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Yves Mühlematter

Esoterik, Spiritualität und Okkultismus – Universale Weisheit im Wandel der Zeit

Was ist Esoterik eigentlich? Von A wie Astralreisen bis Z wie Zauberei finden wir alles in diesem weiten Feld der Spiritualität und des Okkultismus. Diese Vielfalt wurde über die Zeit immer reicher. Auf der Suche nach der universalen Wahrheit finden wir nebst zahlreichen digitalen Angeboten, Diskussionsforen und Blogs auch die Spuren der Theosophischen Gesellschaft und Rudolf Steiners.

Ein Hauch von Räucherstäbchen liegt in der Luft, im Schaufenster erblickt man Buddhafiguren von kitschig bis authentisch, und daneben reihen sich Traumfänger und Tarotkarten. Auf den Regalen an den Wänden findet man Ratgeberliteratur für alle Lebenslagen sowie Pendel und heilende Halbedelsteine. Willkommen im «Tante Helena Laden». Solche Esoterikläden gehören schon fast der Vergangenheit an. «Esoterik», «Spiritualität», die Suche nach Wahrheit – das Angebot an weltanschaulich-religiösen Inhalten hat sich längst ins Digitale verlagert. Hier finden sich Diskussionsforen, Video-Kanäle, Blogs und Online-Shops mit allem, was zur Suche nach spiritueller Selbstentfaltung dazugehört.

Esoterik und die Forschung dazu

Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff «Esoterik»? Diese Frage beschäftigt ein ganzes Forschungsfeld. Grundsätzlich herrscht aber dennoch Uneinigkeit darüber, was genau mit «Esoterik» bezeichnet werden kann und wie sich dies von «Spiritualität», «Religion(en)», «Weltanschauung» etc. abgrenzen würde. Auch die Frage nach einem Kern, der die Esoterik auszeichnet, bleibt mit guten Gründen umstritten. 

«Esoterisch-okkultes» Wissen wurde somit historisch zum «Anderen» des «wirklich Religiösen» oder «wahrlich Wissenschaftlichen».

Historisch gesehen wurde der Begriff «Esoterik» manchmal in Verbindung mit der Bezeichnung «Okkultismus» abwertend verwendet und als «pseudo-religiös» oder «pseudo-wissenschaftlich» betrachtet. «Esoterisch-okkultes» Wissen wurde somit historisch zum «Anderen» des «wirklich Religiösen» oder «wahrlich Wissenschaftlichen».

In der Esoterikforschung werden verschiedenste Phänomene diskutiert. Sie reichen von antiken Traditionen mit spirituellen Gesängen, Orakeln und wundersamen Substanzen, die alle samt Einsichten in höheren Wahrheiten gewähren sollen, bis hin zu zeitgenössischen Bewegungen, die sich als Nachfahren von Aliens oder als Existenzwesen verstehen, die aus einer Vielzahl menschlicher und nicht-menschlicher Individuen bestehen. Die Esoterikforschung erstreckt sich somit über Tausende von Jahren und beschreibt unterschiedlichste Phänomene aus mannigfaltigen kulturellen Kontexten.

Trotz dieser Vielfalt kann eine der bedeutendsten Entwicklungen im Bereich der Esoterik im 19. Jahrhundert verortet werden. Dies zeigt sich auch in der Auslage des Eingangs beschriebenen Esoterikladens.

Die universale Weisheit (philosophia perennis)

Auffällig ist, dass die verschiedenen Gegenstände aus ganz unterschiedlichen Traditionen und kulturellen Kontexten stammen. Räucherstäbchen und Buddhastatuen finden sich in indischen Religionen, Traumfänger stammen aus indigenen Traditionen Nordamerikas und die Halbedelsteine haben ihre Wurzeln in den «heidnischen» europäischen Religionen. Der Begriff «heidnische» oder «pagane» Religionen bezieht sich auf Glaubenssysteme, die in Europa während der Christianisierung verdrängt wurden – «heidnisch» und «pagan» sind ähnlich zu «esoterisch» abwertende Begriffe. 

Die Annahme aber, dass all diese Gegenstände als «esoterisch» gelten, beruht auf der Behauptung, dass alle Religionen auf eine einzige, universell gültige Lehre (philosophia perennis) zurückzuführen sind. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass es möglich sei, zu dieser «Weisheitsreligion» zurückzukehren oder in sie eingeweiht zu werden. 

Foto von Marea Wellness auf Unsplash

Die Einweihung in diese Weisheitsreligion wurde als das Erlangen höherer «esoterisch-okkulter» Einsichten in die einzige «wahre Wahrheit» beschrieben. Gleichzeitig soll ein Teil dieser Weisheitsreligion in allen Religionen vorhanden sein. Durch das Studium dieser Religionen könne man Zugang zur Weisheitsreligion erhalten. Daher wird die «Wahrheit» in verschiedenen kulturellen und religiösen Kontexten gesucht.

