Interreligiöser Dialog  ·  Schweiz
Rifa'at Lenzin

Interreligiöser Dialog – braucht es ihn noch?

Aus der Pluralisierung der Gesellschaft entstanden, scheint der interreligiöse Dialog mit dem Rückgang der Religiosität in der Bevölkerung auf den ersten Blick an Relevanz verloren zu haben. Doch die Diversität der Gesellschaft hat noch weiter zugenommen, weshalb interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen unabdingbar geworden sind. Die Veränderung der Gesellschaft konfrontiert den interreligiösen Dialog mit neuen, noch offenen Fragen, stellt jedoch die Idee des Dialogs nicht infrage.

Interreligiöse Dialoge im Sinn von Gesprächen zwischen den Religionen gab es schon im Mittelalter. Dabei handelte es sich jedoch meistens um interreligiöse Kontroversen, die vor allem von wechselseitiger Polemik bestimmt waren. Teilweise gab es sogar Zwangsdisputationen, die von den Machthabern verordnet wurden und bei denen von vornherein feststand, wer Recht hat und wer nicht, wie dies bei einigen christlich-jüdischen Disputationen im Mittelalter der Fall war. Aber auch bei den wirklich offenen Kontroversen bestand das primäre Ziel darin, den religiös anderen in der Disputation zu besiegen.

Der interreligiöse Dialog in der heutigen Form ist noch jung

Demgegenüber ist das Konzept des interreligiösen Dialogs wie wir ihn heute verstehen vergleichsweise neu. Vom interreligiösen Dialog fing man in Europa vor etwas mehr als zwanzig Jahren an zu sprechen, als man zu realisieren begann, dass es im Europa des 20. Jahrhunderts nicht nur Reformierte und Katholiken sowie eine kleine jüdische Minderheit gab, sondern auch orthodoxe Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten und andere mehr.

Schub erhielt der «Interreligiöse Dialog» in den 1990er Jahren nicht zuletzt durch das Projekt «Weltethos» des Schweizer Theologen Hans Küng. Er postulierte darin, dass es «kein Zusammenleben auf diesem Globus ohne ein globales Ethos gibt, keinen Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen und keinen Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen». Auch «keinen Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ohne Grundlagenforschung und kein globales Ethos ohne Bewusstseinswandel von Religiösen und Nicht-Religiösen».[1]

Geprägt war dieser Interreligiöse Dialog von viel Goodwill und einer grossen Asymmetrie zwischen Etablierten und Neuankömmlingen, zwischen Gebenden und Nehmenden.

Vielerorts entstanden daraufhin interreligiöse Foren. In der Schweiz zum Beispiel die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz IRAS COTIS. Ziel dieser Foren war es, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen und den immigrierten Religionsgemeinschaften bei der Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse zu helfen. Geprägt war dieser interreligiöse Dialog von viel Goodwill und einer grossen Asymmetrie zwischen Etablierten und Neuankömmlingen, zwischen Gebenden und Nehmenden.

Interreligiöser Dialog früher und heute

In seinen Anfängen diente der interreligiöse Dialog in der Schweiz in erster Linie der Begegnung und dem Kennenlernen. Angehörige der Mehrheitsgemeinschaft wollten damit Ängste und Vorurteile gegenüber «den Fremden» abbauen. Die Angehörigen der Minderheitsgemeinschaften, die daran teilnahmen, erhofften sich Akzeptanz und Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse, beispielsweise auf der Suche nach Räumlichkeiten für ihre Gottesdienste. Es ging also nicht um einen interreligiösen Dialog im eigentlichen, theologischen Sinn. Dazu wären die Exponenten auf nicht-christlicher Seite auch gar nicht in der Lage gewesen, handelte es sich bei ihnen doch mehrheitlich um «Gastarbeiter». Theologen hatte es da keine darunter.

