Diversität  ·  Judentum
Sara Bloch

Diversität im Judentum

Das Judentum gibt es nicht. Denn Juden und Jüdinnen sind seit langer Zeit auf der ganzen Welt verstreut. Sprachliche und kulturelle Unterschiede gehen daher weit zurück in der Geschichte. In der Moderne neu dazugekommene theologische und ideologische Unterschiede ergänzen das Bild. Globalisierung und Mobilität lassen die Grenzen heute jedoch flüssiger werden.

Dass es unter Juden in politischer und religiöser Hinsicht grosse Divergenzen gibt, ist der Allgemeinheit in den vergangenen Monaten in den lauten Auseinandersetzungen unter jüdischen Israeli um die Rechtsreform deutlich geworden. Aber auch ethnische Vielfalt spielt eine Rolle in der Debatte.

Judentum: eine «Weltreligion»?

Das Judentum wird generell als «Weltreligion» gehandelt. Das geht sicherlich nicht auf die bescheidene Anzahl von Jüdinnen und Juden weltweit zurück. Es liegt wohl eher daran, dass das Judentum eine prägende Rolle für die Entstehung der monotheistischen Religionen gespielt hat. Eine Weltreligion im Wortsinne ist das Judentum aber trotzdem: in dem Sinne nämlich, dass es überall auf der Welt jüdische Gemeinschaften gibt und dass diese geographische Vielfalt die jüdische Kultur und Geschichte von Anfang an geprägt hat. 

Sephardim, Aschkenasim, Misrachim: Geographische Subgruppen

Die unterschiedlichen kulturellen Eigenschaften der jüdischen Gemeinden werden in der Regel geographischen Subgruppen zugeordnet: ausgehend von der Gegend, in welcher die jeweilige Gemeinschaft oder deren Mitglieder ihren Ursprung hat – auch wenn dieser «Ursprung» nicht selten eher auf Legenden als auf historischen Belegen basiert. 

Generell gibt es keine unüberbrückbaren Gegensätze zwischen diesen Gruppen.

Diese Aufteilung und deren Bezeichnungen sind sowohl unter Juden selbst wie auch unter Religions- und Kulturforschenden weit verbreitet. So gibt es die Sephardim (ursprünglich auf der iberischen Halbinsel zu Hause, später auch in Nordafrika), die Aschkenasim (aus West- und Zentraleuropa, später auch aus Osteuropa) sowie die Misrachim oder «Orientalische», die u.a. aus dem Gebiet des heutigen Irak, aus Syrien, dem Jemen und dem Iran stammen. Weitere, meist kleinere Gruppen und Subgruppen sind etwa die äthiopischen und die bukharischen (aus dem Kaukasus) Juden oder die Bene Israel (aus Indien) – und viele mehr. 

Die Gruppen unterscheiden sich mit wenigen Ausnahmen nicht in theologischer Hinsicht: Es liegt keinerlei Schisma vor. Generell gibt es keine unüberbrückbaren Gegensätze zwischen diesen Gruppen. Die Unterschiede sind vielmehr kultureller Natur. 

Diversität in Sprachen und Kulturen

Nicht zuletzt haben jeweils unterschiedliche Sprachen die jüdischen Gemeinden im Laufe der Geschichte geprägt. Zwar wurde Hebräisch überall als heilige Sprache bewahrt, aber die Umgangssprache war stets ortsabhängig. So ist z.B. jiddisch in der aschkenasischen Kultur verbreitet, arabisch und judeo-arabisch in vielen Misrachi-Gemeinden. 

Auch wenn die sprachliche Vielfalt heute deutlich geringer ist, bestehen die unterschiedlichen Gebräuche bis heute weiter. Es ist z.B. Tradition unter sephardischen Juden, ein neugeborenes Kind nach noch lebenden Verwandten zu benennen, während in aschkenasischen Familien die jüdischen Namen der Kinder ausschliesslich von bereits verstorbenen Verwandten übernommen werden. Die kulturellen Unterschiede sind mal klein, mal gross. Nicht zuletzt in musikalischen und kulinarischen Traditionen ist die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe häufig noch leicht erkennbar: Sepharden bereiten für das Pessachfest ein Gericht aus Datteln, Nüssen und süssem Wein zu. Aschkenasim ersetzen die Datteln durch Äpfel.  

