Erziehung  ·  Islam
Yasemin Duran

Die eigene Religion an die Kinder weitergeben – Erzählungen einer Schweizer Muslima

Wenn der Mensch auf die Welt kommt, so die Vorstellung im Islam, sind in ihm drei wichtige Organe noch ohne Inhalt: Das Gehirn (Ort des Wissens), das Herz (Ort des Glaubens und der Emotionen) und der Magen (gesunde Ernährung). An erster Stelle ist es die Verantwortung der Eltern, diese Bereiche auf die beste Art und Weise mit Inhalt zu füllen und keinen davon zu vernachlässigen. Dabei sind Eltern, die ihre Kinder in einer anderen Kultur als ihrer eigenen grossziehen, mit anderen Herausforderungen konfrontiert als Eltern, die in derselben Gesellschaft mit der gleichen Kultur und Religion leben und ihre Kinder erziehen. 

Im Islam beginnt die Vermittlung der religiösen Werte schon mit der Geburt. Das heisst, wenn das Baby auf die Welt kommt, gibt es einige Empfehlungen des Propheten. Dazu gehören unter anderem Bittgebete, das Rezitieren des Gebetsrufes und eine schöne Namensgebung.

Im Zentrum der Erziehung, sowohl auf der emotionalen als auch auf der kognitiven Ebene, steht die Barmherzigkeit. Diese kann dazu beitragen, dass elementare Gefühle wie Geborgenheit, Sicherheit, Liebe und Respekt durch die Erziehung erlebt werden. Wenn Muslime eine wichtige Tätigkeit, wie beispielsweise eine Prüfung, Autofahren, Essen oder Schlafen gehen ausführen möchten, sprechen sie davor die Basmala (Bismillahi-arRahman- arRahim). Das bedeutet «Mit dem Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen». Die Barmherzigkeit Gottes soll den Menschen bei all seinen Tätigkeiten begleiten. Das ist die erste Erfahrung der Kinder, die sie von ihren Eltern in Bezug auf Religion bewusst mitbekommen und selber aussprechen.

Eltern versuchen, je nachdem, wie belesen sie sind, ihren Kindern die Inhalte der Religion zu vermitteln. Dazu gehören beispielsweise die fünf Grundsäulen des Islam, welche das Glaubensbekenntnis, die täglichen rituellen Gebete, das Fasten im Monat Ramadan, die Pflichtabgabe und die Pilgerfahrt beinhalten. 

Verbundenheit zu Gott

Am Beispiel des Propheten Loqman, dem Allah Weisheit vermittelt hat, lernen die Eltern aus dem Qur’an, wie und über welche Themen sie mit ihren Kindern in Bezug auf Religion sprechen sollen. In den Versen 12 bis 19 im Kapitel 31 wird besonders betont, dass Kinder ernst genommen, mit liebevollem Ausdruck wie beispielsweise mein Liebster, mein Schätzchen, angesprochen und als Gesprächspartner wahrgenommen werden sollen. Aber auch Beratung und Ermahnung sind Erziehungsmethoden aus dem Qur’an, die altersentsprechend eingesetzt werden können. Interessant ist zu lesen, dass das Erste, was vermittelt werden soll, die Beziehung zu Gott ist. Eine gute, positive und durch Liebe geprägte Verbundenheit zu Gott wird die Kinder lebenslang begleiten. Hingegen wird eine negative, mit Strafen und Mahnungen besetzte Beziehung zu Gott die Kinder in späteren Jahren von der Religion entfernen.

Vorleben ist die beste Vermittlung

Das Vorleben der Religion ist die wichtigste Vermittlungsart der religiösen Werte, weil das visuell wahrgenommene viel besser verstanden und verinnerlicht werden kann, als beispielsweise das Gehörte.  Kinder können erleben, wie die Eltern die täglichen rituellen Gebete durchführen und wie sie im Berufs- und Familienalltag die Gebete mit einbeziehen und dadurch das Leben strukturieren. Der Fastenmonat Ramadan spielt auch eine wichtige Rolle dabei, wie die Kinder die religiösen Praktiken im Familienalltag erfahren und zum Teil auch mitmachen. Fasten, Spenden, Teilen, Wertschätzung der Nahrung, Dankbarkeit und Mitgefühl sind einige der Werte, die sie dadurch hautnah erleben können. Kinder sollten von ihren Eltern Werte wie Ehrlichkeit, Respekt, Anstand und Pünktlichkeit vorgelebt bekommen.

