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Fachstelle Zwangsheirat

Zwänge rund um Heirat, Partner:innenwahl und Sexualität – auch eine Sache der Religion

Zwangsheirat ist eine Menschenrechtsverletzung, die auch in der Schweiz stattfindet. Geschlechtsspezifische Normen und Rollenbilder führen dazu, dass Menschen zu einer Eheschliessung gezwungen werden können. Aber woher kommen diese Normen? Ist Zwangsheirat eine Sache der Religion?

Ist Zwangsheirat eine Sache der Religion? Oder im Gegenteil – haben sie gar nichts miteinander zu tun? Während zum Beispiel die deutsch-türkische Frauenrechtsaktivistin Necla Kelek das Übel dieser Menschenrechtsverletzung bei der Religion verankert, betonen andere, wie die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, dass Religionen die Verheiratung zweier Personen unter Zwang teils gar ausdrücklich untersagen. Rund um Heirat und Partner:innenwahl ausgeübter Zwang sei vielmehr «Tradition» und «Kultur» zuzuschreiben. Über solche sich diametral entgegengesetzte Positionen hinaus betrachtet beispielsweise die Sozialwissenschaftlerin Petra Klug das Vorkommen von Zwangs- und Minderjährigenheiraten als eine intersektionale Thematik. Religion, Tradition und Kultur gelten ihr als Faktoren unter anderen, weitere wären etwa soziale Schicht, Einkommen, Bildungshintergrund oder Diskriminierungserfahrungen.

Eine solche «dritte Perspektive», die für ein «sowohl als auch» anstatt ein «entweder-oder» plädiert, wie es Thomas Eppenstein und Doron Kiesel (2008) vorschlagen, nimmt auch die Fachstelle Zwangsheirat – Kompetenzzentrum des Bundes ein. Erweiternd zu Art. 21 der Afrikanischen Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes zu Minderjährigenheiraten oder gemäss Definitionen von Zwangsheiraten im Fact Sheet 23 des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte sprechen auch wir bei Zwängen rund um Heirat, Partner:innenwahl und Sexualität von «schädlichen sozialen, kulturellen, traditionellen und religiösen Praktiken». Zwangsheirat also als Sache auch – aber nie nur – der Religion. 

«Verwandtschaftsbasierte Geschlechtergewalt» in der Schweiz 

Die Fachstelle Zwangsheirat erhält wöchentlich 5 bis 14 neue Meldungen. In rund einem Drittel der Fälle sind Minderjährige betroffen. Dass so viele um Unterstützung anfragen, zeigt, dass Zwänge rund um Heirat und Partner:innenwahl auch in der Schweiz ein soziales Problem sind. 

Eine Zwangsheirat liegt dann vor, wenn die Braut, der Bräutigam oder beide sich zur formellen oder religiösen Heirat gezwungen fühlen. Entweder findet die betroffene Person mit ihrer Weigerung kein Gehör oder sie wagt es gar nicht erst, sich zu widersetzen. Sie befürchtet negative Konsequenzen oder wird mit unterschiedlichen Mitteln unter Druck gesetzt. Dies reicht von emotionaler Erpressung über Liebes- und Sexualitätsverbot hin zu anderen erniedrigenden, entwertenden und kontrollierenden Verhaltensweisen oder roher Gewalt durch die Eltern oder die Verwandtschaft. 

Bei Zwangsheirat handelt es sich um «verwandtschaftsbasierte Geschlechtergewalt», die auf geschlechtsspezifischen Normen und Rollenbildern beruht.

Bei Zwangsheirat handelt es sich um «verwandtschaftsbasierte Geschlechtergewalt», die auf geschlechtsspezifischen Normen und Rollenbildern beruht. Solche können sich auch in religiösen Dogmen und Traditionen wiederfinden. Betroffenen wird die Entscheidungsfreiheit in persönlichen Lebensmomenten wie bei Heirat, der Wahl eines Partners oder einer Partnerin oder der Erprobung der eigenen Sexualität entzogen. Die Verwandtschaft bestimmt. 

