Digitale Religion  ·  Digitalisierung  ·  Islam
Hamit Duran

Die Pilgerfahrt als Virtual Reality-Erlebnis – Bald Wirklichkeit?

Wie beeinflusst die Digitalisierung die Glaubenswelt des Islams? Digitale Helferlein, der uneingeschränkte Zugang zu Wissen und Unwissen und sogar online-Gebete und -Pilgerreisen verändern den Alltag von Musliminnen und Muslimen in der Schweiz. Hamit Duran vom Vorstand des Verbandes Aargauer Muslime (VAM) berichtet aus dem Leben als Muslim im digitalen Zeitalter. 

Die fortschreitende Digitalisierung unseres täglichen Lebens betrifft uns alle. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um weltliche oder religiöse Belange geht. Internet, Smartphones, Soziale Medien oder auch künstliche Intelligenz stehen uns heutzutage rund um die Uhr zur Verfügung. Die bereits  fortgeschrittene Digitalisierung unseres Alltags hat durch den Homeoffice-Zwang während der COVID-19-Pandemie nochmals einen kräftigen Schub bekommen. Cloud-Dienste, Online-Unterricht, -Sitzungen und -Konferenzen gehören für viele von uns mittlerweile zum Alltag.

Sogar die Forschung widmet sich dem Thema der Digitalisierung muslimischer Gesellschaften. So berichtete der deutsche Tagesspiegel in einem Artikel vom 20. Juni 2020 unter dem Titel «Digitale Transformation und Islam – Traditionelle Autoritäten brechen weg» über ein europäisches Forschungsprojekt. Dieses untersucht die digitale Transformation in islamischen Gesellschaften. An dem von der Europäischen Union geförderten Projekt «Mediating Islam in the Digital Age» (MIDA) sind zahlreiche Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Spanien, Frankreich, Bosnien, den Niederlanden und Belgien beteiligt. Die Ergebnisse sind auf der Projekt-Webseite (www.itn-mida.org) abrufbar.

In meinem Beitrag möchte ich aus meinem Umfeld im Aargau in der Schweiz berichten. Dafür unterscheide ich zwischen drei Bereichen des religiösen Alltags:

  • Erleichterung des täglichen Lebens dank digitaler Helfer
  • Schneller und uneingeschränkter Zugang zu Wissen und Unwissen
  • Verrichtung gottesdienstlicher Handlungen im virtuellen Raum

Digitale Helfer: Vom digitalen Gebetskalender zum Unterricht über Zoom

Viele digitale Helfer haben Einzug in den muslimischen Alltag gefunden. Die Gebetszeiten für die fünf täglichen Gebete richten sich nach dem Sonnenstand. So war es naheliegend, dass irgendwann der klassische Gebetskalender auf Papier, der für jeden Tag im Jahr die Gebetszeiten zeigt, durch ein digitales Pendant ersetzt wird. Bereits in den 80er Jahren kam die in der Schweiz entwickelte Bilal-Uhr auf den Markt. Es handelte sich dabei um eine batteriebetriebene digitale Tischuhr, welche die tägliche Gebetszeiten berechnen und anzeigen konnte. Sogar einen einprogrammierten Gebetsruf (arab. Azan) konnte sie abspielen. In der Folge kamen immer mehr derartige Produkte auf den Markt. Heute hängt fast in jeder Moschee eine solche digitale Gebetsuhr in Form einer Wanduhr. Ich selbst hatte eine Bilal-Uhr und später dann auch eine digitale Armbanduhr, welche die gleichen Funktionen aufwies. 

Mit dem Aufkommen des Smartphones Mitte der 2000er Jahre wurden dann schon bald erste Apps entwickelt, die die Berechnung der Gebetszeiten überall und zu jeder Zeit ermöglichten. Und der in den meisten Smartphones eingebaute digitale Kompass hat in der Zwischenzeit den klassischen Magnetkompass zur Bestimmung der Gebetsrichtung gen Mekka abgelöst.

Neben all diesen persönlichen Helferlein haben natürlich auch andere digitale Technologien in das Leben muslimischer Gemeinschaften Einzug gehalten. So ist es heute selbstverständlich, dass Moscheevereine und muslimische Dachverbände digitale Medien wie E-Mail, Webseiten, WhatsApp, Facebook, Instagram und so weiter mehr oder weniger aktiv nutzen, um mit ihren Mitgliedern und anderen Interessierten in Kontakt zu bleiben.

Im Laufe der COVID-19-Pandemie, als die Moscheen ihren Betrieb stark einschränken oder gar ganz einstellen mussten, wurde relativ rasch auf Online-Tools wie Teams, Skype oder Zoom umgestellt. So konnten sie den Unterricht für Kinder und Erwachsene sowie Vorstands- oder Projektsitzungen fortführen.

Die Kehrseite der Medaille

Dies sind natürlich alles Annehmlichkeiten, die man gerne nutzt. Die Medaille hat aber auch eine Kehrseite. Ältere Gemeindemitglieder, die nicht so vertraut sind mit der digitalisierten Welt, können von einigen Angeboten und Aktivitäten, die ausschliesslich digital angeboten werden, ausgeschlossen werden. Aber es gibt auch andere negative Auswirkungen, die Jüngere betreffen.