Religion sollte nicht als Erschwernis, sondern als Hilfe im Alltag erlebt werden.

In den religiösen Praktiken sollen die Kinder miteinbezogen und je nach Situation motiviert und belohnt werden, um gemeinsam Freude daran zu erleben. Entscheidungen über religiöse Themen sollten gemeinsam mit den Kindern getroffen werden. Religion sollte nicht als Erschwernis, sondern als Hilfe im Alltag erlebt werden. Wichtig ist, das Alter und die Begabungen der Kinder zu berücksichtigen und dementsprechend die Werte und das Wissen zu vermitteln. Die religiöse Mündigkeit beginnt mit der körperlichen und geistigen Reife, das heisst mit der Pubertät. Bis zu dieser Zeit sollen die religiösen Werte und das notwendige Wissen darüber mit Liebe und Barmherzigkeit vermittelt respektive vorgelebt werden.  

© Sabrina Balmer

Erziehen nach der Zeit der Kinder

Im Qur’an werden die Gläubigen aufgefordert, sich und ihre Angehörigen vor Feuer, respektive Gefahr zu schützen. «O ihr, die ihr glaubt, hütet euch selbst und eure Angehörigen …» (66:6) Sich selber schützen bedeutet auch, Herausforderungen, Gefahren, Schwierigkeiten zu erkennen, aufmerksam zu sein, zu lernen, sich zeitgemäss weiterzubilden und dementsprechend zu handeln. Mit der Selbsterziehung können Eltern, weil sie als Beispiel und Vorbild wirken, einen wichtigen Beitrag leisten, um auch die eigenen Familienangehörigen zu schützen. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern die Religion vorleben und die religiösen Werte im hiesigen gesellschaftlichen Kontext selbstbewusst praktizieren. Die Kinder können somit erleben, dass es möglich ist, in einer nichtmuslimischen Gesellschaft als Muslim seine Religion zu praktizieren und dabei ein Teil der Gesellschaft zu sein. Ali, der Schwiegersohn des Propheten Muhammad, der von ihm als das Tor zum Wissen bezeichnet wurde, sagte: «Erzieht eure Kinder nicht nach eurer Zeit, sondern nach der Zeit der Kinder.» Das bedeutet, dass die Eltern die Zeit der Kinder kennen und sich mit der Zeit, beziehungsweise den Herausforderungen und Entwicklungen der Zeit der Kinder auseinandersetzen müssen.

Muslimische Erziehung in einer nicht-muslimischen Gesellschaft

In muslimischen Gesellschaften findet die Erziehung der Kinder von drei Seiten her statt: Elternhaus, Gesellschaft und Schule. Die Aufgaben der Gesellschaft und der Schule kommen dabei an zweiter und dritter Stelle und spielen später, vor allem im Schulalter, eine sehr wichtige Rolle. Wissen über Religion und Kultur wird im Islam gemeinsam von den Eltern und je nach Möglichkeit in den Moscheen von Imamen vermittelt. Viele Eltern, vor allem Väter, sind mehr auf die Aspekte der Ernährung und des Unterhalts fokussiert, so dass die Vermittlung von Werten eher, aber nicht ausschliesslich, von der Mutter übernommen wird.

So kam es auch, dass unsere Tochter mit fünf Jahren ein Kopftuch tragen wollte, weil ich es auch tue. Wir wollten es ihr nicht verbieten, und so trug sie das Kopftuch auch später während ihrer Schulkarriere.

