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Esther Fouzi

Bildung und Religionsunterricht – eine muslimische Perspektive

«Religionsunterricht ist eine Lebensschule», meint Esther Fouzi. Bei ihr im muslimischen Religionsunterricht sollen die Kinder und Jugendlichen auf der Grundlage des Korans zum Nachdenken und Reflektieren ihrer eigenen Handlungen angeregt werden. Auch wenn viele islamische Länder nicht für eine herausragende Bildung bekannt sind, wäre im Koran das Fundament dafür gelegt, denn dort werden Muslim:innen zum Gebrauch des eigenen Verstandes aufgefordert.

Wie bei vielen Themen rund um den Islam muss man auch hier unterscheiden zwischen der theologischen Ansicht und dem gelebten Alltag. Wie wichtig die Bildung ist, wird in den sogenannt islamischen Ländern nicht immer ersichtlich. Die Bevölkerung auf dem Land hat nicht den gleichen Zugang zur Bildung wie die Stadtbevölkerung. Armut und Krieg verhindern vielerorts eine regelmässige Schulbildung der Kinder. Aufgrund von traditionellen, patriarchalen Strukturen werden oft die Mädchen benachteiligt, wobei vor allem bei der städtischen Bevölkerung in den letzten Jahren ein erfreulicher Wandel zu beobachten ist. Es kann sogar von Familie zu Familie stark variieren, je nachdem welche Erziehung und Bildung die Eltern hatten. Im islamischen Verständnis nimmt Bildung, sowohl säkular als auch religiös, jedoch einen wichtigen Platz ein, und zwar für beide Geschlechter. Von der Frühzeit des Islam bis zum heutigen Tag hatten auch Frauen Rollen als Gelehrte, Lehrerinnen und Predigerinnen inne, in der Regel vor allem für Frauen, manchmal aber auch für gemischtgeschlechtliche Gruppen, wobei das Freitagsgebet (noch) ein Tabu ist.

Unreflektiertes Auswendiglernen

In der heutigen Zeit kann man beobachten, dass dort, wo die säkulare Bildung nicht präsent ist, die religiöse Bildung umso mehr vorangetrieben wird. Paradebeispiel sind die Taliban in Afghanistan mit ihren Koranschulen oder die Gruppe Boko Haram in Nigeria, deren Name in etwa bedeutet: westliche Bildung ist verboten. In ihren Schulen wird vor allem der Koran auf Arabisch auswendig gelernt – eine Sprache, welche die wenigsten beherrschen. Dazu wird dann die jeweilige Ideologie gepredigt.

Was die Wissensvermittlung betrifft, so ist mir aufgefallen, dass in vielen islamisch geprägten Ländern an den «normalen» Schulen ein breites säkulares Wissen vermittelt wird, das dann auswendig gelernt wird, ganz nach dem Prinzip der Koranschulen. Es wird wenig bis gar nicht reflektiert und es werden auch keine fächerübergreifenden Zusammenhänge sichtbar gemacht, welche zu neuen, eigenen Erkenntnissen führen könnten. Es ist daher keine Überraschung, dass viele dieser Länder das Schlusslicht bilden bei den weltweiten Innovationen.

Es wäre aber falsch, dieses Prinzip des unreflektierten Auswendiglernens dem Koran anzulasten, im Gegenteil.

Es wäre aber falsch, dieses Prinzip des unreflektierten Auswendiglernens dem Koran anzulasten, im Gegenteil. In der Frühzeit des Islam, als sich die Menschen mit dem Inhalt des Koran auseinandersetzten, fanden sie dort die Aufforderung zum beobachtenden, nachforschenden, nachdenkenden Lernen und erhielten Inspiration durch unzählige Informationen über die Schöpfung. Daraus hervorgegangen sind viele Entdeckungen und Erfindungen in verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen wie beispielsweise Astronomie, Mathematik und Medizin, welche später auch grossen Einfluss auf europäische Denker hatten.

Zum Nachdenken aufgefordert

Ein paar Auszüge aus dem Koran sollen das Gesagte verdeutlichen:

Es darf nicht sein, dass ein Mensch, dem Gott die Schrift und die Weisheit und das Prophetentum gegeben hat, alsdann zu den Leuten spräche: «Seid meine Diener neben Gott.»
Vielmehr (soll er sagen): «Seid Gottesgelehrte mit dem, was ihr gelehrt habt und mit dem, was ihr studiert habt.» (3/79)

Hier sind alle Menschen angesprochen. Jeder soll sich bemühen, zu lernen und zu lehren. Jeder ist in der Pflicht, sich religiöses Wissen anzueignen und im eigenen Leben entsprechend umzusetzen. Heutzutage wird das leider allzu oft an die Gelehrten abdelegiert.

