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Zsolt Balkanyi

Bildung im Judentum und jüdische Schulen

Für das Judentum ist «Lernen» ein zentraler und identitätsstiftender Begriff. Durch den Erwerb jüdischen Wissens werden Inhalte, Werte und Normen, die jüdische Tradition und das Wesen des Judentums von Generation zu Generation weitergegeben. Lernen garantiert aus der Sicht unserer Gelehrten die Aufrechterhaltung der Tradition und damit den Fortbestand unserer Religion. 

Lernen findet in der Familie, in der «Schul» (gemeint ist die Synagoge) und in der Schule im modernen Sinne statt. Zentraler Ort des Lernens in der Familie ist zum Beispiel der Schabbat, wo am Tisch über verschiedene Fragen diskutiert wird und wo sich auch die Kinder einbringen können sowie die (Hohen) Feiertage. Lernen konkretisiert sich hier in einer Atmosphäre des Vertrauens. In der Familie wächst man in die Tradition hinein und vertieft sein individuelles Wissen, indem sich das Wissen von Jahr zu Jahr vermehrt und sich die Rolle mit dem Lebensalter auch am Tisch wandelt.

Dialog und Diskurs stehen im Mittelpunkt

Lernen im Judentum bezieht sich nicht ausschliesslich auf jüdische Inhalte, sondern schliesst profanes Wissen und die sich auch aus dem Reichtum des Judentums ergebenden universalen Werte mit ein. Dialog und Diskurs stehen im Mittelpunkt. Lernen soll nie ein ausschliesslich hierarchischer Prozess sein. Es treffen nicht Wissende und Unwissende, sondern fragende Menschen aufeinander. Ziel ist es, neben der eigentlichen Frage verschiedene Antworten zu suchen und zu finden, um sich dann auf eine gemeinsame Meinung zu einigen. Lernen ist keine blosse Vermittlung von Wissen (wobei es ohne Vermittlung nicht geht), sondern ein eigentlicher Prozess mit offenem Ausgang. So verstanden ist Lernen eine bestimmte (Lebens-)Haltung, die weit über die formale Bildung hinausreicht. Lernen stellt sich im Judentum während des ganzen Lebens als Verpflichtung und Aufgabe immer wieder neu. Lernen ist kein abschliessbarer Vorgang, sondern ein sich perpetuierender Prozess, der ganz schön anstrengend sein kann und auch muss.

Die Aufgabe jüdischer Schulen

Eine der Aufgaben einer jüdischen Schule ist es, genau diese Haltung des lebenslangen Lernens zu vermitteln und unseren Kindern und Jugendlichen Ankerpunkte in der Auseinandersetzung mit ihrer Tradition und Kultur zu geben. Jüdische Schulen setzen auf eine profunde jüdische Bildung, die durch profanes Wissen begleitet wird. Beide Bereiche ergänzen sich hierbei und werfen verschiedenste Fragen auf, die es zu lösen gilt. Jüdische und profane Bildung werden stets zusammen gedacht. Es geht nicht um Hierarchie, sondern um die bewusste Wahrnehmung verschiedener Herangehensweisen an Fragen und die Suche nach einer geistigen Heimat und eine intellektuelle Verortung verschiedenster Themen. 

Konkret heisst dies, dass jüdische Religion, Geschichte und Tradition nicht aus der Perspektive der Katastrophe und des Defizits heraus erzählt werden, sondern aus einer Haltung und Tradition der Stärke und der Lebensbejahung.

Wichtig ist, dass religiöse Bildung an einer jüdischen Schule stets aus der Position eines gesunden Selbstbewusstseins geschieht. Konkret heisst dies, dass jüdische Religion, Geschichte und Tradition nicht aus der Perspektive der Katastrophe und des Defizits heraus erzählt werden, sondern aus einer Haltung und Tradition der Stärke und der Lebensbejahung. Thematisiert werden u.a. religiöse (Grund-)Fragen, kulturelle Errungenschaften und ethische Fragestellungen. Dies immer mit einem Bezug zum Alltag und in der Vision einer toleranten Gesellschaft. 