Eltern, die ihre Kinder in einer anderen Kultur als ihrer eigenen grossziehen, sind mit anderen Herausforderungen konfrontiert als Eltern, die in derselben Gesellschaft mit der gleichen Kultur und Religion leben und ihre Kinder erziehen. Es ist selbstverständlich und auch natürlich, dass Eltern den Kindern ihre eigenen Überzeugungen weiter vermitteln möchten, auch wenn diese von der hiesigen Gesellschaft nicht verstanden werden. Beispielsweise kopieren Töchter oftmals ihre Mütter, wollen sich so wie sie anziehen und schminken. So kam es auch, dass unsere Tochter mit fünf Jahren ein Kopftuch tragen wollte, weil ich es auch tue. Wir wollten es ihr nicht verbieten, und so trug sie das Kopftuch auch später während ihrer Schulkarriere. Offene Gespräche mit den Lehrpersonen und der Schulleitung waren dabei immer sehr hilfreich. Aber natürlich läuft es nicht in allen Familien so. Manche trauen sich nicht, manche stossen nicht auf Offenheit seitens der Behörden und vernachlässigen als Folge dessen unter anderem islamische Kleidervorschriften.

Die Gefahr, dass die Kinder sich in zwei völlig unterschiedlichen Welten wiederfinden und sich infolgedessen verstellen müssen, besteht leider auch in der zweiten und dritten Generation. Ein gesundes Gleichgewicht in der Beziehung zwischen Gott, Gesellschaft, Familie und sich selbst ist von grosser Bedeutung. Deshalb ist es wichtig, dass sich Kinder mit ihrer religiösen Identität in der Gesellschaft einbringen können, ohne wegen Namen, Rasse, Religion und Hautfarbe diskriminiert zu werden. Familie, Gesellschaft, der Einfluss der Medien und Schulen spielen hier eine wichtige Rolle. 

Eine strikte Trennung von Religion, Kultur und Tradition ist fast nicht möglich, da viele Eltern ihre religiösen Werte als Tradition vorgelebt bekommen haben und diese als solche weitergeben, ohne zu unterscheiden, was Religion und was Tradition ist. Dennoch identifizieren sich muslimische Kinder mit Migrationshintergrund im Vergleich mit Kindern in Ländern mit muslimischer Bevölkerung eher durch ihre Religion als durch ihre Kultur.

Können Muslim:innen Weihnachten feiern?

In der hiesigen Gesellschaft spricht man von religiösen Traditionen, welche die Kultur der schweizerischen Bevölkerung beeinflussen, wie beispielsweise Weihnachten. Muslimische Kinder erfahren und erleben natürlich all die Vorbereitungen und die Vorfreude auf dieses grosse Fest, unter anderem auch in der Schule. Da Jesus (Friede sei mit ihm) im Islam eine ausgesprochen bedeutende Stellung hat, haben wir in unserer Familie unseren Kindern seine Geschichte um die Weihnachtszeit aus islamischer Sicht erzählt und die Gemeinsamkeiten besprochen. Dadurch konnten sie auch verstehen, dass sie nicht an Weihnachten, sondern im Ramadan oder am Opferfest beschenkt wurden. Es gibt aber auch muslimische Familien, welche die Traditionen wie Tannenbaum schmücken und Geschenke kaufen mitmachen, die Weihnachtszeit mit den Feierlichkeiten zum Jahresbeginn verbinden und dies ihren Kindern auch so erklären.

Wenn Kinder die religiösen Werte in der Familie vorgelebt bekommen und sich in ihrem Glauben sicher und wohl fühlen, sollten sie natürlich auch andere Glaubensrichtungen kennenlernen.

Wenn Kinder die religiösen Werte in der Familie vorgelebt bekommen und sich in ihrem Glauben sicher und wohl fühlen, sollten sie natürlich auch andere Glaubensrichtungen kennenlernen. Die gemeinsamen Werte der hiesigen Gesellschaft sowie die kulturellen und religiösen Praktiken wie beispielsweise die Festtage anlässlich zur Geburt von Jesus (arab. Isa, Friede sei mit ihm), sollten in den Gesprächen in der Familie thematisiert werden.