«Aschkenormativität»

Die grossen demographischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass die aschkenasische Kultur, die seit dem 19. Jahrhundert dominant war, im 21. Jahrhundert nun weniger Platz einnimmt. Auch wenn die Zahl der Aschkenasim weltweit noch überwiegt (sie machen schätzungsweise 60 bis 70 Prozent der Juden aus), gibt es heute vor allem in Israel und in den USA grosse Gemeinden mit unterschiedlichen ethnischen Ausrichtungen. 

Typisch Aschkenasisches wie Klezmer, jiddische Dichtung oder Hühnersuppe mit Matzenknödeln werden in den Medien, aber auch in Lehrbüchern gerne als jüdisch schlechthin dargestellt.

Dieser Umstand wird in Europa noch kaum wahrgenommen. Typisch Aschkenasisches wie Klezmer, jiddische Dichtung oder Hühnersuppe mit Matzenknödeln werden in den Medien, aber auch in Lehrbüchern gerne als jüdisch schlechthin dargestellt. Auch in der jüdischen Welt selbst herrscht oftmals eine gewisse «Aschkenormativität» vor, wodurch die kulturelle Vielfalt jüdischer Kulturen marginalisiert wird. Das erstaunt, wenn man bedenkt, dass die unterschiedlichen Gruppen sehr alt sind: so alt wie die Diaspora, aus der sie hervorgegangen sind (auch wenn die Bezeichnungen für die jeweiligen Gruppen nicht ganz so alt sind). 

Bild: Vera Rüttimann

Unterschiedliche theologische und ideologische Strömungen im Judentum

Die heutige jüdische Vielfalt betrifft zusätzlich zu den ethnischen oder kulturellen Gruppierungen aber auch unterschiedliche theologische und ideologische Strömungen. Die gängige Unterteilung in drei Hauptströmungen stellt natürlich ein verkürztes Bild der effektiven jüdischen Lebenswelten dar. Denn diese lassen sich durchaus individuell gestalten. Aber man kann trotzdem von drei Hauptrichtungen sprechen: Reformjudentum, konservatives Judentum und orthodoxes Judentum – wobei jede Richtung noch in eine Reihe von Zwischenpositionen verzweigt ist. 

Etwas grob skizziert erkennt man die drei Richtungen an ihren Positionen zu Fragen von Identität und der Gleichberechtigung von Frauen und Männern: Orthodoxe Gemeinden sehen Menschen als jüdisch an, wenn sie eine jüdische Mutter haben oder konvertiert sind. Frauen spielen in den orthodoxen Gemeinden typischerweise eine etwas zurückhaltende Rolle. Konservative Gemeinden definieren das Jüdischsein ähnlich wie orthodoxe, zeigen aber eine grössere Flexibilität in Bezug auf religiöse Übertritte. Frauen und Männer sind in konservativen Gemeinden zudem gleichgestellt. Das ist auch in Reformgemeinden der Fall. Zudem sind im Verständnis des Reformjudentums alle Menschen jüdisch, die einen jüdischen Elternteil haben und sich selbst als jüdisch definieren. 

Die alten ethnischen Unterscheidungen verlieren an Bedeutung, weil die Globalisierung und die Mobilität die Grenzen flüssiger werden lassen.

Die unterschiedlichen Interpretationsarten von jüdischen Gesetzen führen mit anderen Worten dazu, dass Menschen, die in einer Gemeinde als jüdisch gelten, in einer anderen unter Umständen nicht mitgezählt werden. Viele Jüdinnen und Juden ziehen es auch aus diesem Grund vor, ihr Jüdischsein ausserhalb von Gemeinden und anderen jüdischen Einrichtungen zu leben, und verstehen sich mitunter als säkular.   