Ursachen von Zwängen rund um Heirat und Partner:innenwahl 

Die Heirat ist neben ihrer Bedeutung im persönlichen Lebenszyklus ein äusserst gewichtiger kultureller, sozialer und religiöser Kulminationspunkt, um den sich etliche Normen und Gebote ranken. Hier kristallisieren sich formale Regelungen – etwa Gesetze rund um Eheschliessungen – und informelle Normen aus Religion, Tradition, Moral und Ethik. In allen sozialen und kulturellen Settings herrschen gewisse gesellschaftliche und familiäre Erwartungen zu Heirat und Partner:innenwahl. In einem Kontext aber, wo Zwangs- und Minderjährigenheiraten öfters vorkommen, ist die Heirat mit kollektiven Vorgaben «überbürdet». Diese schränken die freie Wahl ein. Hauptgründe dafür spannen sich in einer multidimensionalen Wechselwirkung auf zwischen der Überbewertung von Familie (Familialismus), einer starken Orientierung an – schädlichen – Traditionen (Traditionalismus) und der Abwertung und Unterordnung von Frauen in patriarchalischen Strukturen. 

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In überlieferten religiösen Traditionen ist die Ehe meist die einzige gesellschaftlich akzeptierte Form des Zusammenlebens von Frau und Mann: Ein Single-Dasein ist nicht vorgesehen.

Und auch die Religion spielt hier eine Rolle: In überlieferten religiösen Traditionen ist die Ehe meist die einzige gesellschaftlich akzeptierte Form des Zusammenlebens von Frau und Mann: Ein Single-Dasein ist nicht vorgesehen. Damit besteht ein Zwang zur Heirat, ein Heiratszwang. Eine gleichgeschlechtliche Ehe ist ebenfalls tabu. Personen mit nicht-heterosexueller Orientierung kommen aufgrund dieser Heteronormativität quasi automatisch in eine Zwangssituation. Der oder die Heiratspartner:in muss ausserdem dieselbe «Gruppen»-Zugehörigkeit mitbringen, sogenannte Endogamie wird vorgeschrieben: Eine Muslimin dürfte demnach keinen Nicht-Muslim heiraten, für Hindus oder im Jesidentum kann die Kastenzugehörigkeit bei der Wahl des Ehepartners oder der Ehepartnerin eine zentrale Rolle spielen. In den meisten Religionen ist Sexualität der Ehe vorbehalten, religiöse Vorschriften sind also für den Jungfräulichkeitskult (mit-)verantwortlich.

Mit «Zina» besteht in einigen Ländern ein strafrechtliches Verbot, zum Beispiel in Afghanistan gemäss Art. 426ff. des afghanischen Strafgesetzbuches, ausserhalb einer Ehe Sex zu haben. Im Christentum kann laut Anu Sivaganesan, Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat, Maria, die jungfräulich ihren Sohn zur Welt gebracht haben soll, als «unmögliches Vorbild» für junge Frauen gesehen werden. Das katholische Kirchenrecht schreibt als Mindestalter für eine Trauung bei Mädchen lediglich 14 und für Jungen 16 Jahre vor. Im Schweizer Gesetz hingegen sind die Bedingungen umgekehrt: Auch Kindern im Schutzalter unter 16 Jahren ist es erlaubt, Sexualität zu leben – unter Beachtung von höchstens drei Jahren Altersdifferenz. Geheiratet werden darf dagegen erst ab 18. Trotzdem werden auch in der Schweiz Minderjährige in religiösen Zeremonien verheiratet: Dies, obwohl das Schweizer Zivilgesetz ZGB die religiöse Voraustrauung ohne standesamtliche Heirat im Art. 97 Abs. 3 verbietet. Obschon bloss religiös geschlossene Ehen in der Schweiz keine Rechtswirkung entfalten, werden sie von einigen Gemeinschaften als durchaus verbindlich angesehen. 