Ist das gelungen? Diese Minderheitsgemeinschaften stehen heute ganz woanders. Die Kinder und Kindeskinder der «Gastarbeiter» sind längst Schweizerinnen und Schweizer geworden. Sie brauchen für ihren religiösen Alltag keine Unterstützung mehr, auch wenn es für viele immer noch schwierig ist, passende Räumlichkeiten zu finden. Viele jungen Leute haben deshalb kein Interesse, sich im interreligiösen Bereich zu engagieren. Wenn sie religiös aktiv sind, bringen sie ihr Engagement und ihre Kompetenzen lieber in ihren eigenen Gemeinschaften ein.

Bedeutungsverlust der institutionalisierten Religionen

Gefahr droht dem interreligiösen Dialog dadurch, dass die etablierten, institutionalisierten Religionen zusehends an Mitgliedern verlieren. Gemäss dem Bundesamt für Statistik gehören 2020 31% der Personen ab 15 Jahren keiner Religionsgemeinschaft mehr an, während es im Jahr 2010 erst 20% waren. Sie bilden seit 2016 die zweitgrösste Gruppe hinter derjenigen mit römisch-katholischer Religionszugehörigkeit (34%). In den städtischen Gebieten haben sich die Personen ohne Religionszugehörigkeit mit 33% im Jahr 2020 an erster Stelle platziert. In den ländlichen Gebieten der Schweiz sind sie an dritter Stelle, nach den Evangelisch-Reformierten.

Als Bestandteil von Kultur ist «Religion» nach wie vor relevant

Allerdings sind diese Zahlen insofern etwas irreführend, als man aus diesem Aderlass bei den institutionellen Religionsgemeinschaften nicht automatisch darauf schliessen sollte, dass das christliche Selbstverständnis am Verschwinden sei.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Umfrage, welche das Deutsche Institut für Demoskopie Allensbach 2012 im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung[2] gemacht hat und die auch Rückschlüsse auf die Schweiz zulässt. Sie zeigt ein uneinheitliches Bild. Laut Umfrage pflegen die Deutschen ein gespaltenes Verhältnis zum Christentum. Einerseits halten viele Befragte Deutschland für ein christlich geprägtes Land; andererseits nimmt die Bedeutung des christlichen Glaubens stetig ab.

Der Glaube hat für die Bevölkerung an Bedeutung verloren, doch die christliche Kulturtradition wird auch von denen verteidigt, die sich nicht mehr als Christen empfinden.

Der Glaube hat für die Bevölkerung an Bedeutung verloren, doch die christliche Kulturtradition wird auch von denen verteidigt, die sich nicht mehr als Christen empfinden. Eine Mehrheit vertrat die Meinung, Deutschland solle auch in der Öffentlichkeit deutlich zeigen, dass es ein christliches Land sei. Fast einhellig wird mit 85 Prozent der Vorschlag abgelehnt, einen christlichen Feiertag zu streichen und stattdessen einen islamischen Feiertag einzuführen.

Als Bestandteil von Kultur ist «Religion» also nach wie vor gesellschaftlich relevant, auch wenn die Entkirchlichung und Glaubensferne weit fortgeschritten sind.

Soziale Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft spielt noch immer eine Rolle

Ähnliche Schlussfolgerungen lassen sich aus einer Studie der Universität Neuchâtel durch Janine Dahinden, Professorin für Transnational Studies, ziehen zur Frage der Bedeutung von Religion und Ethnizität in Bezug auf Praktiken, Identitäten und Grenzziehungen. Sie zeigt auf, dass Religion, ungeachtet der Tatsache, dass sie im Lebensalltag eine untergeordnete Rolle spielt, auch bei Jugendlichen im Sinne der sozialen Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sehr wohl von Bedeutung ist.

Das zeigt sich beispielsweise daran, dass es Jugendlichen am Herzen lag, ihre Religion an die Kinder weiterzugeben, auch wenn sie selbst nicht religiös waren. Es geht dabei auch nicht in erster Linie um Weitergabe von religiösen Inhalten, wie Glaubensvorstellungen oder religiöse Praktiken, sondern primär um die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe.

