Christentum  ·  Erziehung
Ann-Katrin Gässlein

In Konkurrenz zu Lloyd, Pikachu und den Avengers

Kann man in einem postkonfessionellen, multireligiösen und säkularisierten Zeitalter Kinder «katholisch» erziehen? Auch wenn man sich gleichzeitig der Ökumene und dem interreligiösen Dialog verpflichtet fühlt? Was, wenn sich die Kinder mehr für japanische Pokémon und Ninjas interessieren? Eine persönliche Annäherung.

Frühstücksumfrage bei meinen jüngeren Kindern, aktuell in der zweiten und dritten Klasse: Ja, wir wissen schon, dass die Kinder in der Klasse verschiedene Religionen haben. Und welche? Hmm, also zwei essen kein Schweinefleisch, und zwei feiern Weihnachten erst im Januar, und dann gibt es übrigens eine Münze in einem Stück Brot!

Glasklar: Aus Kindersicht hat Religion mit Essen zu tun, mit Sinnlichkeit, mit Festen und Feiern. Hier wird es handfest und anschaulich. Theologische Nuancen spielen erst mal keine Rolle; und hinsichtlich der Religionsgeschichte – so mein Eindruck – bringen die Kinder das Leben von Mose, Muhammad und Jesus schnell mal durcheinander. Und Josef gab’s ja auch noch. Und wer war nochmal Abraham?

Margarete – die Märtyrerin, Laurentius – der Diakon und Niklaus – der Schweizer Nationalheilige

Als meine Mutter Mitte der 1950er Jahre in einem kleinen Dorf zur Welt kam, wurde sie noch im Krankenhaus und in Abwesenheit meines Grossvaters getauft. So schnell wie möglich. Heute ist das theologische Konzept von Limbus – dem Ort, wo ungetauft verstorbene Kinder hinkommen sollten – zum Glück ad acta gelegt. Also kann man sich Zeit lassen. 60 Jahre später führte ein komplexes Gefüge von zeitlich begrenztem Mutterschaftsurlaub, Verfügbarkeit der gewünschten Gottis / Göttis und dem Bewegungsdrang der älteren Geschwisterkinder dazu, dass unser Jüngster erst im Alter von sechs Jahren seine Taufe empfing. Für meine Grosseltern noch unvorstellbar – heute keine Seltenheit. 

Sobald die Kinder da sind, beginnt ihre Erziehung. Eine tolerante, weltoffene Haltung zu leben, gegen Extremismus oder Fanatismus einzustehen, mit einem entspannten und bejahenden Verhältnis zu Forschung und Naturwissenschaft trotzdem ein religiöses Profil zu vermitteln – wie geht das? Was kann in diesem Zusammenhang überhaupt als «katholisch» gelten? 

Die Namen unserer Kinder erinnern an spätantike und mittelalterliche Heilige; und neben ihrem schönen Klang hatte mir damals der Gedanke gefallen, den Kindern ein Stück Religionsgeschichte mitzugeben.

Spontan liessen sich hier ja die Heiligen nennen: Immerhin ein umstrittenes Thema in der Geschichte, Anlass für christliche Glaubenskriege und vieles mehr. Noch bei meinen Grosseltern standen einige meterhohe Holzfiguren in den Zimmerecken: Einer war sicher der Hl. Florian, erkennbar am Holzeimer, aus dem er Wasser über ein brennendes Haus ausgoss. So etwas prägt. Die Namen unserer Kinder erinnern an spätantike und mittelalterliche Heilige; und neben ihrem schönen Klang hatte mir damals der Gedanke gefallen, den Kindern ein Stück Religionsgeschichte mitzugeben.

Margarete – eine Märtyrerin, die im Gefängnis von einem Drachen bedroht wurde, diesen aber in die Flucht schlagen konnte. Laurentius – ein Diakon, der sich vor die Armen der Stadt Rom gestellt und sie als den «wahren Schatz der Kirche» präsentiert hatte. Und unser Schweizer Nationalheiliger, Niklaus von Flüe, der den Bürgerkrieg verhinderte und zehn Jahre gefastet haben soll. Ich bin ein Fan dieser Gestalten, mit ihren fantasievollen Legenden, Attributen und Ausschmückungen. Sie sind ein wohltuendes Gegengewicht zu vielen heutigen kirchlichen Würdenträgern. Eine schauerlich-spannende Ergänzung zu den übrigen Helden der heutigen Kinderwelt wie Harry Potter oder Ninja Lloyd – und auch theologisch eine echte Alternative zu diesem langweiligen Schutzengel, mit dem ich nie wirklich etwas anfangen konnte. 