Wenn wir es mit dem Thomas-Theorem halten: Sozial, kulturell, religiös und gesellschaftlich definierte Konstruktrealitäten schaffen reale Konsequenzen – zwar können daraus Fanale entstehen, aber teilweise auch fatale Folgen für Betroffene. 

Religionen erlassen Normen und Regeln in Bezug auf Heirat und Sexualität, die zu Heiratsbürden werden können. Religiöse Traditionen vermitteln gesellschaftliche Werte, auch in Bezug auf die Positionen der Geschlechter. Religionen werden aktiv und situativ konstruiert: Auch kaum oder gar nicht praktizierende Familien können als Legitimierung für die Durchsetzung ihrer Vorstellungen religiöse Vorgaben und Verbote angeben. 

Von Werten zur Würde 

Im Diasporakontext, wie in der Einwanderungsgesellschaft Schweiz, wo unterschiedlichste Haltungen aufeinandertreffen, kann die Durchsetzung der besagten Vorgaben an Vehemenz gewinnen. Diskrepanzen zwischen den familiären und gesamtgesellschaftlichen Normen und Werten führen für die Betroffenen dann umso stärker zu Zwängen. Deshalb ist die Thematik auch hierzulande virulent. In der Diskussion über Werte, wie sie oft im Migrationskontext geführt wird, wird das «Eigene» schnell über- und das «Andere» abgewertet. Dies führt zu Wertekonflikten. Deshalb lautet das Credo der Fachstelle Zwangsheirat: Ohne Verunglimpfung und Verharmlosung Menschenrechtsverletzungen ansprechen. Die Menschenwürde als Grundlage für die Menschenrechte stellt dabei Basis und Ausgangspunkt der Debatten dar – auch für solche über religiöse Normen und Werte und darüber, wie diese der Menschenwürde Achtung oder aber Verachtung entgegenbringen können. 

Dass sich – wie wir in unserer Beratungspraxis erfahren – viele Betroffene dem familiären Druck entgegensetzen, können wir aus einer religionsoptimistischen Perspektive betrachten: Kulturell, traditionell oder religiös begründete Normen werden hinterfragt, dynamisiert und reformiert. Schliesslich ist Religion, genauso wie Tradition und Kultur, nichts Statisches. Sie kann ausserdem soziale und rechtliche Weiterentwicklungen anstossen: Wie die Self-respect-Bewegung in Südasien, gegründet 1925, die sich gegen das hierarchische und (auch) religiös legitimierte Kastensystem wandte, wobei mit den sogenannten «self-respect marriages» Ehen über Kastengrenzen hinweg und Liebes- anstatt arrangierte Heiraten befürwortet wurden. 

Wer sich gegen den die Würde angreifenden Familienwillen zur Wehr setzt, hat oft Schuldgefühle. Ziel der Fachstelle Zwangsheirat ist es auch, diese in Stolz umzuwandeln. Stolz darauf, dass Betroffene für ihre Würde, ihre Freiheit und Rechte einstehen. Ihre Zwangssituation wurde vielleicht mit der Kultur, traditionell, oder aber mit der Religion legitimiert – eine komplexe Mischung aus Gründen ist wohl realistisch. Dass Zwangsheirat auch Sache der Religion ist, ist dann Nebensache. Als schädliche Praktik verletzt sie die Menschenwürde. Und diese ist immer schützenswert. 

Fachstelle Zwangsheirat – Kompetenzzentrum des Bundes 
Kostenlose Beratung und Coaching für Betroffene, ihr soziales Umfeld und Fachpersonen 
Helpline: 0800 800 007 (auch ausserhalb der Bürozeiten) 
info@zwangsheirat.ch, www.zwangsheirat.ch 

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  • Fachstelle Zwangsheirat

    Kompetenzzentrum des Bundes ||| Kompetenzzentrum des Bundes Kostenlose Beratung und Coaching für Betroffene, ihr soziales Umfeld und Fachpersonen. Helpline: 0800 800 007 (auch ausserhalb der Bürozeiten), info@zwangsheirat.ch, www.zwangsheirat.ch

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