Wenn sich Kinder eine andere Lebensweise aussuchen

In Situationen, in denen Kinder Fehler begehen oder sich andere Lebensweisen aussuchen, fordert uns Allah im Qur’an in der Sura Taghabun, Vers 14 auf, nachsichtig zu sein, zu verzeihen und zu vergeben. An Beispielen einiger Propheten wird ersichtlich, dass sogar deren Kinder andere Wege gegangen sind und nicht dem folgten, was die Eltern vermittelten. Auch wenn, unabhängig von welcher Religion, die Eltern deshalb enttäuscht und traurig sind, sollten sie wissen, dass die Herzen in der Obhut Allahs sind. Wenn Eltern mit gutem Gewissen sagen können, dass sie ihre Verantwortung wahrgenommen und das, was in ihrer Macht steht, gemacht haben, sollen sie sich keine Vorwürfe machen, sondern auf Gott vertrauen. Denn Eltern können Werte vorleben, Wissen vermitteln, für ihre Kinder beten und die Hoffnung nicht aufgeben. Austausch und Beratung mit anderen muslimischen Eltern kann entlasten. Im Bittgebet im folgenden Vers, das für gläubige Menschen als Beispiel dienen kann, betet der Prophet Abraham für seine Nachkommenschaft.

«Und, unser Herr, mach uns Dir ergeben und aus unserer Nachkommenschaft eine Gemeinde, die Dir ergeben ist. Und zeige uns, wie wir Dich anbeten sollen und wende uns Deine Gnade wieder zu; denn wahrlich, Du bist der gnädig Sich-wieder- Zuwendende, der Barmherzige.» (Baqara, 2:128)


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Yasemin Duran ist islamische Theologin, Religionspädagogin und Seelsorgerin sowie Mutter von drei erwachsenen Kindern und Teil des Redaktionsteams von religion.ch.

0 Gedanken zu „Die eigene Religion an die Kinder weitergeben – Erzählungen einer Schweizer Muslima

  • Johannes Busch sagt:

    Hübsche Rosafärbung. Die Farbe hält jedoch nicht lange. Dazu braucht man nur eine Frage stellen: Wie passt das alles zusammen mit der Zwangsbeschneidung?

    • Yasemin Duran sagt:

      Erlauben sie mir diese Frage folgendermassen zu kommentieren

      Laut der islamischen Hauptquelle dem Quran ist die Beschneidung tatsächlich keine Pflicht für die Muslime. In den Überlieferungen, Aussprachen des Propheten Muhammad wird die Beschneidung des Mannes jedoch empfohlen.
      Für viele muslimische Eltern gehört die Durchführung der Beschneidung der Knaben zu den elterlichen Verpflichtungen da sie dies auch aus medizinischen Gründen als sinnvoll erachten. Es wäre also kein Vergehen, wenn Eltern diese Entscheidung ihren Kindern überlassen würden. Aus den Überlieferungen ist bekannt, dass der Prophet Abraham ( Friede sei auf ihn) im hohen Alter die Beschneidung bei sich selber durchgeführt hat. Bezüglich alle anderen Beschneidungen, die ich persönlich als grausam betrachte, möchte ich sie auf den folgenden Links verweisen.
      https://aargauermuslime.ch/de/resolution-genitalverstuemmelung/

  • A. Steiner sagt:

    Sehr schön geschrieben. Leider erfahren viele Menschen den Islam nicht von seiner schönen Seite, weil die Menschen ihn falsch auslegen oder ihre grausamen Taten fälschlicherweise im Namen des Islams ausführen. Es ist unglaublich, dass ausgerechnet der Islam, eine so schöne Religion voller Barmherzigkeit und übrigens ein Glaube, der die Frauen sehr ehrt, so neg. ausgelegt wird, angefangen mit Eltern und Ehepartnern bis hin zu den Führern ganzer Nationen.

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