Psychologie  ·  Verschwörungstheorien
Anette Lippeck

Verschwörungsmythen neu erzählen

Viele von uns kennen es: Verschwörungsmythen können Familien und Freundschaften bis an die Grenzen des Erträglichen belasten. Oft wissen wir dann nicht mehr, wie wir noch aufeinander zugehen können. Die Autorin greift auf wissenschaftliche Theorien und Psychologie zurück, um die zugrunde liegenden Mechanismen zu verstehen und hilfreiche Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Der Bub im Kinderwagen, etwa ein Jahr alt, jauchzt und zappelt vor Vergnügen. Er hat sein kleines Spielzeugauto auf das Trottoir geworfen und seine Mama hat sich gebückt, es aufgehoben und ihm wieder in die Hand gedrückt. Immer und immer wieder. Und obwohl der Bub erst einzelne Wörter sprechen kann, hat er die Spielregel schon begriffen: «Wenn ich das bunte Ding da wegwerfe, kommt Mami und bückt sich und lächelt mir zu und gibt es mir wieder.» Wenn das kein Grund zur Freude ist!

Ein Archetypus des Denkens

Schon bei ganz kleinen Kindern können wir eine grundlegende Denkstruktur erkennen, es sind die Anfänge der Logik: Wenn ich dies oder jenes (nicht) tue, dann geschieht dies oder jenes (nicht).

Dieser Archetypus des Denkens führt zum zielbewussten, geplanten Handeln. Wir definieren mit ihm Kausalität und Finalität. Er ist für uns überlebensnotwendig, weil wir Menschen ja – anders als zum Beispiel Pflanzen – unbedingt handeln müssen, um am Leben zu bleiben. Und auch, um Lebenssinn zu erfahren.

Vier Grundbedürfnisse

Mit diesem Archetypus des Denkens erfüllen wir uns ein Leben lang unsere grundlegenden Bedürfnisse, die vom Psychologen Klaus Grawe aufgrund umfangreichen Studien in vier Gruppen eingeteilt worden sind: (1.) Orientierung und Kontrolle sowie (2.) Lustgewinn und Unlustvermeidung, dann (3.) Bindung und Zugehörigkeit und (4.) Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz. Diese Grundbedürfnisse spielen mehr oder weniger bei allem mit, was wir erreichen oder haben wollen – oder was wir ablehnen und vermeiden.

Im Bespiel von oben wurden dem Bub jedes dieser vier Grundbedürfnisse erfüllt, und wenn er schon sprechen könnte, würde er vielleicht sagen: Ich habe grossen Einfluss darauf, was Mami macht. … Es macht Spass. … Sie hat mich lieb, das tut gut. … Ich bin stolz auf mich, weil ich schon so viel kann und weiss.

In Zeiten einer Pandemie

Wie steht es aber generell um unsere Grundbedürfnisse, wenn unser Planet von einer Pandemie überzogen wird? Wir alle haben mehr oder weniger schlimme Erfahrungen mit dieser Situation und wissen: Es braucht seit gut anderthalb Jahren erheblich mehr Anstrengungen, um auch nur unsere einfachsten Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen. Und oft genug ist auch dies unmöglich.

Die Kontrolle über unsere Gesundheit und unser Leben droht uns zu entgleiten. Zehntausende sind verstorben. …

Die Kontrolle über unsere Gesundheit und unser Leben droht uns zu entgleiten. Zehntausende sind verstorben. … Kultur- und Freizeitaktivitäten und alles, was Freude macht, sind auf ein Minimum reduziert oder ganz unmöglich. … Soziale Kontakte werden erheblich eingeschränkt und es ist schwierig, mit unseren Mitmenschen so wie früher ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu bewahren. … Unser Selbstwertgefühl als Menschen, die es gewohnt sind, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik Probleme erfolgreich zu lösen, tendiert oft genug gegen Null.

Verschwörungsbehauptungen

Verschwörungsbehauptungen kommen auch im Gewand der Wenn-dann-Logik daher, zum Beispiel: «Wenn uns ein Virus bedroht … eine Impfung empfohlen wird …, dann wollen uns geheime und übelwollende Mächte ans Leben … per Mikrochip überwachen … uns ganz einfach nur schaden.»

Und doch steht da ein riesengrosses Aber im Raum, wenn man den Verschwörungsbehauptungen das Gewand der Pseudo-Logik abzieht: Es bleiben fast ausschliesslich nur Wenn-Dann-Konstruktionen übrig, die sich mit den Methoden der Wissenschaft nicht überprüfen lassen.

Verschwörungsbehauptungen aber sind nicht überprüfbar und nicht widerlegbar. Oft genug argumentieren sie im Zirkelschluss.

In letzter Konsequenz sollte man deshalb auch nicht von einer «Verschwörungstheorie» sprechen, denn die Science-Community hat sich darauf geeinigt, in einer Theorie nur wissenschaftlich überprüfbare Hypothesen zusammenzufassen. Und erst wenn diese Hypothesen nicht widerlegt werden können, wird diese Theorie allgemein akzeptiert, als vorläufig gültig. Bis zum Gegenbeweis. Verschwörungsbehauptungen aber sind nicht überprüfbar und nicht widerlegbar. Oft genug argumentieren sie im Zirkelschluss.

Es werden Ur-Ängste aktiviert

Wer im Bereich des Nicht-Überprüfbaren und des Nicht-Widerlegbaren gravierende Bedrohungen behauptet, löst bei seinen oder ihren Mitmenschen zunächst einmal Ur-Ängste aus. Verschwörungsbehauptungen sind ein Frontalangriff auf unser Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit, und sie werden als so extrem bedrohlich erlebt, weil es kein rationales Gegenmittel gibt. Die Gefahr ist nicht greifbar und nicht handhabbar.