Gemäss Überlieferung sind die ersten offenbarten Worte des Koran folgende Verse:
Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen
Iqrā’ im Namen deines Herrn, Der erschuf.
Er erschuf den Menschen aus einem alaq
Iqrā’, denn dein Herr ist Allgütig,
Der mit dem Schreibrohr lehrt,
lehrt den Menschen, was er nicht wusste. (96/1-5)

Iqrā’ heisst auf Deutsch: lies, rezitiere, studiere, untersuche, erforsche.
alaq heisst auf Deutsch: (an)hängendes Ding, Blutegel, Blutklumpen

Gott beschreibt Sich als Denjenigen, Der den Menschen lehrt, was dieser nicht wusste. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen säkularer und religiöser Bildung; hier werden beide Bereiche angesprochen: einerseits werden Gottes Eigenschaften und Handlungen bewusst gemacht, und andererseits finden wir eine sehr genaue Information zur Frühphase des Embryos, dessen Entwicklung zur damaligen Zeit noch unbekannt war.

Es ist ein Buch voll des Segens, das Wir zu dir herabgesandt haben, auf dass sie über seine Verse nachdenken, und auf dass diejenigen ermahnt werden mögen, die verständig sind. (38/29)

Haben sie sich denn über sich selbst keine Gedanken gemacht? Gott hat die Himmel und die Erde und das, was zwischen beiden ist, nur in gerechter Weise und für eine bestimmte Frist geschaffen. Doch  wahrlich, viele der Menschen glauben nicht an die Begegnung mit ihrem Herrn. (30/8)

Auch hier wird zum Nachdenken aufgefordert: über die Verse, über sich selbst, über die Beschaffenheit und zeitliche Begrenzung der Schöpfung, sowie die Rückkehr zu Gott. Das Beobachten und Untersuchen vom Säkularen, also der Welt, soll in religiösen Erkenntnissen münden. Auch die folgenden Verse beziehen sich darauf. Auffallend oft wird der Verstand erwähnt.

Wahrlich, in der Schöpfung der Himmel und der Erde und in dem Wechsel der Nacht und des Tages, liegen wahre Zeichen für die Verständigen … (3/190)

…Sprich: «Sind solche, die wissen, denen gleich, die nicht wissen?» Allein nur diejenigen lassen sich warnen, die verständig sind. (30/9)

© Esther Fouzi

Stagnation der Gelehrsamkeit

Leider kam es irgendwann um das 13. Jahrhundert n.Chr. zur Stagnation der Gelehrsamkeit und die Muslime begannen, das Erarbeitete zu konservieren, statt immer wieder neu aus dem Koran zu schöpfen. 

Dies blieb jahrhundertelang so. Die Religion wurde bewahrt und verkündet von den Gelehrten, welche in ihrer Ausbildung wiederum die Meinungen und Interpretationen der früheren Gelehrten lernten. Die Imame brachten den Gläubigen «den Islam» in Predigten bei, und die Kinder wurden und werden bis heute vor allem darin unterrichtet, den Koran auf Arabisch zu lesen und einzelne Kapitel auswendig zu lernen. 

Darüber hinaus lernen sie auch auswendig, was sie alles tun müssen als Muslime, und was verboten ist. Im Elternhaus fliessen dann noch kulturelle und traditionelle Elemente mit ein, so dass niemand mehr unterscheiden kann, was jetzt islamisch ist und was menschengemacht, weil nur die wenigsten Muslime den Koran in ihrer Muttersprache lesen. Oft wird der Gehorsam mit schwarzer Pädagogik erzwungen. 

Pädagogik und Didaktik

In den letzten Jahrzehnten hat sich vielerorts die Erkenntnis durchgesetzt, dass Religionsunterricht für Kinder und Jugendliche nicht länger nur eine Zusatzaufgabe des Imams sein soll, sondern dass Pädagogik und Didaktik wichtig sind bei der Vermittlung der Religion. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich gibt es an diversen Universitäten Ausbildungen zur Islamischen Religionspädagogik. In der Schweiz ist dies (noch) nicht der Fall. Meine eigene Ausbildung habe ich 2001 in einem anderthalbjährigen Fernstudium beim IPD Köln (Institut für interreligiöse Pädagogik und Didaktik) absolviert. Die Lehrpersonen kamen für die Wochenendseminare jeweils in die Schweiz. Leider gibt es zurzeit keine Kurse mehr.

Glauben und handeln gehören zusammen

Seit 2002 unterrichte ich Kinder und Jugendliche. Da mein Unterricht freiwillig ist, habe ich nur Schüler:innen, welche entweder selbst Interesse haben oder deren Eltern Interesse haben, dass ihr Kind seine Religion kennenlernt. Ich versuche, den Islam auf die Art (Didaktik) zu vermitteln, wie sie in den genannte und in anderen Koranversen beschrieben ist: Input aus dem Koran, gemeinsame Reflexion, eigene Beobachtungen in der Welt. Glauben und handeln, respektive Theorie und Praxis gehören zusammen. 

Beim Thema Islamisches Recht haben wir uns für Gerechtigkeit eingesetzt, indem wir bei Briefaktionen von Amnesty International mitmachten.

