht direkt persönliche Fragen anzusprechen – nach dem inneren Wohlbefinden, nach den Beziehungen zu wichtigen Personen, nach dem Erleben von Sinnhaftigkeit in der aktuellen Situation – kann diese Art von Fragen von Muslim:innen als übergriffig empfunden werden und sie in ihrer Intimsphäre verletzen. 

Stichwort Emotionen: In existentiell herausfordernden Situationen ist es für Muslim:innen oft zentral, ihren betroffenen Angehörigen eine möglichst harmonische Umgebung zu ermöglichen. Grundlage dafür ist das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des Geschehens, welches Allah verbürgt. Heftige Emotionen – Wut oder Trauer über die Situation – werden nicht geäussert, weil sie den inneren Frieden und die religiöse Zuversicht des Kranken oder Sterbenden stören. Dieser Umgang mit Emotionen kann im Vergleich mit der Auffassung eines «guten» Abschiedsprozesses, der gerade auch im Durchleben aller Emotionen besteht, als ungewöhnlich empfunden werden.

Stichwort Wahrheitsfrage: Während im westlich-medizinischen Kontext seit einigen Jahren die Auffassung überwiegt, dass dem Kranken oder Sterbenden «die Wahrheit» – meist im Sinne der medizinisch diagnostizierten «Wahrheit» – seiner Situation mitzuteilen ist, ist im muslimischen Kontext die Bewahrung der inneren Harmonie und Zuversicht des Patienten oft das zentrale Anliegen der Betreuung.


Literatur

Lenzin, Rifa’at: Sterben, Tod und was dann? in: Kuhn, Achim (Hg.): Deadline. Prominente über Leben und Sterben, Zürich 2015, S. 129-137.

Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Katholische Kirche Region Bern, Christkatholische Landeskirche des Kantons Bern (Hg.): Christlich-muslimische Trauerfälle, Bern 2017.
https://www.refbejuso.ch/fileadmin/user_upload/Downloads/OeME_Migration/Migration-Integration/OM_Christlich-muslimische_Trauerfa__lle.pdf

Vereinigung Islamischer Organisationen in Zürich: Merkblatt zur Erdbestattung von Muslimen, Zürich 1999.

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Autor

  • Rifa'at Lenzin

    Freischaffende Islamwissenschaftlerin und Publizistin, Präsidentin von IRAS COTIS ||| Rifa’at Lenzin studierte Islamwissenschaft, Religionswissenschaft und Philosophie in New Delhi, Zürich und Bern. Sie arbeitet als freischaffende Islamwissenschaftlerin und Publizistin mit den Schwerpunkten Interkulturalität und muslimische Identität in Europa, Islam und Gender sowie theologische Fragestellungen im interreligiösen Kontext. Sie ist Präsidentin von IRAS COTIS.

Rifa’at Lenzin studierte Islamwissenschaft, Religionswissenschaft und Philosophie in New Delhi, Zürich und Bern. Sie arbeitet als freischaffende Islamwissenschaftlerin und Publizistin mit den Schwerpunkten Interkulturalität und muslimische Identität in Europa, Islam und Gender sowie theologische Fragestellungen im interreligiösen Kontext. Sie ist Präsidentin von IRAS COTIS.

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