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Michèle Wenger

Erinnerungslernen im Religionsunterricht

«Was hat das mit mir heute und hier zu tun?» Diese Frage soll im Unterricht zur Shoah lebensnah und subjektorientiert beantwortet werden. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges muss eine Auseinandersetzung damit stattfinden, wie Erinnerungslernen im Religionsunterricht so gestaltet werden kann, dass sich auch jüngere Generationen ihrer Verantwortung bewusst werden, sodass Auschwitz nicht noch einmal sei.

«… ihnen gebe ich in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Name, … der nicht getilgt wird» (Jesaja 56,5)

Mitte Januar 2022 hat eine Schulbehörde des Bundesstaates Tennessee das preisgekrönte Comic-Buch Maus – Die Geschichte eines Überlebenden von Art Spiegelman, das die Erinnerungen seines Vaters an die Shoah erzählt, aufgrund von Schimpfwörtern, Nacktheit und Gewaltdarstellungen aus dem Lehrplan der 8. Klasse gestrichen. Prekär ist dabei nicht nur die Zensur an sich, sondern auch der Zeitpunkt des Verbots im Umfeld des internationalen Holocaustgedenktages am 27. Januar. Dieser internationale Gedenktag wurde ins Leben gerufen, um an die Katastrophe der Shoah zu erinnern. Das alttestamentliche Jesaja-Zitat, das der grössten internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (hebr. für «Denkmal und Name») in Jerusalem ihren Namen gibt, zeigt bereits, worum es bei diesem Gedenken grundsätzlich geht: um ein Erinnern an von Verfolgung, Deportation und Ermordung betroffene Menschen zur NS-Zeit.

Weshalb gedenken?

Obwohl viele die Erinnerung an die Shoah wachhalten wollen, zeigt sich seit geraumer Zeit auch vermehrt eine Forderung nach einem «Schlussstrich unter die Vergangenheit».[1] Damit soll eine Stunde Null ausgerufen werden, die es so nicht gibt. Dieser Anspruch lässt sich häufig aus rechten politischen Lagern verlauten und soll dazu führen, von einem Schulddiskurs Abstand zu nehmen oder historische Schuld zu leugnen. 

Bereits heute wissen immer weniger Menschen über die Shoah Bescheid. Dieses Wissensdefizit paart sich – wahrscheinlich nicht immer zufällig – mit einem Anstieg von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung sowie rechtsextremem Gedankengut – gut beobachtbar online und vor allem in sozialen Medien, wo Diskriminierung und Hate Speech ihr unkontrolliertes Dasein führen. Auch Holocaust-Leugnung oder -Relativierung sind wieder vermehrt anzutreffen. Das Geschichtsbewusstsein scheint wegzubrechen.

Denn Verantwortung tragen auch heutige Generationen, dass «Auschwitz nicht noch einmal sei».

Vergessen wird in der ganzen Diskussion, dass sich der Diskurs heutiger Generationen nicht mehr in der Frage um eine persönliche Schuld der jetzigen Generation bewegen kann, sondern in der Frage nach einem Umgang mit einer Verantwortung, die gegenwarts- und zukunftsgerichtet ist, bewegen muss. Es geht also vielmehr um eine Schärfung der Begriffe, dass nicht von Schuld, sondern von Verantwortung gesprochen wird. Denn Verantwortung tragen auch heutige Generationen, dass «Auschwitz nicht noch einmal sei».[2] Gerade Überlebende der Shoah, die sich Zeit ihres Lebens dafür eingesetzt haben, dass ihre Geschichten und jene ihrer Freunde und Familien nicht verloren gehen, fokussieren diese Diskussion um Verantwortung. Aber auch jene Stimmen der Überlebenden verstummen langsam. Dieses Verstummen der Zeitzeug:innen ist eine der grossen Herausforderungen im Erinnerungslernen[3]. Begegnungsmöglichkeiten mit Überlebenden und Betroffenen werden immer seltener. Das verändert ein Lernen mit und durch Erinnerungen von Zeitzeug:innen. 

Wir leben mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Zeit des Übergangs und der Transformation von Erinnerungen. Eine Frage, die sich mit diesen Veränderungen im Erinnerungslernen stetig stellt, ist jene nach einem Wie des Gedenkens.

Wie gedenken? – Einblick in die Religionspädagogik

Mittlerweile existieren viele Publikationen aus der Geschichts- und Deutschdidaktik, die sich mit dem Thema Holocaust Education beschäftigen. Aber auch die Religionspädagogik hat mit einem Konzept zum Erinnerungslernen des Tübinger Theologen Reinhold Boschki und vielen weiteren darauf aufbauenden Entwürfen eingehend dargelegt, wie im Religionsunterricht gedacht werden kann und worauf geachtet werden soll.