Bild: iStock/adamkaz

Wie eingangs erwähnt, werden die Gebetszeiten nach dem Sonnenstand berechnet. Früher, vor dem Zeitalter der Digitalisierung, war es daher üblich, wenn einmal kein gedrucktes Kalenderblatt zur Verfügung stand, die Gebetszeiten aufgrund des Sonnenstandes zu bestimmen. Wann geht die Sonne auf, wann steht sie im Zenit, wann geht sie unter, wann ist es richtig dunkel? Oder wo ist Osten, wo ist Süden und in welcher Richtung liegt Mekka? All diese Fragen konnte man früher mehr oder weniger ohne spezielle Hilfsmittel beantworten. Heute ist dies, den digitalen Helferlein sei Dank, nicht mehr unbedingt der Fall, und das ist sehr schade.

Schneller Zugang zu Wissen …

Wie in allen anderen Bereichen des menschlichen Lebens hat die Digitalisierung dazu geführt, dass Wissen und Unwissen überall und jederzeit mit einem Mausklick oder einem Fingerdruck auf dem Bildschirm eines Smartphones verfügbar sind. Infolge der allgemeinen Verbreitung des Internets dauerte es nicht lange, bis auch Musliminnen und Muslime dieses für sich entdeckten und der Qur’an im arabischen Original mit seinen Übersetzungen, Hadtih-Sammlungen und andere religiöse und theologische Texte online verfügbar wurden.

Die fortschreitende Digitalisierung klassischer Werke hat die Suche nach spezifischen Themen und Inhalten für persönliche oder wissenschaftliche Recherchen stark vereinfacht. Ich selbst habe im Keller noch eine grosse Bibliothek mit Büchern zu verschiedensten Themen wie islamischer Theologie oder Geschichte. Ich habe sie aber schon seit Jahren nicht mehr benutzt. Genauso wie die umfangreiche Bertelsmann-Lexikothek, die wir vor vielen Jahren für viel Geld gekauft hatten und dann dank Wikipedia und Co. schon bald nicht mehr brauchten. Zum Glück konnten wir sie dann noch für ein paar Franken auf eBay verkaufen …

… und Unwissen

Natürlich haben diese neuen Medien auch ihre Nachteile. Jeder kann heute sehr einfach eine Webseite aufschalten, Videos erstellen und auf YouTube hochladen, ohne dass die Inhalte geprüft werden. Auf der einen Seite ist das eine gute Sache, da dadurch der offene Meinungs- und Wissensaustausch vereinfacht wird. «Die Wahrheit» kann somit nicht mehr von ein paar ausgewählten Gelehrten (echten oder selbsternannten) gepachtet und kontrolliert werden. Jedermann, jede Frau mit Internetzugang hat heute die Möglichkeit, eigene Recherchen anzustellen und sich ein eigenes Bild zu machen. 

«Die Wahrheit» kann somit nicht mehr von ein paar ausgewählten Gelehrten (echten oder selbsternannten) gepachtet und kontrolliert werden.

Auf der anderen Seite birgt diese neue Freiheit auch grosse Risiken und Gefahren, da auch Falschinformationen und Halbwahrheiten sehr einfach verbreitet werden können. Dies ist natürlich nicht ein religionsspezifisches Problem; sogenannte «Fake News» begleiten uns heute tagaus, tagein. Das Web ist voll mit Beiträgen selbsternannter Predigerinnen und Prediger, die mit mehr oder minder rhetorischem Geschick ihre Ansichten und Meinungen zum Besten geben. Leider werden soziale Medien auch von Terrororganisationen und dergleichen genutzt, um im Namen der Religion Propaganda zu betreiben und neue Mitglieder anzuwerben. Dieses Thema wird in dem Kurzfilm «Tariqs Weg» des Verbandes Aargauer Muslime (VAM) aufgegriffen und behandelt. Er kann auf der VAM-Webseite (www.aargauermuslime.ch) heruntergeladen werden.

Gottesdienst im virtuellen Raum

Mit dem Aufkommen von immer mehr menschenähnlichen Robotern, Brillen für die virtuelle Realität (VR) und künstlicher Intelligenz (KI) stellt sich natürlich die Frage, ob auch gottesdienstliche Handlungen wie die fünf täglichen Gebete, das Fasten im Ramadan oder die Pilgerfahrt nach Mekka im virtuellen Raum durchgeführt werden könnten und was deren Wert sein könnte.