Zu einer «etablierten» – heisst protestantischen oder katholischen – Religionsgemeinschaft zu gehören, hat zur Folge, dass man die Reihen gegenüber Neuzugezogenen schliesst. Die Etablierten bemühen sich, ihre gesellschaftliche Stellung zu halten und zu verbessern, indem sie versuchen, ihr «Etabliert-sein» weiterzugeben. Es geht um Grenzziehungsprozesse. Postulierte und positiv aufgeladene Offenheit und Toleranz und ein multireligiös und plurikultureller Schul- und Lebensalltag schliessen also eine Grenzziehung entlang ethnischer und religiöser Kategorien nicht aus[3].

Rückgang der Religiosität: religiöser Analphabetismus

Noch gravierender als es der Rückgang der Kirchenbesuche vermuten lässt, ist laut der Allensbach-Umfrage der Rückgang der Religiosität und des religiösen Wissens. Auch unter bekennenden Christen schwindet der Glaube an wesentliche Elemente der christlichen Lehre. An die Dreifaltigkeit, die Auferstehung der Toten oder daran, dass Gott die Welt geschaffen hat, glaubt nur noch eine Minderheit.

Eine Mehrheit glaubt dagegen daran, dass es «irgendeine überirdische Macht gibt». Ebenso hat der Glaube an Schutzengel, an Wunder und an die Seelenwanderung zugenommen. Die Kernbotschaft findet immer weniger Glauben. Erhalten bleiben dagegen Randaspekte, kulturell geprägte Äusserlichkeiten und eine vage Spiritualität[4]

Für den interreligiösen Dialog ist diese Religionsferne insofern ein Problem, dass mit dem fehlenden religiösen Wissen auch zunehmend die Fähigkeit verloren geht, im religiösen Bereich überhaupt kommunizieren zu können. Fachleute sprechen manchmal von einem religiösen Analphabetismus.

Interreligiöser Dialog als Radikalisierungsprävention?

Wenn man Antworten sucht auf die Frage, ob es den interreligiösen Dialog heute noch braucht, muss man auch die Frage nach den Erwartungen stellen. Was erwartet man vom interreligiösen Dialog? Als Beispiel sei hier die Erwähnung im «Nationalen Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus» des Sicherheitsverbunds Schweiz vom 4. Dezember 2017 genannt.

Dort heisst es unter Massnahme 12 zum interreligiösen Dialog zwischen anerkannten Religionsgemeinschaften und religiös tätigen Organisationen: «Der interreligiöse Dialog zwischen den verschiedenen anerkannten Religionsgemeinschaften und religiös tätigen Organisationen findet regelmässig statt im Bestreben, den Religionsfrieden zu wahren sowie ein gegenseitiges Verständnis für unterschiedliche Anliegen und Herausforderungen zu schaffen. Die Organisation dieses Austausches kann von Seiten der kantonalen und kommunalen Behörden unterstützt werden.»

IRAS-COTIS GV in Langenthal, 7. Mai 2023

Etliche im interreligiösen Dialog Engagierte freuten sich, weil sie ihre Bemühungen um Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften endlich auch vom Staat zur Kenntnis genommen und honoriert sahen. Bei der Euphorie darüber ging allerdings vergessen, dass die Zielsetzung im Fall des Nationalen Aktionsplans war, dass «praxistaugliche Voraussetzungen für die Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus in all seinen Formen und im Einklang mit den Grund- und Menschenrechten geschaffen werden».

Interreligiöser Dialog als Radikalisierungsprävention also, die vor allem auf den Islam und die Muslime zielte, die weitaus grösste religiöse Minderheit in der Schweiz. Das heisst: Auch der interreligiöse Dialog ist interessengeleitet und findet nicht im luftleeren und auch nicht im herrschaftsfreien Raum statt.

Was hat der interreligiöse Dialog bisher gebracht?