Boschki formuliert fürs Erinnerungslernen im Religionsunterricht wichtige Leitlinien, die hier kurz umrissen werden.

Überwältigungsverbot
Schüler:innen dürfen im Unterricht zum Thema Shoah nicht überwältigt werden. Die Zeit der Schockpädagogik, in der Lernende z.B. mit Bildern von Leichenbergen konfrontiert (und z.T. alleingelassen) wurden, darf nicht mehr sein. Für eine Sensibilisierung der Jugendlichen ist es zentral, dass sie die Möglichkeit erhalten, sich den Menschenrechtsverletzungen und menschlichen Schicksalen mithilfe kritisch-reflexiver Distanz anzunähern. Ein guter Unterrichtsentwurf beachtet dieses Überwältigungsverbot. Der Umgang mit Emotionen aller Beteiligten ist dabei sicherlich eine Schwierigkeit, der man sich überlegt stellen muss. Sie kann aber auch eine Chance sein. Aufkommende Emotionen gilt es ernst zu nehmen und die Lernenden bei der Bearbeitung jener zu unterstützen.

Doppelte Subjektorientierung
Im Erinnerungslernen begegnen sich zwei Subjekte, die es angemessen zu würdigen gilt. Einerseits sind damit die Biografien und Kontexte der jeweiligen Schüler:innen gemeint, die mit ihrem eigenen Vorwissen und ihren eigenen Vorstellungen an die Thematik herantreten. Aber auch die Biografien der historischen Personen, «die nicht passive Objekte (z.B. nur ‹Opfer›), sondern Menschen einer bestimmten Tradition sind, aus konkreten Familien stammen und eine markante Biografie haben». 

Biografie- und Ortsorientierung
Das religionspädagogische Konzept des Erinnerungslernens geht von Biografiearbeit aus, d.h. von konkreten Menschen. Es geht nicht nur um historisches Faktenlernen, sondern ganz dezidiert um wahrnehmbare menschliche Schicksale und Leidensorte. Hier verbinden sich Ansätze der Gedenkstättenpädagogik mit den Grundlagen religionsbezogener Bildung.

Foto: Moritz Schumacher/Unsplash

Der grössere Kontext jüdisch-christlichen Lernens
Weshalb ist gerade der Religionsunterricht ein wichtiges Fach, das sich dem Erinnerungslernen widmet? Neben der Erinnerung als theologischer Basiskategorie sind die Verbindungen der jüdischen und christlichen Religionen im Lernprozess immer wieder mitzudenken. Dies nicht nur im Hinblick auf das Verhältnis der Schwesternreligionen untereinander, sondern besonders auch im Hinblick auf die Rollen der christlichen Kirchen und christlicher Menschen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Antisemitismus-Bekämpfung
Die Antisemitismusthematik gehört in den Religionsunterricht und ihr wird von Religionslehrpersonen im Erinnerungslernen substanzielles Potenzial für den Religionsunterricht zugewiesen. Einerseits gibt es einen Antisemitismus, der ganz spezifisch religiöse Wurzeln aufweist und den es zu benennen gilt. Andererseits muss gerade aus jenem und aus einer christlichen Botschaft heraus Antisemitismus hier bekämpft werden.

Religiöse Bildung als Menschenrechtslernen
Anliegen aus den Menschenrechtskonventionen spielen im Erinnerungslernen eine zentrale Rolle. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 bildet für eine Sensibilisierung gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung eine wichtige Grundlage. Ihre Entstehungsgeschichte ist eine direkte Reaktion auf die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg. Die unveräusserlichen Rechte, die jedem Menschen zukommen sollten, aber in der Geschichte, besonders in jener der Shoah, Menschen nicht zukamen, bilden ein grundlegendes Spannungsfeld, das sich auch auf heute bezieht.

Ethische und selbstkritische Orientierung
Bildungsprozesse streben eine vertiefte Gesellschaftsreife und damit verbunden eine Fähigkeit zur ethischen Urteilsbildung an. Erinnerungslernen hilft hier im besten Falle mit, durch die Auseinandersetzung mit der Shoah zu einer ethischen Urteilsbildung zu gelangen, die nicht zuletzt auch heutige Verhältnisse kritisch betrachten kann und soll. Insofern leistet der Religionsunterricht mit seinen spezifischen Zugängen im Erinnerungslernen einen Teil zu den Zielen allgemeiner Bildung.