Während der COVID-19-Pandemie, als Saudi-Arabien die Durchführung der Pilgerfahrt sehr stark einschränkte, bekam die Idee der virtuellen Pilgerfahrt (arab. Haddsch) einigen Aufwind. So berichtete zum Beispiel der deutsche Radiosender Deutschlandfunk am 7. August 2020 unter dem Titel «Virtuelle Pilgerfahrt nach Mekka» über die Bonner Softwarefirma Bigitec, welche die Smartphone-App Muslim 3D entwickelte. Diese erlaubt es, die Pilgerstätten in Mekka und Medina virtuell zu besuchen. Im Gespräch mit dem Entwickler und Geschäftsführer der Firma, Bilal Chbib, sowie mit einigen muslimischen Religionsexperten wird aber schnell klar, dass solche digitalen Angebote nicht die eigentlichen gottesdienstlichen Handlungen ersetzen können oder wollen. Sie sind vielmehr als Ergänzung oder als Vorbereitung gedacht, insbesondere bezüglich der Pilgerfahrt.

Im Islam sind gottesdienstliche Handlungen wie die fünf täglichen Gebete, das Fasten im Monat Ramadan oder die eben erwähnte Pilgerfahrt nach Mekka und Medina eine Kombination von physischen und geistigen Handlungen. Lässt man eine der beiden Komponenten weg, ist die entsprechende gottesdienstliche Handlung, im Normalfall, nicht vollständig.

«Virtuelle Haddsch»

Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Wenn wir auf den bereits angesprochenen Haddsch zurückkommen, so ist es so, dass diese nicht verpflichtend ist, wenn jemand aufgrund einer Krankheit, eines Gebrechens oder aus anderen Gründen keine derartig lange und manchmal nicht ganz einfache Reise unternehmen kann. Es wäre aber durchaus denkbar, dass er oder sie auf eine «virtuelle Haddsch» zurückgreifen könnte, um wenigsten teilweise an diesem für viele Musliminnen und Muslime prägenden Erlebnis zumindest stückweise teilnehmen zu können.

Sowieso scheint die Pilgerfahrt ein beliebtes Objekt für die Digitalisierung zu sein. So ist es seit einiger Zeit möglich, auf rein digitalem Weg ein Touristenvisum für Saudi-Arabien zu beantragen und damit die heiligen Stätten Mekka und Medina zu besuchen. So etwas war noch vor fünf Jahren völlig undenkbar. Sogar der Zutritt zur Kaaba in Mekka und zur Prophetenmoschee in Medina ist mittlerweile nur noch per Reservation via die Smartphone-App «Nusuk», welche durch das saudische Ministerium für Haddsch und Umrah (kleine Pilgerfahrt) herausgegeben wird, möglich.

Per Mausklick wird der entsprechende Betrag auf elektronischem Wege einer Hilfsorganisation überwiesen.

Was die Armensteuer (arab. Zakat) anbelangt, so hat die Digitalisierung hier schon längstens Einzug gehalten. Nur die wenigsten begeben sich heute noch auf die Suche nach Armen und Bedürftigen, um ihnen die Zakat zu übergeben. Per Mausklick wird der entsprechende Betrag auf elektronischem Wege einer Hilfsorganisation überwiesen. Es gibt aber durchaus Gelehrte, die der Ansicht sind, dass auch das Entrichten der Armensteuer eine physische Komponente enthält, die Mann oder Frau körperlich erleben sollte.

Stand der Digitalisierung in der muslimischen Gemeinschaft 

Die Digitalisierung ist in der muslimischen Gemeinschaft angekommen und wird von Musliminnen und Muslimen in vielen Bereichen rege genutzt. So wie im nichtreligiösen Leben sind die Beweggründe hierfür sehr unterschiedlich. Zum einen sind es der Komfort und die Erleichterung, die die Digitalisierung meistens mit sich bringt, zum anderen können auch äussere Faktoren, wie die Einschränkungen während der COVID-19-Pandemie, die Musliminnen und Muslime auf digitale Alternativen zurückgreifen lassen. Und auch hier bleibt einiges davon «hängen», selbst wenn die äusseren Faktoren irgendwann wegfallen. 

Es scheint aber auch klar, dass die Digitalisierung nicht in alle Bereiche des religiösen Lebens muslimischer Mitbürgerinnen und Mitbürger vordringen wird, zumindest vorerst. Dazu gehören vor allem die gottesdienstlichen Handlungen, die sowohl des menschlichen Geistes als auch des Körpers bedürfen, um vollständig zu sein. Nur in Ausnahmefällen, wie beim Vorliegen eines körperlichen oder gesundheitlichen Gebrechens, könnten digitale Helfer allenfalls als «Ersatz» für die Realität einspringen.

Autor

  • Hamit Duran

    Ingenieur und Vorstandsmitglied im Verband Aargauer Muslime (VAM) ||| Hamit C. Duran, Dr. Sc. techn., dipl. El.-Ing ETH, Nachdiplomstudium in Betriebswissenschaften an der ETH Zürich.1965 in Bern geboren und aufgewachsen, verheiratet seit 1990, Vater von 3 Kindern. Momentan wohnhaft in Baden-Turgi und tätig in der Entwicklung von elektronischen Komponenten in einem Schweizer KMU in Thalwil. Seit vielen Jahren in verschiedenen islamischen Organisationen aktiv, u.a. Vorstandsmitglied im Verband Aargauer Muslime (VAM).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst diese HTML-Tags und -Attribute verwenden:

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.