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Roshin Panikulam

Das Weltreligionenparadigma (WRP)

Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus – das sind die sogenannten «fünf grossen Weltreligionen». Die Auflistung folgt üblicherweise der «abrahamozentrischen Ordnung». Das heisst, die drei monotheistischen Religionen, die auf den Stammvater Abraham zurückgehen, werden zuerst genannt. Danach folgen der Hinduismus und Buddhismus. Diese fünf Religionen werden als homogene Einheiten dargestellt, sodass man von einem Weltreligionenparadigma (WRP) sprechen kann. 

Schon seit längerem üben viele Wissenschaftler:innen Kritik am Weltreligionenparadigma. Eine zentrale Publikation stellte Jonathan Smiths Map is not Territory dar. Darin zeigte er auf, dass religiöse Traditionen als «Religionen» klassifiziert werden, wenn sie vom Westen gesetzten Kriterien entsprechen. Und dies sind Kriterien, die sich am Christentum als «Modellreligion» orientieren.

Laut der Religionswissenschaftlerin Tomoko Masuzawa tauchte das Paradigma erstmals im 19. Jh. auf, um die «westlichen Religionen» von den «anderen» abzugrenzen. Suzanne Owens, Professorin für Religionswissenschaft in Grossbritannien, kritisiert, dass die genaue Anzahl der «Weltreligionen» und die konkreten Auswahlkriterien immer auch zum Ausschluss anderer Religionen führe. Das ist eine grosse Schwierigkeit der Weltreligionen-Typologie.

Auch problematisieren die Wissenschaftler:innen, dass das WRP ein «sui generis Modell» von Religion darstellt. Das heisst, jede der «Weltreligionen» wird als essentialistischer Idealtypus verstanden. Diversität innerhalb einer Religionsgemeinschaft und jegliche Art der Hybridisierung bleibt also unberücksichtigt. Hieran schliesst sich auch die Kritik von Anne Koch an, der zufolge der Begriff der Weltreligionen ein «historisch schlechtes Beispiel für den adäquaten Umgang mit Vielfalt» ist.

Jede der «Weltreligionen» wird als essentialistischer Idealtypus verstanden.

Viele Autor:innen nennen zudem den Kolonialismus als einen Faktor, welcher mit dem Auftauchen des WRP zusammenhängt. So berichtete der anglikanische Theologe F. D. Maurice seinerzeit (1847), dass ein bestimmtes Wissen und Verständnis für andere Religionen hilfreich seien, wenn man mit anderen Ländern Handel treiben, sie erobern oder in Besitz nehmen wolle.[1] Eine Aussage, welche das damalige kolonialistische Gedankengut widerspiegelt. Das Wissen über indigene Religionen wurde oft dann wichtig, wenn es um die Jurisdiktion – also um gesetzgebende Prozesse – oder den Zensus ging. Ausserdem wollte man Prognosen machen können, wie die native Bevölkerung auf verschiedene Forderungen reagieren würde.

Die kritischen Stimmen in der Wissenschaft sind jedoch etwas anderes als die Realität der Vermittlung in Lehrgebäuden wie den Universitäten oder den Schulen. Denn die Kategorisierung der «Weltreligionen» scheint so tief in den Köpfen verankert, dass sie auch die Lehrenden in ihrem Unterricht vor grosse Herausforderungen stellt.

Das Weltreligionenparadigma an den Universitäten

Auch im Studium der Religionswissenschaften nehmen die «Weltreligionen» zum Teil sehr viel Raum ein. So sind sich zwar die Dozierenden an den Universitäten des Problems bewusst und versuchen, vom besagten Paradigma wegzukommen und zu einem kritischeren Ansatz von «Religion» zu gelangen. Aber die Erwartungen der Studierenden führen dazu, dass die «Weltreligionen» zumindest als Einführungsmodule unterrichtet werden. Beispielsweise berichtete Suzanne Owen 2011 noch, dass ein Grossteil ihrer Studierenden[2] am Leeds Trinity University College in Panik geriet, wenn sie vom Weltreligionenparadigma abwich und einen thematischen Zugang (wie z. B. den Fokus auf den religiösen «Raum») wählte.

Blickt man in die Schweiz, so scheint sich an den Schweizer Universitäten mittlerweile etwas getan zu haben. Die Universität Zürich bietet etwa Module zu verschiedenen religiösen Traditionen an. Hier kann man nicht nur Kurse zum Buddhismus, Hinduismus oder den verschiedenen abrahamitischen Religionen besuchen, sondern die Studierenden haben auch die Möglichkeit, einen Kurs zur römischen Religion oder zu den Religionen Japans zu absolvieren.