Herausforderungen bleiben

Einige Stolpersteine im Erinnerungslernen bleiben – nicht sinnbildlich gemeint auch jene Stolpersteine, die für vom NS-Regime Verfolgte, Deportierte und Ermordete in der Schweiz in die Gehsteige eingelassen wurden.[11] Sie geben Anlass für eine lokale Bearbeitung der Thematik und bilden so für Schüler:innen örtlich begehbare Erinnerungsräume.

Jede Generation braucht aktualisierte Bezüge fürs Erinnerungslernen. Eine Herausforderung liegt darin, den Unterricht aktualitätsbezogen und für Schüler:innen lebensrelevant zu gestalten. Der Frage «Was hat das mit mir heute und hier zu tun?» muss Raum gegeben werden.

Die Shoah sei kein Gegenstand, an dem es etwas zu lernen gäbe, schrieb der Theologe Wilhelm Schwendemann und spricht damit das Spannungsfeld an, das sich mit einer unterrichtlichen Verzweckung der Shoah ergeben kann. Dieses Dilemma der Verzweckung bleibt bestehen, kann allerdings unter Einhaltung der oben erwähnten Leitlinien z.T. abgemindert werden. 

Nebst der Schwierigkeit, auszusuchen und Leerstellen zuzulassen, besteht eine Herausforderung auch immer darin, jüdisches Leben nicht gesamthaft über die Shoah zu definieren.

Jüdische Menschen, die Opfer der Shoah wurden, waren und sind Menschen mit eigenen Kontexten, individuellen Identitäten und Geschichten. Zu ihnen und dem, was ihnen passiert ist, können wir unmöglich einen für alle angemessenen Zugang finden. Nebst der Schwierigkeit, auszusuchen und Leerstellen zuzulassen, besteht eine Herausforderung auch immer darin, jüdisches Leben nicht gesamthaft über die Shoah zu definieren. Jüdische Menschen leben unter uns und sind wertvolle Dialogpartner:innen, um «das» Judentum in seiner Vielfalt zeigen zu können. Das Dialogprojekt Likrat bietet sich dafür in der Schule an.

Begegnungen mit Zeitzeug:innen bilden wertvolle und einprägsame Momente, die Schüler:innen und Lehrpersonen in Erinnerung bleiben. Sie sollten arrangiert werden, solange sie noch möglich sind. Mediale Begegnungsmöglichkeiten wie z.B. die Zeitzeug:innen-Videos der Gamaraal Foundation versuchen, das Verstummen der Zeitzeug:innen abzufangen, sind aber selbstverständlich kein gleichwertiger Ersatz.

Religionspädagogik plädiert für ein Erinnerungslernen mit Menschen für Menschen und arbeitet stark mit Biografien von ganz konkreten Menschen mit ihren jeweiligen Kontexten. So trägt religionsbezogene Bildung dazu bei, Name und Denkmal zu geben und sich gegen ein Vergessen und für ein «Nie wieder!» einzusetzen.


[1] Umfrage der Deutschen Welle 2020 zum Holocaustgedenktag (https://www.dw.com/de/holocaust-gedenken-meinungsumfrage-von-infratest-dimap-im-auftrag-der-dw/a-52133933).

[2] Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit: Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. 26. Auflage. 2017.

[3] «Die Begriffe Erinnerung und Erinnerungslernen werden im deutschen Sprachraum im Kontext von Bildungsprozessen fast ausschliesslich im Zusammenhang mit dem historischen und gesellschaftlichen Gedenken an die Katastrophe des Holocaust (der Schoah) verwendet, meist im inklusiven Sinn, sodass der Mord an anderen Bevölkerungsgruppen in der NS-Zeit mit gemeint ist.» Boschki, Reinhold: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100048/


Weitere Informationen:

Antisemitismusbericht der Schweiz abrufbar auf: https://swissjews.ch/de/services/praevention/antisemitismusbericht/ oder Schwarz-Friesel, Monika: Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. 2019.

Forschungsgruppe REMEMBER: Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empirische Einblicke und didaktische Impulse. 2020.

https://www.stolpersteine.ch

https://www.likrat.ch/de/

Weitere Artikel

Michèle Wenger absolvierte ihr Studium der Theologie und der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Sie arbeitet als Doktorandin am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Zürich und als Gymnasiallehrerin für Deutsch und Religion. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Religionspädagogik im Erinnerungslernen in digitalen Räumen und in der Antisemitismusprävention im Religionsunterricht.

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