Nur: Wie lässt sich der angetaufte Name mit dem Familienalltag in Verbindung bringen, in ein Ritual transformieren? Die Tradition des Namenstags spielt zumindest meiner Erfahrung nach in der Schweiz keine Rolle. Daher vergesse ich die Daten selbst immer wieder. Zu einem kitschigen Andachtsbildchen als Geschenk für die Kinder habe ich mich nicht durchringen können. Hinzu kommt mein eigener zunehmend kritischer Blick auf die Heiligen: Nicht auf das Konzept als solches – aber auf einzelne Protagonist:innen. Das fängt schon beim eigenen Namen an: Die Hl. Anna soll zwar die Grossmutter Jesu gewesen sein – aber nur gemäss den apokryphen Schriften; die Bibel weiss nichts über diese Dame. Und die Hl. Katharina von Siena war zwar eine gelehrte Frau, aber fanatische Papstanhängerin, die zur Gefolgschaft aufgerufen haben soll, «selbst wenn der Papst ein fleischgewordener Teufel wäre, statt eines gütigen Vaters». Oje.

Mit Kindern beten – aber was?

Was gehört sonst zur religiösen Erziehung? Das «Katholische Gesangbuch» der Schweiz weiss, dass angesichts der vielfältigen Familienformen auch das gemeinsame Gebet in der Familie schwieriger geworden ist. Es ermuntert, eigene Wege zu finden, damit die Kinder spüren, «dass der unsichtbare Gott der Grund unsres Vertrauens und unsrer Geborgenheit ist». Als die Kinder ganz klein waren, habe ich regelmässige Abendgebete gesprochen, und gemerkt, dass ich selbst auf die Reimverse meiner eigenen Kindheit zurückgreife, die ich eigentlich nicht mehr sprechen will. Es gibt heute wunderschöne Gebete, Psalmen für Kinder, auch die Gebete im Katholischen Gesangbuch sind einschränkungslos zu empfehlen – aber auswendig gelernt sind sie noch lange nicht. Und nicht jedem ist das freie Formulieren gegeben. 

Die Sprache – um Gottes Willen! Was auf Latein wunderschön klingt, wird im Deutschen bieder und staubig …

Ich denke: Nach wie vor unübertroffen und am besten gesungen ist Bonhoeffers «Von guten Mächten wunderbar geborgen». Bonhoeffer ist aber nicht katholisch. Daher plädiere ich für eine Aktualisierung des «Ave Maria». Dieses Gebet ist wirklich religionsgeschichtlich bedeutsam, es vermittelt katholische Identität und hat auch eine starke frauenrechtliche Seite; mit dem Rosenkranzgebet existiert sogar eine praktikable rituelle Form. Aber ich habe gemischte Gefühle: Die Sprache – um Gottes Willen! Was auf Latein wunderschön klingt, wird im Deutschen bieder und staubig: «Gegrüsst seist du», «gebenedeit» und «Frucht deines Leibes». Bitte eine Neuübersetzung. Und wenn man sich schon daran wagt, könnte man gleich das Angelusgebet wieder aufleben lassen und Auszüge aus dem «Magnificat» übernehmen. Das ist nämlich ein «echtes» biblisches Gebet, das von Maria selbst hymnisch gesungen, und nicht einfach zu ihr als «Vermittlerin» gesprochen wird. Das wäre auch ökumenisch vertretbar.

Fest des «Señor de los Milagros»: Die römisch-katholische Gemeinde in Zürich hat Wurzeln in Peru. 
© Jens Oldenburg

Religionsunterricht und schulische Angebote

Dann gibt es natürlich den Religionsunterricht: Persönlich bin ich froh um jede Stunde, die stattfindet. In der Religionslehrperson begegnen die Kinder einem Erwachsenen, der Religion auch für wertvoll und wichtig hält. Die Lehrpersonen machen es anders als ich – und das ziemlich gut. Im Religionsunterricht backen sie selbst Brot, erhalten ein Set biblischer Geschichten, haben dort auch einiges über den Islam erfahren und die Synagoge besucht. Dies alles einer bunt zusammengewürfelten Gruppe wilder Kinder an einem Freitagnachmittag zu vermitteln, und ihnen dabei glaubwürdig, zugewandt und liebevoll gegenüberzutreten, ist eine Aufgabe, vor der ich grossen Respekt habe. Da stören mich auch die Schutzengel-Anhänger nicht, die sich bei den Lehrpersonen ungebrochener Begeisterung erfreuen.

