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Senata Wagner

Obwohl ich fest vorhatte, religiös zu werden …

Religion und ich, das war seit jeher ein ambivalentes Verhältnis. Den Draht zu etwas Göttlichem habe ich nie gefunden – obwohl ich fest vorhatte, religiös zu werden als Kind. Wie mein Grosi und mein Omi wollte auch ich an einen lieben Gott glauben, der sich alle meine Sorgen anhört, der mir Trost spendet und mir den Weg weist. Als kleine Bohne, vielleicht vierjährig, begleitete ich meine Omi sonntags einmal in den katholischen Gottesdienst. Ich war mucksmäuschenstill, lauschte dem Pfarrer und vermittelte den Eindruck, als ob mich die Predigt fesseln würde.

Doch der Schein trog: In einem denkbar ungünstigen Moment, nämlich nachdem der Pfarrer zum stillen Gebet aufgefordert hatte, sagte ich in meinem kindlichen Flüsterton, der natürlich durch die ganze Kirche hallen sollte, zu meiner Omi: «Gäll, isch langwiilig?» Die Gemeinde nahm es zum Glück mit Humor, schallendes Gelächter erklang überall her. Es sollte auch später nicht sein – das Religiös-Werden. Spätestens in der dritten Klasse, als biblische Geschichte unterrichtet wurde, begrub ich meine diesbezüglichen Absichten. Mir leuchtete einfach nicht ein, wie ein Toter aufersteht, wie ein einzelner Mann einen riesigen Stein vor seinem Felsengrab alleine wegrollt, wie jemand in den Himmel aufsteigt oder wie alle Tiere auf Noahs Arche Platz haben können.

Überhaupt war mir diese Geschichte suspekt. Wie sollten denn zwei Blauwale auf einem Holzschiff überleben? Und weshalb würden die Vögel nicht wegfliegen? Und wie konnte Noah bei allen Tierarten Weibchen und Männchen treffsicher voneinander unterscheiden? Und dann die Erschaffung der Menschen aus Lehm oder Rippen. Zumindest ich kannte nur Menschen aus Fleisch und Blut, nahm mich aber genau unter die Lupe, um allfällige Lehmreste zu entdecken. Und weshalb waren nicht alle Menschen miteinander verwandt, wenn sie alle von Eva und Adam abstammen? Diese kritischen Fragen trugen nicht zu meiner Beliebtheit bei der Religionslehrerin bei. Warum sich die anderen Kinder diese Fragen nicht gestellt hatten, sollte mir ein Rätsel bleiben. 

Ich und der Kirchenaustritt 

Bewusst mit Religion in Berührung kam ich erst in der Oberstufe wieder. Ich war die einzige, die den Religionsunterricht – der nun freiwillig war – nicht besuchte und die es konsequent ablehnte, konfirmiert oder gefirmt zu werden. Während meine damaligen Mitschüler:innen die nötige Anzahl Gottesdienstbesuche zu erreichen versuchten, beschäftigte mich die Frage, weshalb ich alleine da stand mit meiner agnostischen Haltung. Zwar waren meine Eltern nicht religiös, doch liessen sie mir alle Freiheiten zur religiösen Entfaltung. Aber da war einfach nichts. Ich bin religiös komplett unmusikalisch.

Noch vor meinem 18. Geburtstag bin ich aus der Kirche ausgetreten. Dies hatte allerdings konkretere Gründe. Während der Zeit im Gymnasium begannen mich Fernseh- und Zeitungsberichte über religiöse Traditionen, allen voran über die katholische Kirche, zu fesseln. Ich erfuhr mehr über die patriarchalen Strukturen, die subtil bis vehement geforderte Unterordnung der Frau – wie es in der Bibel geschrieben stehe –, über traditionelle Familienbilder, Abtreibungsgegner:innen, Verhütungsverbote, Missbrauchsfälle und die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Paare. Obwohl ich reformiert war und viele der genannten Haltungen in der reformierten Kirche keine Unterstützung finden, gab ich meinen Austritt. Seither unterstütze ich anstelle der Kirche gemeinnützige Organisationen mit Spenden. 

Ich und Rituale 

Rückblickend habe ich dennoch einige religiöse Züge an mir entdeckt. Mit knapp sechs Jahren hatte ich im Schwimmclub Dübendorf das Schwimmtraining aufgenommen. In den folgenden Jahren entwickelte ich an Wettkämpfen spezielle Rituale, die sich bis zum Ende meiner Zeit als aktive Wettkampfschwimmerin im Januar 2010 halten sollten. Zum Beispiel hatte ich einen Glücksbadeanzug. Ich trug ihn als Kind bei Wettkämpfen und habe darin nur tolle Resultate erzielt. Als ich dem Badekleid entwachsen war, sollte es mich als Glücksbringer im Gepäck zu meinen Wettkämpfen begleiten. Ob in Prag, Lissabon, Dortmund oder Lausanne – überall war es mit dabei.