Nebst Frontalunterricht gibt es Klassendiskussionen, Gruppenarbeiten und handlungsbezogene Unterrichtsformen wie symbolische Bastelarbeiten, Rollenspiele, Filme und Postenlauf. Die Schüler:innen haben zu verschiedenen Themen wie Muslime und Gesellschaft oder Gesundheit und Ehe Interviews mit Passant:innen durchgeführt. Einmal haben wir einen Stand gegen Frauenverstümmelung betrieben und ein andermal Seifen, selbstgemachte Karten, Kaffee und Kuchen verkauft, um mit dem Erlös Amnesty International und Greenpeace zu unterstützen. Beim Thema Islamisches Recht haben wir uns für Gerechtigkeit eingesetzt, indem wir bei Briefaktionen von Amnesty International mitmachten.

Meine Schüler:innen habe ich in zwei Gruppen aufgeteilt: Primarschüler:innen und Oberstufenschüler:innen. Natürlich sind auch Lernende und Studierende willkommen. Mit den Jüngeren behandle ich die Grundlagen des Islam, wie den Glauben und die Rituale, und mit den Älteren bearbeite ich bestimmte Themen wie beispielsweise Islamisches Recht, Männer und Frauen, Terrorismus, Integration, Wissenschaft und Islam oder Selbsterziehung.

Wenn die Schüler eigene Fragen und Interessen haben, gehe ich sehr gerne darauf ein, je nach Komplexität kurz und sofort oder ich erarbeite eine Sonderlektion. Kürzlich haben zwei Schülerinnen aus eigener Initiative sehr wertvolle und informative Lektionen zum Thema «Islam und Umgang mit sozialen Medien» gestaltet. Eine weitere Idee, die noch umzusetzen wäre, kam von einer engagierten Mutter: ein Workshop zum Thema Integration, respektive wie Jugendliche ohne schlechtes Gewissen den Spagat zwischen der hiesigen Gesellschaft und der von Kultur und Tradition geprägten Familie schaffen und inwiefern der Islam Klarheit und Erleichterung bieten kann.

Meine Ziele

Ich möchte, dass die Schüler:innen eine eigene und positive Beziehung zu Gott aufbauen können. Und ich möchte ihnen das Vertrauen geben, den Koran selbst zu lesen und zu verstehen zu suchen, indem wir das gemeinsam üben. Sie sollen einen persönlichen Zugang finden, so dass er ihnen Hilfe, Stärke und Anleitung fürs Leben sein kann. Der Sinn der Gebote und Verbote soll erkannt werden – alles zielt auf Sicherheit und Frieden in der Gesellschaft und die Rückkehr zu Gott ab. Sie sollen lernen, den Koran im Kontext der Geschichte, und die einzelnen Verse im Kontext der umgebenden Verse aber auch der gesamtkoranischen Aussagen zu betrachten.

Weiter ist mir wichtig, dass sie reflektieren, hinterfragen, sich spüren und sich ihrer Antriebe und ihres Handelns und dessen Folgen bewusst sind und dass sie Verantwortung übernehmen für ihren Glauben und ihr Leben, aber auch in der Gesellschaft. Der Glaube soll ihrem Leben und Wirken Sinnhaftigkeit über den Tod hinaus bieten.

Religionsunterricht ist Lebensschule, und Selbsterziehung ist auch im Erwachsenenalter noch möglich und nötig…

Zum Islamunterricht gehören auch der Suren- und Arabischunterricht. Auch bei mir werden Suren auf Arabisch auswendig gelernt, denn sie sind ein wichtiger Bestandteil des Gebetes. Die Schüler erhalten jedoch jeweils die deutsche Übersetzung dazu und können Fragen stellen, wenn sie etwas nicht verstehen. Im Arabischunterricht lernen sie Arabisch lesen, damit sie den Koran in seiner Originalsprache lesen können. Wer will, kann auch schreiben lernen oder etwas Grammatik. Die beiden letzteren Fächer sind zwar Fleissarbeit, doch sie haben auch einen meditativen, ausgleichenden Charakter und werden von den Schüler:innen grösstenteils motiviert angegangen, auch wenn es zwischendurch mal «Hänger» gibt.

Da der Religionsunterricht freiwillig ist, kommen die Schüler:innen unterschiedlich lange. Einige bleiben nur ein paar Monate, andere viele Jahre. Meine treueste Schülerin kommt schon seit 16 Jahren! – Doch unabhängig davon, wie lange ihre Verweildauer ist, hoffe ich jedes Mal, dass meine Begeisterung für den Islam überschwappt und gute Erinnerungen an den Unterricht in den Schülern die Lust wecken, auch nach dem Austritt «dranzubleiben» – sogar wenn es vielleicht erst Jahre später ist. Religionsunterricht ist Lebensschule, und Selbsterziehung ist auch im Erwachsenenalter noch möglich und nötig …


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Autor

  • Esther Fouzi

    Religionslehrerin für muslimische Kinder und Jugendliche ||| Esther Fouzi, geboren 1964, gelernte Krankenschwester, verheiratet mit einem Marokkaner, zwei erwachsene Söhne, ist vor bald 40 Jahren zum Islam konvertiert und seit bald 20 Jahren Religionslehrerin für muslimische Kinder und Jugendliche.

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