Bei seinem Bestreben, Ängste und Vorurteile abzubauen ist der interreligiöse Dialog was den Islam und die Muslime angeht weitgehend gescheitert. Die Wirkungslosigkeit zeigte sich bei der Anti-Minarett- und bei der Burkaabstimmung überdeutlich, zur grossen Frustration aller an diesem Dialog Beteiligten. Die Kirchen hatten im Fall der Anti-Minarett-Abstimmung klar gegen die Initiative Position bezogen und mussten nun erkennen, dass ihnen ihre Basis nicht folgte. Dies hatte zur Folge, dass sie sich bei weiteren islambezogenen Abstimmungen nicht mehr exponierten.

Die Tatsache, dass die Muslime heute viel besser organisiert sind, dass es heute im Kanton Zürich eine muslimische Spitalseelsorge und in der Schweizer Armee muslimische Armeeseelsorger gibt, hat weniger mit dem interreligiösen Dialog als vielmehr mit der Einsicht staatlicher Stellen zu tun, dass die Muslime als grösste Minderheit besser eingebunden werden müssen und die einseitige Privilegierung der öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften nicht länger in dieser Form aufrecht erhalten werden kann.

Etwas anders sieht es beim jüdisch-christlichen Dialog aus. Dieser erfolgte auf dem Hintergrund der Vernichtung eines Grossteils des europäischen Judentums zwischen 1936 bis 1945 und den daraus resultierenden Schuldgefühlen bei vielen Christen. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 begann die Katholische Kirche erstmals von einer «Geschwisterlichkeit» zwischen Juden und Christen zu sprechen. In der Schweiz intensivierte sich dieser Dialog vor allem in den 1980er Jahren durch die Debatte um die Nachrichtenlosen Vermögen.

In Vielfalt zusammenzuleben kann zwar sehr bereichernd sein, ist aber gleichzeitig anstrengend und konfliktträchtig.

Davon profitierten Dialoginitiativen, die sich um die jüdisch-christliche Verständigung bemühten, wie zum Beispiel jüdisch-christliche Arbeitskreise, das Zürcher Lehrhaus oder die Christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft beider Basel CJA. Ihnen gelang es, ein interessiertes Publikum für Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Christen und Juden zu sensibilisieren. An einem stets vorhandenen «Bodensatz» von Antisemitismus in der Bevölkerung vermochten sie allerdings auch nichts zu ändern.

Wozu also interreligiöser Dialog?

Die anhaltende Notwendigkeit zum interreligiösen Dialog ergibt sich aus der gesellschaftlichen Realität. Gesellschaften in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts sind nicht (mehr) monokulturell, sondern multiethnisch, multikulturell und multireligiös. Das gilt insbesondere auch für Europa. Und wenn die deutsche Bundeskanzlerin seinerzeit konstatierte, «multikulti» sei gescheitert, gestand sie damit in Wirklichkeit nur das Versagen von Politik und Gesellschaft im Umgang mit dieser Realität ein – abschaffen lässt sich diese so leicht nicht mehr.

In Vielfalt zusammenzuleben kann zwar sehr bereichernd sein, ist aber gleichzeitig anstrengend und konfliktträchtig. Wenn wir als Gesellschaft zukunfts- und überlebensfähig bleiben wollen, sind interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen unabdingbar. «Managing diversity» heisst das Stichwort. Das gilt für viele Bereiche – auch den religiösen.

Eine Grundvoraussetzung für den interreligiösen Dialog ist die prinzipielle Anerkennung der Gleichwertigkeit anderer Kulturen und Religionen und deren Respektierung nicht nur innerhalb der Grenzen der eigenen Wertvorstellungen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Differenz nicht zwingend überwinden zu wollen, sondern auszuhalten.

Dialog als gemeinsamer, offener Verstehens- und Erkenntnisprozess

So verstanden meint Dialog eine sprachliche Kommunikation, in der ich den anderen nicht überreden und Recht behalten will. Es geht nicht darum, den eigenen Standpunkt durchzusetzen, sondern um einen gemeinsamen, offenen Verstehens- und Erkenntnisprozess.