© SIG

Judentum als Ausgangspunkt des Lernens und der Erziehung

Im Gegensatz zu den meisten anderen Schulen, an denen religiöse Bildung eine Ergänzung zum bestehenden Curriculum darstellt, ist die religiöse Tradition des Judentums Ausgangspunkt unseres Lernens und unserer Erziehung. Mehr noch: Das Lernen soll die Schülerinnen und Schüler dazu inspirieren, sich mit jüdischen Texten vertieft zu beschäftigen, jüdische Praxis zu erleben und sich in ihrem Leben durch Gebet (Tefillah) und das Einhalten der Gebote und durch gute Taten (Mizwot) mit G’tt zu verbinden.

Die Lehrpersonen der jüdischen Fächer sprechen mit den Schülerinnen und Schülern ausschliesslich Hebräisch.

Konkret heisst dies, dass die profanen Fächer dem staatlichen Lehrplan 21 folgen und die darin geforderten Kompetenzen vermitteln und trainieren. Die Lektionentafel wird von der Aufsichtskommission für Privatschulen genehmigt. Die Lektionen des Profanunterrichts umfassen je nach Klasse 19 bis 26 Lektionen. Daneben werden die Schülerinnen und Schüler jede Woche während zehn Lektionen in jüdischen Fächern unterrichtet. Inhaltlich steht der aktuelle Wochenabschnitt (Paraschat Haschawua), der an Schabbat in der Synagoge gelesen wird, im Vordergrund. Daneben geht der Unterricht auf die jüdischen Feiertage (Chagim), den Pentateuch (Chumasch) und in den oberen Klassen auch auf die Prophetenbücher (Nawi) ein. Der Hebräischunterricht (Ivrith), der im Bereich der jüdischen Fächer eingebunden ist, vermittelt einen grossen Wortschatz auch für den täglichen Gebrauch. Die Lehrpersonen der jüdischen Fächer sprechen mit den Schülerinnen und Schülern ausschliesslich Hebräisch.

Der Wert jüdischen Lernens

Als jüdische Schule gehen wir davon aus, dass jüdisches Wissen auch eine Art «geistigen Widerstand» aufbaut, der den Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Problemen und Fragen, die sich durch ein Leben in einem nicht jüdischen Umfeld ergeben, behilflich sein kann. Jüdische Bildung soll das Selbstbewusstsein stärken und den Schülerinnen und Schülern ermöglich, ein verantwortetes und verantwortungsvolles jüdische Leben zu führen. Schlussendlich geht es auch darum, einen engen und lebenslangen positiven Bezug zum Judentum und seinen Werten aufzubauen, aus dem eine Verantwortung für das Gemeindeleben in einer tragenden Rolle entstehen kann. Das Erlernen von Ivrit schafft einen Bezug zu den Schriften und Gebeten des Judentums und ermöglicht einen Zugang zu Land und Leuten in Israel.

Kurz: Jüdisches Lernen und jüdische Schulen sichern unsere religiöse und soziale Zukunft. Sie garantieren unserer Gemeinschaft die Weitergabe unserer Tradition und befähigen uns zu einem toleranten und reflektierten Umgang mit unserer eigenen Religion und unserem alltäglichen Umfeld.


Grundlagen:

  • Art. «Jüdisches Lernen», in:  Schoeps, Julius H. (Hg.): Neues Lexikon des Judentums, Gütersloh et. al., 1992.
  • [s.a.]: Jüdisch-Leitbild der Schule der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, Juni 2021 [internes Papier].
  • Jüdische Schule Noam Zürich: www.noam.ch (konsultiert am 31. Januar 2022).

Weiterführend:

  • Seymour Fox, Israel Scheffler, Daniel Marom: Visions of Jewish Education, Cambridge 2010.

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Autor

  • Zsolt Balkanyi

    Rektor der Jüdischen Schule Noam in Zürich ||| Zsolt Balkanyi-Guery ist Rektor der Jüdischen Schule Noam in Zürich. Zuvor war er Rektor eines staatlichen Gymnasiums und u.a. Schulleitungsmitglied einer Privatschule im Engadin. Sein Studium führte ihn von Fribourg nach Zürich, wo er mit einer Arbeit zur Jüdischen Zeitgeschichte promovierte und später nach Basel an den Fachbereich Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie.

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