Die heutige jüdische Welt ist dynamisch

Interessanterweise sind die theologischen Ausrichtungen im Judentum alle ein Kind der Moderne, also weit jünger als die ethnischen Gruppierungen. Es gab natürlich auch vor dem 19. Jahrhundert unterschiedliche theologische Strömungen aber diese haben nicht bis in die Moderne überlebt. Die heutige jüdische Welt ist dynamisch und vielerorts im Wandel. Die alten ethnischen Unterscheidungen verlieren an Bedeutung, weil die Globalisierung und die Mobilität die Grenzen flüssiger werden lassen. Sephardische und aschkenasische Juden heiraten untereinander. Familien und Gemeinden werden dadurch vielfältiger. 

Gleichzeitig entstehen neue Gruppen: «Jews of Color» oder jüdische LGBTQ+ Menschen gründen teils eigene Gemeinden, teils sind sie in bestehenden Gemeinschaften (mehr oder weniger erfolgreich) integriert. Es mag nicht überraschen, dass Reformgemeinden schon während Jahrzehnten LGBTQ+ Menschen willkommen geheissen haben, aber mittlerweile gibt es auch offen-homosexuelle Rabbiner in orthodoxen Gemeinden. Gleichgeschlechtliche Eheschliessungen finden regelmässig in Reform- und konservativen Gemeinden statt.

Diversität in den jüdischen Gemeinschaften der Schweiz

Auch die relativ kleine jüdische Gemeinschaft (es leben schätzungsweise 18’000 Jüdinnen und Juden in der Schweiz) ist erstaunlich divers. Die Gemeinden waren lange Zeit grossmehrheitlich aschkenasisch geprägt, haben aber heute, vor allem in der Romandie, auch viele sephardische und Mizrachi-Mitglieder, was zu einem heterogeneren Gemeindeleben führt. In Europa, und so auch in der Schweiz, sind grosse jüdische Gemeinden als sogenannte «Einheitsgemeinden» organisiert. Diese sind orthodox geführt, obwohl ihre Mitglieder sich mehrheitlich als traditionell oder auch säkular verstehen.  Reformgemeinden gibt es in Zürich und Genf, streng orthodoxe Gemeinden gibt es mehrere. Der Erhalt der Einheitsgemeinden ist nicht unumstritten: Auch in der jüdischen Welt wird zunehmend polarisiert.

Die ethnische Vielfalt wird neu aufgemischt und spielt auch im politischen Diskurs eine Rolle: etwa wenn Misrachi oder sephardische Juden sich gegen die aschkenasische Überlegenheit zur Wehr setzen. Die Vielfalt der jüdischen Kultur – ob ethnisch, theologisch oder politisch – wird noch lange fortdauern und sicher auch noch ganz neue Formen ausbilden. 

Autor

  • Sara Bloch

    Religionswissenschaftlerin und Sozialanthropologin ||| Sara Kviat Bloch studierte Religionswissenschaft und Sozialanthropologie in Kopenhagen und Santa Barbara. Seit 2012 ist sie Geschäftsführerin des Collegium generale der Universität Bern und seit 2017 Lehrbeauftragte an der Universität Zürich.

Ein Gedanke zu „Diversität im Judentum

  • Eigentlich gibt es nur EIN Judentum, nämlich das orthodoxe.

    Denn wer auch immer Teile der Torah relativiert, ignoriert oder nach seinem Gusto uminterpretiert, ist vom Judentum abgewichen. Er mag zwar Jude sein, von Geburt her (das lässt sich nicht abschütteln), doch er das das jüdische Volk, die „Nation“, verlassen. Er ist davon abgewichen.

    Somit ist die Bezeichnung „orthodoxes Judentum“ eigentlich redundant. Das Adjektiv „orthodox“ ist überflüssig. Die Torah kennt diese Bezeichnung nicht.

    Judentum heisst: der Torah verpflichtet. Es heisst, den am Berg Sinai geschlossenen Bund eizuhalten (zu versuchen, nach bestem Willen und Gewissen).

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