Ein wesentliches Merkmal der dialogischen Haltung ist die Lern- und Veränderungsbereitschaft: Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit begegnen sich nicht als Wissende, sondern als Lernende – mit der Bereitschaft, sich in der Begegnung bereichern und verändern zu lassen. Der offene, freie Dialog enthält allerdings immer das Risiko von unerwarteten Veränderungen und der eigenen Wandlung – und damit des Verlustes von vermeintlichen Sicherheiten.

In einem so verstandenen Dialog geht es darum, sich kennen zu lernen, mehr voneinander zu wissen, Gemeinsamkeiten zu entdecken und das Trennende zwar zu sehen und zu respektieren, aber keinen radikalen Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu konstruieren.

Formen des Interreligiösen Dialogs

Der interreligiöse Dialog kann sehr verschieden gegliedert und kategorisiert werden. Man kann unterscheiden zwischen dem Dialog der grossen Konferenzen, wie beispielsweise die Weltkonferenzen der Religionen, deren letzte 2004 stattfand, oder die 1970 gegründete Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (WCPR) oder aber dem institutionellen Dialog zwischen Organisationen, Kommissionen und Beauftragten für interreligiöse Beziehungen wie der Rat der Religionen oder die Runden Tische der Religionen in der Schweiz.

Ganz anders wiederum ist der Dialog des Lebens im Alltag der Menschen, in dem es in der Nachbarschaft oder im Quartier zu Kontakten und Begegnungen kommt. Wichtig ist natürlich auch der theologische Dialog über Fragen der Glaubenslehre sowie der spirituelle Dialog im Rahmen gemeinsamer interreligiöser Feiern und Gebete. Der ethische Dialog hat seinen Fokus im gemeinsamen Handeln respektive in der Suche nach religiösen Ressourcen für ein gemeinsames Handeln auf eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit hin, und last but not least gibt es den Dialog über den Dialog, also die Reflexion über die Bedingungen des Dialogs, seine Voraussetzungen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Der interreligiöse Dialog als theologischer Dialog

Der interreligiöse Dialog als theologischer Dialog muss und wird weitergehen. Innerhalb der verschiedenen Religionsgemeinschaften werden heute Ansätze einer pluralistischen Religionstheologie formuliert, die aber im Moment noch ein Schattendasein fristen und weder von den religiösen Eliten noch von der Basis getragen werden.

Es geht um die Entwicklung von Theologien, die den religiösen Pluralismus nicht bloss als empirische Tatsache, sondern als Wert an sich anerkennen und ihn religiös, aus der Sicht der jeweiligen Tradition, zu verstehen versuchen. Die Frage, ob man so weit gehen will, den interreligiösen Dialog als wesentlichen Vollzug des eigenen Glaubens und zeitgenössischer religiöser Existenz unter den Bedingungen des Pluralismus begreifen zu lernen – als Ausdruck einer offenen, kosmopolitischen Religiosität, die für eine humane Zukunft notwendig ist, kann an dieser Stelle offen bleiben.

Gerade in einer zunehmend instabilen Weltordnung sind interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen unabdingbar.

Ohne gegenseitigen Respekt und die Bereitschaft vom anderen zu lernen, wird es aber nicht gelingen, einen modus vivendi zu finden, der von allen Mitgliedern der Gesellschaft und nicht nur von einzelnen Gruppen getragen wird. In diesem Sinn kann der interreligiöse Dialog durchaus einen wichtigen Beitrag zum multireligiösen und multikulturellen Zusammenleben leisten

Interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen sind besonders heute unabdingbar

Der interreligiöse Dialog wird auch in Zukunft wichtig sein. Die Thesen von Hans Küng haben nichts von ihrer Aussagekraft verloren. Denn beim eurozentrischen Blick auf die Entwicklung der religiösen Landschaft in Europa geht schnell die Tatsache vergessen, dass bei immer noch über 80% der Weltbevölkerung die Religion eine wichtige Rolle spielt.