Man lässt in dieser Hinsicht den Studierenden die Wahl, über welche religiösen Traditionen sie sich mehr Wissen aneignen möchten. An der Universität Bern liegt der Fokus der Religionswissenschaft nebst methodischem und theoretischem Wissen auf dem Buddhismus und auf den südasiatischen Religionen. Hier scheint man von vornherein eine Spezialisierung auf den asiatischen Raum anzustreben. Die Universitäten und auch die Forschung möchten dementsprechend das WRP überwinden, jedoch deckt sich dies nicht mit der Situation auf Schulebene.

Die «fünf Weltreligionen» in den Schulen

An den Volkschulen im Kanton Zürich wurde das Fach «Religion und Kultur» erstmals 2004 eingeführt. Seit dem Schuljahr 2011/12 ist das Fach für alle Schüler:innen obligatorisch. Es wurde später dann um das Themengebiet der Ethik erweitert und heisst nun «Religionen, Kulturen und Ethik» (RKE). Als ich seinerzeit noch das Fach «Religion und Kultur» an der Sekundarschule besuchte, beschäftigten wir uns über zwei Jahre hinweg mit den fünf «Weltreligionen». Diese wurden als abgeschlossene Einheiten präsentiert. Wenn ich heute auf den damaligen Unterricht zurückblicke, so kann ich mich noch vage erinnern, dass wir uns etwa beim Judentum mit orthodoxen Juden, dem Schabbat und den jüdischen Speisegesetzen beschäftigt haben. Die Vielfalt des Judentums lernten wir nie wirklich kennen, da das Judentum eigentlich als orthodoxes Judentum dargestellt wurde.

«Jüdinnen und Juden werden 1) als Verfolgte 2) prototypisch, d. h. orthodox, 3) in sich homogen und 4) eine Parallelgesellschaft bildend dargestellt.»

Meine Ausführungen scheinen zu Teilen die Resultate einer Studie von Schellenberg und Saia zu bekräftigen. Die beiden Forschenden analysierten im Rahmen ihrer Studie, wie Sekundarschüler:innen in Aufsätzen zum Judentum über Jüdinnen und Juden schrieben. Dabei kommen sie zu folgendem Schluss: «Jüdinnen und Juden werden 1) als Verfolgte 2) prototypisch, d. h. orthodox, 3) in sich homogen und 4) eine Parallelgesellschaft bildend dargestellt.»

Wahrscheinlich käme man auch bei anderen Religionen zu ähnlichen Ergebnissen, wenn man bei diesen eine solche Fallstudie durchführen würde. Denn noch immer sind viele Unterrichtsmaterialien und Lehrmittel nach dem WRP gestaltet und geben eine stark ahistorische und essentialisierte Darstellung von Religionen wieder. Und diese Materialien und Lehrmittel werden nach wie vor rege genutzt.

Bild: David Crespo/iStock

Nun bin ich selbst Lehrerin und unterrichte an der Kantonsschule das Fach RKE, welches seit Neuem ein Pflichtfach am Langzeitgymnasium in Zürich ist. Meine Schüler:innen kommen direkt aus der Primarschule, wo ihnen das Weltreligionenmodell beigebracht wurde. Was bedeutet dies nun für meinen Unterricht? Soll ich als Lehrperson die Kategorie der «Weltreligionen» noch verwenden, um an vorhandenes Vorwissen anzuknüpfen? Oder soll ich eine andere Herangehensweise wählen? Ich möchte einige Erfahrungen und Überlegungen teilen, die ich für meinen Unterricht als hilfreich empfinde.

Mögliche Lösungsansätze für den Unterricht

In meinem RKE-Unterricht versuche ich, dem WRP so gut wie möglich entgegenzuwirken. Dafür verzichte ich in einem ersten Schritt auf den Gebrauch des Begriffs «Weltreligionen» und spreche bewusst von «Religionen» oder «Religionen der Welt». Ich möchte nämlich vermeiden, dass meine Schüler:innen eine reduktionistische Sicht auf Religionen erlernen.

Dies versuche ich zu bewerkstelligen, indem ich bereits zu Beginn meines Unterrichts mit dem Konzept von Ninian Smart zu den sieben Dimensionen von Religionen arbeite.[3] Zunächst wende ich es auf religiöse Gegenstände an. Anschliessend überlege und diskutiere ich mit den Schüler:innen, ob wir das Modell von Smart auch auf nicht-religiöse Phänomene anwenden könnten. Es zeigt sich dabei, dass sich sein Modell durchaus auf ausserreligiöse Fälle übertragen lässt. Als Beispiele eignen sich Fussball oder auch das Verhältnis eines Popstars zu seiner/ihrer Fangemeinschaft sehr gut. Anhand dieser Beispiele erkennen die Schüler:innen dann schnell, dass manche Bereiche der Gesellschaft durchaus religiöse Züge aufweisen können.