Selbstverständlich ist der konfessionelle Religionsunterricht zumindest in gesellschaftlich durchmischten Städten nicht mehr. Etwa die Hälfte der Kinder nimmt bei uns am ökumenisch ausgerichteten Unterricht teil; das Thema ist aber weder dem Hort noch der Schulleitung besonders wichtig, das merke ich, wenn Sporttage und Ausflüge gefühlt immer auf den «Religionsnachmittag» fallen. Schulgottesdienste, wie ich sie in meiner Kindheit und Jugend regelmässig erlebt habe, gibt es in der Schweiz nicht, zumindest nicht systematisch an den öffentlichen Schulen. 

Religion ist Privatsache – diese Auffassung ist durchaus spürbar.

Religion ist Privatsache – diese Auffassung ist durchaus spürbar. Das hat seine guten Seiten, denn religiöse Übergriffigkeit will wirklich kein Mensch mehr. Für Eltern, die eine religiöse Erziehung wünschen, wird es dadurch anspruchsvoller. Also gibt es die Angebote der Kirchen: Bibeltage, Ministrieren, Ferienlager, und kirchennahe Programme wie Kinderchöre oder Blauring / Jungwacht. All diese Dinge konkurrieren mit den Freizeitressourcen der Kinder und der Gesamtfamilie, mit Judo, Ballett oder dem gemütlichen Sonntagmorgenfrühstück. Je nach Ausrichtung ist das Thema Religion in diesen Angeboten mehr oder weniger stark präsent. Die Freizeiten von Blauring / Jungwacht dürften an den meisten Orten aufgrund ihrer breiten gesellschaftlichen Öffnung kaum explizit religiöse Inhalte vermitteln, während unser Sohn in einer Fussballwoche, verantwortet von einem freikirchlichen Komitee, in der Kabine mit den anderen Kindern für ein gelungenes Spiel betete. Ich halte diese unterschiedlichen Erfahrungen grundsätzlich für eine Bereicherung und nutze die Gelegenheit, mit den Kindern über solche Erlebnisse zu sprechen und ihre Wahrnehmungen zu hören. Was sie später einmal darüber denken werden? Das weiss der Himmel allein.

Weihnachten und andere Feiertage

Und zuletzt natürlich die Feste und Feiertage: Zumindest Weihnachten bietet durchaus die Möglichkeit, religiöse Traditionen weiterzugeben oder neue zu schaffen. Weil wir uns gegen einen «echten» Weihnachtsbaum entschieden haben, basteln die Kinder irgendwann ab Mitte Dezember eine «Weihnachtsecke» aus Legos und Origami – Tannenbäume, Sterne, aber auch jeweils eine Krippe mit allem Drum und Dran. Letztes Jahr waren wir zweimal in der frühmorgendlichen Rorate-Feier, in einer kerzenerleuchteten Kirche. Das war so aufregend kalt, dunkel und saumässig früh, dass nicht mal Protest laut wurde. Auch dank der Konzerte und der Singspiele ist Weihnachten für meine Kinder nicht einfach nur ein Geschenke-Overkill. Feste und Feiertage sind auch eine Gelegenheit, die Traditionen der anderen Religionen kennenzulernen: Diwali zum Beispiel, wo die Kinder kurzerhand eingeladen wurden, bei einem kleinen Theater über Krshna und Radha mitzuspielen. Dazu muss ich als Erwachsene allerdings die Initiative ergreifen. In der Lebenswelt unserer Kinder sind die unterschiedlichen Religionstraditionen praktisch kein Thema. Meistens bleibt es – Privatsache. In der grossen Pause schwelgt man eher in den Abenteuern von Loki und Thor aus dem Computerspiel «Avengers» – dafür dann aber gemeinsam.


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Autor

  • Ann-Katrin Gässlein

    Religions- und Islamwissenschaftlerin und katholische Theologin ||| Ann-Katrin Gässlein ist Religions- und Islamwissenschaftlerin und katholische Theologin. Sie forscht an der Uni Luzern über religionsverbindende Feiern und Rituale in der Schweiz und arbeitet in St. Gallen beim Team der Cityseelsorge.

Ein Gedanke zu „In Konkurrenz zu Lloyd, Pikachu und den Avengers

  • Matthias Loretan sagt:

    Glaubensfroh, mit launigem Witz geschrieben. Differenziert in den Beobachtungen. Und immer zum Wohl der Kinder.

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