Gerade in einer zunehmend instabilen Weltordnung sind interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen unabdingbar. Religiöse Vielfalt ist laut dem Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung nur für 29 Prozent der Menschen in Deutschland eine Bereicherung. 34 Prozent der Befragten halten die Pluralität der Bekenntnisse für eine Bedrohung. Die restlichen 37 Prozent antworteten mit «weder noch».

Dass Religionspluralismus als Bedrohung empfunden wird, bekundeten 38 Prozent der Menschen ohne Religionszugehörigkeit und 34 Prozent der Mitglieder christlicher Konfessionen. Am wenigsten verbreitet ist die Angst davor mit 20 Prozent unter Muslimen, am stärksten unter Hindus (61 Prozent). Auch die Offenheit gegenüber Andersgläubigen hat in den letzten zehn Jahren abgenommen[5].

Offene Fragen für den interreligiösen Dialog heute

Eine grosse Herausforderung bleibt die Frage, wie ein Dialog zwischen «Religiösen» und «Nichtreligiösen» angesichts des weitverbreiteten religiösen Analphabetismus gestaltet werden kann.

Diejenigen, die sich am Interreligiösen Dialog beteiligen, werden sich klarer darüber werden müssen, von welchen Grundannahmen sie ausgehen, von welchem Religionsbegriff beispielsweise und was mit dem Dialog erreicht werden soll.

Und last but not least wird es vermehrt darum gehen, sich über das interreligiöse Handeln zu verständigen. Was bedeutet es beispielsweise, wenn es plötzlich muslimische oder auch Vertreter:innen anderer Religionen in den bisher ausschliesslich christlichen Spitalseelsorgeteams gibt? Welchen Einfluss hat das auf die Zusammenarbeit und was bedeutet es für das eigene Selbstverständnis? Ist es ein Nebeneinander oder ein Miteinander? Und sind die etablierten Religionsgemeinschaften bereit, auf einige ihrer Privilegien zu verzichten zugunsten der nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften?


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Weltethos#Grund%C3%BCberzeugungen

[2] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/allensbach-analyse-christliche-werte-haben-bestand-11903761-p3.html?service=printPreview

[3] https://www.snf.ch/media/de/GzSM5fvwx6HYALjT/NFP58_Schlussbericht_DahindenJanine.pdf

[4] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/allensbach-analyse-christliche-werte-haben-bestand-11903761-p3.html?service=printPreview

[5] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-05/religionsmonitor-2023-bertelsmann-stiftung-religioese-vielfalt-bedrohung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fduckduckgo.com%2F

Autor

  • Rifa'at Lenzin

    Freischaffende Islamwissenschaftlerin und Publizistin, Präsidentin von IRAS COTIS ||| Rifa’at Lenzin studierte Islamwissenschaft, Religionswissenschaft und Philosophie in New Delhi, Zürich und Bern. Sie arbeitet als freischaffende Islamwissenschaftlerin und Publizistin mit den Schwerpunkten Interkulturalität und muslimische Identität in Europa, Islam und Gender sowie theologische Fragestellungen im interreligiösen Kontext. Sie ist Präsidentin von IRAS COTIS.

Ein Gedanke zu „Interreligiöser Dialog – braucht es ihn noch?

  • Karoline sagt:

    Genauso wichtig wie der interreligiöse Dialog sollte die Offenheit – vor allem des Islam – für einen Dialog mit säkularen Menschen sein, in dem Fragen gestellt werden können: zur Situation der Frau im Islam, zur hohen Gewalt in der Kindererziehung in islamischen Ländern (webseite endcorporalpunishment.org – Ende der Körperstrafe), zu den drakonischen Strafen für Homosexualität. Denn die Säkularitätsforschung ist auf dem Vormarsch: Phil Zuckerman, Victoria Rationi ..

    MfG Karoline

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