Diversität sichtbar zu machen, ist zentral

Zentral ist zudem, dass man als Lehrperson die Pluralität und Diversität der jeweiligen Religionsgemeinschaft sichtbar zu machen versucht, zum Beispiel indem man die verschiedenen Strömungen innerhalb einer Religionsgemeinschaft thematisiert. Gemeinsam mit den Schüler:innen können Tabellen mit den jeweiligen Ausrichtungen einer Religionsgemeinschaft angefertigt werden. Auch Bildmaterialien können hier sehr hilfreich sein. So erkennen die Lernenden, dass eine Religion keine homogene Einheit darstellt. Beim Judentum bietet es sich überdies an, die Frage «Wer ist jüdisch?» zu besprechen. Die Lernenden können anhand dieser Frage die Multiperspektivität einer Religionsgemeinschaft kennenlernen.

Auch deckt sich in der heutigen Zeit die Glaubensform nicht immer mit der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. So gibt es vermehrt Menschen, die zwar einer religiösen Institution angehören, aber mit deren Lehren nicht konform sind. Dies kann man den Schüler:innen zum Beispiel anhand der Graphiken (siehe «Glaube an Gott oder an eine höhere Macht, nach Religionszugehörigkeit» oder «Glaube an Gott oder eine höhere Macht 2014/2019») des Bundesamts für Statistik aufzeigen. Sie verdeutlichen, dass auch Menschen ohne Religionszugehörigkeit häufig an einen Gott oder an eine höhere Macht glauben.

Jedoch muss ich an dieser Stelle auch zugeben, dass es mir nicht gänzlich gelingt, mich vom Weltreligionen-Modell im Unterricht zu lösen.

Die Graphiken führen die Pluralität der Ansichten hinsichtlich der Gottesfrage in der Schweizerischen Gesellschaft vor Augen. Zudem veranschaulichen sie, wie sich diese Ansichten mit der Zeit verändern können. Die Graphiken kann man etwa im Rahmen einer Lektionseinheit zur Gottesfrage einbauen. Die Gottesfrage schafft viel Raum für Diskussion und regt die Lernenden allenfalls dazu an, eine eigene Position in dieser Frage zu entwickeln.[4] Dies sind nur einige mögliche Lösungsansätze unter vielen, um im Unterricht gegen das WRP anzugehen.

Jedoch muss ich an dieser Stelle auch zugeben, dass es mir nicht gänzlich gelingt, mich im Unterricht vom Weltreligionen-Modell zu lösen. Vor allem hinsichtlich der Abfolge der Religionen thematisiere ich nach wie vor die abrahamitischen Religionen zuerst, gefolgt von Hinduismus und Buddhismus. Man kann sich nun fragen, ob ich damit das WRP zu einem gewissen Grad reproduziere – wahrscheinlich schon. In dieser Hinsicht kann ich mich daher nur der Meinung von Schellenberg und Saia anschliessen: «So umstritten das Weltreligionen-Modell in aktuellen Debatten sein mag, so herausfordernd ist es, auf diese Kategorien zu verzichten.»


[1] «engaged in trading with other countries, or in conquering them, or in keeping possession of them.» F. D. Maurice zit. nach Cotter und Robertson, After World Religions, S. 8. 

[2] Die meisten dieser Studierende standen am Anfang des Studiums und wollten später mal im Bildungssektor arbeiten.

[3] An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass Ninian Smart einer der führenden Köpfe gewesen ist, der Ende der 1960er Jahre zur Einführung des Weltreligionenparadigmas an britischen Schulen beitrug. Nichtsdestotrotz halte ich sein Modell für geeignet, da er nicht von einer essentialistischen, sondern von einer funktionalistischen Religionsdefinition ausgeht.  

[4] Der Atheismus sowie der Agnostizismus sind an dieser Stelle auch als unterschiedliche Positionen in Bezug auf die Gottesfrage zu sehen. 

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Autor

  • Roshin Panikulam

    Historikerin, Religionswissenschaftlerin und Lehrerin ||| Roshin Panikulam ist Historikerin, Religionswissenschaftlerin und seit 2021 als wissenschaftliche Teilzeitmitarbeiterin für IRAS COTIS tätig. Hauptberuflich arbeitet sie als Gymnasiallehrerin und unterrichtet das Fach «Religionen, Kulturen, Ethik» im Kanton Zürich.

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