Oder mein Schliessfach in der Garderobe, das musste stets mit der Ziffer fünf enden. In Uster waren die Nummern 155 oder 185 meine bevorzugten Schliessfächer, in Wallisellen die 215 oder 225, in Genf kam einzig und allein Spint 835 infrage. Lieber hätte ich meine Klamotten mit ins Hallenbad genommen, als auf ein anderes Schliessfach, das mich langsam hätte schwimmen lassen, ausweichen zu müssen. Und konsequent vermieden wurde die Farbe Rot. Die war mir ein Dorn im Auge. Rot signalisierte für mich Gefahr, Unglück, Blut, Stopp. Nie trug ich ein rotes Kleidungsstück oder Accessoire, wenn ich an einem Schwimmwettbewerb teilgenommen habe. Bis zu meinem Wechsel zum Schwimmclub Winterthur, dessen Clubausrüstung rot war… 

Die letzten Sekunden vor dem Rennen hinter dem Startblock waren ebenso geprägt von immer gleichen Ritualen: Arme schwingen, Arme hinter dem Rücken kreuzen, Oberkörper vorbeugen, …

Auch das Warm-Up im Wasser bei wichtigen Wettkämpfen wurde so lange nicht abgeändert, bis ein schlechtes Rennen folgte. Erst danach habe ich mir etwas Neues ausgedacht. Die letzten Sekunden vor dem Rennen hinter dem Startblock waren ebenso geprägt von immer gleichen Ritualen: Arme schwingen, Arme hinter dem Rücken kreuzen, Oberkörper vorbeugen, Arme erneut hinter dem Körper kreuzen, Nacken knacken, Füsse dehnen, Trizeps lockern, einen Eimer Wasser über den Körper giessen, Schwimmbrille andrücken. Diese Rituale waren enorm wichtig, auch wenn ich das erst viel später erkannt habe. Sie verliehen mir Sicherheit in einem Moment grosser Verunsicherung. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Leistung beeinflussen könne durch die immer gleichen Verhaltensmuster. Dem war natürlich nicht so. 

Ich und der Sinn des Lebens 

Das intensive Schwimmtraining und das Bestreiten von Wettkämpfen betrachtete ich lange als meinen Sinn des Lebens. Ich hatte das Gefühl, zum Schwimmen geboren worden zu sein. Bis ich eines Tages zur Erkenntnis gelangte, dass der Schwimmsport in meinem Fall ebenso wenig wie alles andere auf der Welt mein Lebenssinn sein kann. Mein Leben hat keinen Sinn. Per Zufall bin ich als Produkt aus einer Eizelle und einem Spermium entstanden. Aber die Welt braucht mich nicht. Seien wir ehrlich, die Welt braucht überhaupt keine Menschen. Weshalb sollte ausgerechnet meine Existenz einen Sinn ergeben? Ich würde mich schon sehr wichtig nehmen, wenn ich meinem Dasein einen Sinn zusprechen würde. Da ich nun einmal da bin, versuche ich mich immer wieder Aufgaben zu widmen, die ich persönlich als sinnvoll, gesellschaftsrelevant oder bereichernd betrachte. So versuche ich meiner Existenz ein bisschen Sinn einzuhauchen, aber ein Lebenssinn ist das nicht. 

Strasse im Death Valley ins Nichts. © Karsten Winegeart, unsplash
Strasse im Death Valley ins Nichts. © Karsten Winegeart, unsplash

Ich und der Tod 

Vielleicht habe ich aufgrund dieser Haltung  wenig Mühe mit dem Tod. Ich bin eine Weile am Leben – und dann eben nicht mehr. Dann bin ich mausetot. Aus; fertig; vorbei. Von mir wird keine Seele übrig bleiben, kein Geist herumschwirren und schon gar nicht werde ich auf die Auferstehung warten. Nein, ich werde eingeäschert oder von Tieren gefressen. Das macht mir nichts aus. Wenn andere sterben, ist für mich wichtig, ob sie sterben wollten oder nicht. Meinen Stiefvater habe ich durch eine schwere Krankheit verloren. Er hätte leben wollen, aber ALS hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das war hart mitanzusehen und sehr schmerzhaft. Das Abschiednehmen hat zwei Jahre gedauert und unglaublich viel Kraft geraubt. 

Ich bin eine Weile am Leben – und dann eben nicht mehr. Dann bin ich mausetot. Aus; fertig; vorbei. Von mir wird keine Seele übrig bleiben, kein Geist herumschwirren und schon gar nicht werde ich auf die Auferstehung warten.

Wenn sich jemand das Leben nimmt, dann kann ich gut damit leben. Ich kenne zwei Menschen in meinem engeren Umfeld, die Suizid begannen haben. Es schmerzt mich sehr, dass sie dermassen verzweifelt waren und den Tod als einzigen Ausweg betrachtet haben. Es tut mir leid, dass ich diesen beiden Menschen nicht öfters sagen konnte, dass ich ihre depressive Ader über alles mochte. Und dass ich ihre Verzweiflung mit ihnen geteilt und ausgehalten hätte. Aber keine Sekunde war ich sauer, dass sich diese beiden Leute das Leben genommen haben. Wenn sie dem Tod näher standen als dem Leben, dann betrachte ich das als völlig legitim. Schlimm finde ich, wenn Leute krankhaft versuchen, andere vom Leben zu überzeugen – oder gar drohen: «Wenn du dich umbringst, was mache ich dann?» «Wenn du dich umbringst, dann bin ich untröstlich.» «Wenn du dich umbringst, verzeihe ich dir das nie.» Diese drei Beispiele sind in meinen Augen einfach nur egoistisch. Der springende Punkt liegt doch darin, dass niemand einer Person zuliebe weiterleben sollte. Auch wenn ich die beiden Menschen, die ich durch Suizid verloren habe, vermisse, nehme ich’s ihnen nicht übel, dass sie die Nase voll hatten vom Leben. 


Autor

  • Senata Wagner

    Religionswissenschaftlerin und Geschlechterforscherin ||| Senata Wagner ist Religionswissenschaftlerin und Geschlechterforscherin, die gerne unterwegs ist – schwimmend im Wasser, auf dem Rennrad und im Leben – oft mit unbekanntem Ziel.

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