Eine existentielle Gefahr

Auch wenn Verschwörungsbehauptungen wissenschaftlich gesehen auf so wackeligen Beinen stehen, kann man sie nicht einfach als harmlose und irgendwie auch kreative Äusserungen ignorieren. Man kann sie auch nicht einfach weglächeln. Warum ist das so?

Die Antwort kommt aus der Stress- und Trauma-Forschung: Die Angst vor einer Bedrohung, die nicht widerlegbar ist, kann sich ins Unermessliche steigern und mit der Zeit alle Lebensbereiche überschatten. Machen wir uns bewusst, dass es bei dieser Angst ums Leib und Leben geht, um unsere gesamte Existenz als Menschen. Die geheime Macht, die da angeblich schaden will, hat es auf alle unsere Grundbedürfnisse gleichzeitig abgesehen.

Unterschiedliche Reaktionen

Menschen können, je nach Lebenserfahrung, in einer extrem bedrohlichen Situation sehr unterschiedlich reagieren. Wer von Angst beherrscht wird, kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen und pendelt zwischen widersprüchlichem Verhalten hin und her. Das innere Chaos zeigt sich im Äusseren.

Andere Menschen ergeben sich früher oder später ihrem vermeintlichen Schicksal und verfallen in Fatalismus und Resignation. Sie werden mutlos und depressiv und können sich zu nichts mehr entschliessen. Es wirkt von aussen wie eine  Art Schockstarre.

Und eine dritte Gruppe verdrängt die Angst und reagiert mit Wut, Empörung, Feindlichkeit und vielleicht auch impulsiver Gewalt, die dann von ihnen als notwendige Gegenwehr uminterpretiert wird.

© Vera Rüttimann

Wie sprechen …

Im persönlichen Kontakt gilt die Empfehlung, erst einmal genau hinzuschauen und sich auf die drei unterschiedlichen Reaktionsmuster einzustellen.

… bei Angst?

Für jemanden, der oder die tiefe Angst und Bedrohung erlebt, ist es hilfreich, zunächst einen beruhigenden Beziehungsraum anzubieten. Unsere Körperhaltung und unsere Stimme drücken aus: Ich bin ruhig, habe Zeit und bin jetzt gerne für dich da. Man oder frau können danach ihre eigenen Überzeugungen den geäusserten Verschwörungsbehauptungen freundlich, aber bestimmt entgegensetzen: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube stattdessen, dass es so und so ist. Ich bin da ganz zuversichtlich. Wir können gemeinschaftlich etwas gegen die Pandemie tun. 

… bei Fatalismus?

Hier sind zusätzlich behutsame Fragen angebracht: Welche deiner Lebensbereiche sind nicht von der Pandemie überschattet? Welche Wünsche und Bedürfnisse lassen sich vielleicht trotz der Einschränkungen erfüllen? Was möchtest du wirklich? Was tut dir gut? Bist du einverstanden, dass wir einen Plan machen, was geht und was nicht? Ich glaube an dich und deine Kraft und dass du es schaffst, in kleinen Schritten.

… bei Wut?

Und die Wut, lässt sie sich auch umwandeln? Wie gehe ich mit Menschen um, die ihre Empörung mehr oder weniger lautstark kundtun? Hier können alle sachlichen Informationen und Argumente in eine Sackgasse führen, denn Menschen, die von Wut ergriffen sind, sind aus biologischen Gründen nicht in der Lage, Neues zu lernen oder ihre Überzeugungen zu überdenken.

Bestenfalls kann im Kontakt mit einem wütenden Menschen die Wirkung auf einen selbst ausgesprochen werden: Es macht mir Angst, wenn du so sprichst. Ich fühle mich dann wie erdrückt.

Die Empfehlung ist deshalb, sich erst einmal zu schützen und auf jede Diskussion zu verzichten. Bestenfalls kann im Kontakt mit einem wütenden Menschen die Wirkung auf einen selbst ausgesprochen werden: Es macht mir Angst, wenn du so sprichst. Ich fühle mich dann wie erdrückt. Und vielleicht kommt auch eine freundliche Bitte gut an: Bitte sprich ruhig und höflich zu mir. Dann kann es sein, dass hinter der Wut die tiefsitzende Angst zum Vorschein kommt oder die Wut in eine lähmende Resignation kippt. Aber auf diesen emotionalen Ebenen ist der ehemals wütende Mensch wieder mit einem wohlwollenden Beziehungsangebot und behutsamen Gesprächen erreichbar.

Gemeinsinn ist angesagt

Vergessen wir es nicht: Eine Pandemie zu bewältigen ist kein harmloser Sonntagsspaziergang im hübschen Blumengarten. Wir alle kennen die Angst vor dem Unkontrollierbaren, manche mehr, manche weniger. Einige von uns sind kurz davor, in die Resignation zu kippen. Andere werden sehr wütend. Viele von uns leben schon viele Monate lang an ihrem persönlichen Stresspunkt. Besinnen wir uns doch darauf, wie wir uns immer wieder wechselseitig zur Gemeinschaft einladen können. Bleiben wir bitte im Gespräch! In unserem privaten Umfeld. Und in der Politik.


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Autor

  • Anette Lippeck

    Psychologin ||| Dipl.-Psych. Anette Lippeck hat das Studium der Psychologie an der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Düsseldorf abgeschlossen. Siehe auch: www.psychologische-praxis-stans.ch.

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