«Tante Helena» und die Theosophische Gesellschaft 

Im 19. Jahrhundert wurde diese Sichtweise insbesondere von der Theosophischen Gesellschaft vertreten. Die Theosophische Gesellschaft gilt als eine der einflussreichsten Gruppierungen im Bereich des «esoterisch-okkulten» Denkens. Die Gründerin Helena Petrovna Blavatsky – deshalb hier mit einem Augenzwinkern «Tante Helena Laden» – war ein bekanntes Medium. Später behauptete sie jedoch, von den «Meistern» in die «Weisheitsreligion» (Stichwort philosophia perennis) eingeführt worden zu sein. 

Zusammen mit ihrem lebenslangen Begleiter und Mitbegründer der Gesellschaft, Henry Steel Olcott, vertrat sie die Ansicht, dass diese Weisheitsreligion ihren klarsten Ausdruck in den alten Religionen Indiens, insbesondere im Buddhismus, finde. Daher zogen sie von New York über London nach Indien, wo sie das Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft in Adyar, einem Vorort von Chennai, gründeten. 

Die Theosophische Gesellschaft trug wesentlich zur Popularisierung sowohl von «esoterisch-okkulten» als auch hinduistischen und buddhistischen Ideen im «Westen» bei.

Dieses Hauptquartier besteht bis heute, und die Theosophische Gesellschaft ist weiterhin aktiv. Annie Besant, die ab 1907 die Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft war, lenkte die Theosophie stärker auf den Hinduismus, wodurch hindu-religiöse Ideen stärker in das «esoterisch-okkulte» Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts einflossen.

Die Theosophische Gesellschaft trug wesentlich zur Popularisierung sowohl von «esoterisch-okkulten» als auch hinduistischen und buddhistischen Ideen im «Westen» bei. Ihre indischen Mitglieder wie T. Subba Row, Bhagavan Das und Anagarika Dharmapala gestalteten das Geschehen in der Theosophischen Gesellschaft mit, sowohl in Indien als auch weltweit. Durch Vorträge, Zeitschriftenartikel und Bücher beteiligten sie sich aktiv an der Weiterentwicklung und der Verbreitung des theosophischen «esoterisch-okkulten» Wissens.

Theosophie und Steiner-Schulen

Eines der heute noch bekanntesten Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft war Rudolf Steiner. Später gründete Steiner seine eigene Gesellschaft, die Anthroposophische Gesellschaft. Seine Ideen sind heute weit verbreitet und sind durch Steiner-Schulen, Weleda-Produkte und Demeter-Landwirtschaft mehrheitsfähig und vielen Menschen bekannt.

Die Vielfalt des «esoterisch-okkulten» Feldes ist zu gross, als dass es hier im Detail beschrieben werden könnte. Dieses Feld, das oft als «subkulturelles» Feld bezeichnet wird, ist massgeblich mit Strömungen des 19. Jahrhunderts verbunden. Es war und ist in vielen Belangen aber ein wesentlicher Teil der Kultur. Dies gilt heute mehr denn je, da die Suche nach dem Sinn des Lebens, nach dem Spirituellen oder nach dem eigenen Platz in der Welt die Zugehörigkeit zu traditionellen Religionen in vielfältiger Weise überlagert.


Mühlematter, Yves. 2023. Accelerating Human Evolution by Theosophical Initiation: Annie Besant’s Pedagogy and the Creation of Benares Hindu University. Okkulte Moderne 6. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg.

Mühlematter, Yves, and Helmut Zander, eds. 2021. Occult roots of religious studies: On the Influence of non-hegemonic currents on academia around 1900. Okkulte Moderne 4. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg.

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Autor

  • Yves Mühlematter

    Postdoktorand an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich ||| Yves Mühlematter ist Postdoktorand an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Er erwarb seinen Doktortitel in Religionsstudien an der Universität Freiburg und wurde für seine Dissertation mit dem ESSWE Thesis Prize ausgezeichnet. Seine Forschung konzentriert sich auf die Verflechtungsgeschichte und den Austausch zwischen Indien, Sri Lanka und Europa im 19. Jahrhundert, insbesondere im Kontext theosophischer Pädagogik. Sein aktuelles Habilitationsprojekt an der Universität Zürich befasst sich mit Bildungskonzeptionen und utopisch-dystopischen Zukunftsvorstellungen.

Ein Gedanke zu „Esoterik, Spiritualität und Okkultismus – Universale Weisheit im Wandel der Zeit

  • Liebes Team von Religion.ch,

    vielen Dank für Ihren tiefgründigen Artikel über „Esoterik, Spiritualität und Okkultismus: Universale Weisheit im Wandel der Zeit“. Es ist beeindruckend, wie Sie die Entwicklung und den Einfluss dieser Bereiche auf die Gesellschaft und individuelle spirituelle Praktiken durch die Zeiten hinweg beleuchtet haben. Die Anerkennung der Vielfalt und der historischen Kontinuität in der Suche nach spiritueller Erkenntnis ist ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der menschlichen Natur und unserer unermüdlichen Suche nach Sinn. Ihre Arbeit bereichert die Diskussion um spirituelle und esoterische Themen mit fundierten Einsichten und fördert ein tieferes Verständnis für deren Rolle in unserer modernen Welt.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Stephan

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