Interreligiöser Dialog
Rafaela Estermann

Interreligiöser Dialog: Zuerst die Beziehung, dann das Gespräch

Dies ist eine Abschrift eines Interviews vom Radio Life Channel mit Rafaela Estermann. Der Beitrag kann bei Radio Life Channel hier nachgehört werden.

Religion ist einer dieser Begriffe, bei denen man meint, man wisse, wovon man spricht. Die einen denken an einen Gott, es geht irgendwie um einen Glauben, die anderen haben Regeln vor Augen oder Vorurteile. Aber was bedeutet es eigentlich, wenn jemand religiös ist? Und wie hat sich der Begriff «Religion» auch verändert? Wie definiert man den Begriff heute? Und wie gehen die verschiedenen Religionsgemeinschaften in der Schweiz miteinander um? Denkt einfach jede:r für sich? Gibt es ein miteinander oder auch eine Bewegung aufeinander zu? Rund um diese Themen dreht sich ein Gespräch auf Radio Life Channel mit Rafaela Estermann.

Jonathan: Ich sitze im Büro von Rafaela Estermann. Sie ist religionswissenschaftliche Mitarbeiterin, gerade am Doktorieren an der Universität Zürich und Redaktionsleiterin bei religion.ch und damit auch ein Teil von IRAS COTIS, der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz. Ich habe es, glaube ich, zusammen, Rafaela?

Rafaela: Ja.

Jonathan: Danke, dass ich hier sein darf.

Rafaela: Danke dir.

Jonathan: Beim Runterlesen deiner Ämter, Uni Zürich, Doktorieren, religion.ch, IRAS COTIS, ist mir aufgefallen, der Begriff Religion kommt überall vor, in jedem Amt, das du hast. Das spielt eine wichtige Rolle in deinem Leben.

Rafaela: Ja, definitiv. Ich würde sagen, darum dreht sich mein Leben, lustigerweise.

Jonathan: Im Beruflichen wie auch im Privaten?

Rafaela: Im Privaten … Ich weiss nicht, ob man das bei mir so trennen kann, weil ich ein Mensch bin, der genuin gerne nachdenkt. Das heisst, ich denke immer auch in meinem Privatleben über solche Themen und Fragestellungen nach und diskutiere diese mit meinen Freunden und Familie. Ich bin katholisch aufgewachsen und würde sagen, dass ich immer noch eine gewisse religiöse Praxis habe.

Jonathan: Religion ist ein Teil von dem, wie du aufgewachsen bist, etwas, was eine Rolle spielt, über das du viel nachdenkst und auch schreibst, jetzt gerade auch in deiner Doktorarbeit, und deshalb bist du eine wunderbare Gesprächspartnerin für uns in dieser Sendung.
Ich möchte von vorne eintauchen. Welches Bild von Religion hast du vor Augen, wenn du an Religion denkst? Was ist das?

Rafaela: Das ist natürlich eine schwierige Frage für jemanden, der Religionswissenschaft studiert hat, weil ich nicht EIN Bild vor Augen habe.

Jonathan: Dann gib uns mal einen Einblick, welche Bilder das sind.

Rafaela: Ja, also ich würde eher von mehreren, ganz vielen Bildern sprechen. Ich fand es interessant, wie du das auch schon in der Anmoderation erzählt hast, weil es nicht den EINEN Begriff «Religion» gibt. Sondern: Du hast ein Verständnis von «Religion» – und wenn du auf die Strasse gehst und jemanden fragst, dann hat der ein ganz anderes Verständnis davon und verbindet ganz andere Dinge damit. Deshalb ist es so schwierig, von einem Begriff zu sprechen. Auch in der Religionswissenschaft gibt es das nicht.

Jonathan: Wie definiert man sie denn in der Religionswissenschaft?

Rafaela: In der Religionswissenschaft streitet man eigentlich seit Jahrzehnten, bald ein Jahrhundert oder so, darüber, was Religion ist und ob man sie definieren kann oder nicht. Man hat verschiedene Strömungen und die einen sagen dann, dass man es kulturwissenschaftlich definieren soll, das heisst dann zum Beispiel, dass man von Symbolsystemen spricht, die Glaubenssysteme enthalten, oder man spricht auch von einer Praxis. Gerade bei der Definition über den «Glauben» gibt es dann die Kritik, dass viel zu sehr der «Glaubensaspekt» im Fokus steht, dass aber die meisten Menschen gar nicht über einen solchen kognitiven, sondern eher über einen praktischen Zugang zu Religion verfügen.

Vor nicht allzu langer Zeit hat mir zum Beispiel jemand erzählt: «Immer wenn ich aus dem Haus gehe, habe ich am Eingang ein Schälchen mit Weihwasser, mit dem ich mir ein Kreuzzeichen mache. Ich glaube gar nicht daran, aber ich mache das eben.» Ein solches Verhalten kenne ich von mir auch. Wenn ich jemandem Glück wünschen möchte, dann zünde ich zum Beispiel ein Kerzchen an. Aber glaube ich daran, dass ich damit irgendwelche Energien oder so freisetze? Nein, eigentlich nicht.

Jonathan: Also es geht viel mehr um Rituale, um eine Praxis, was ICH mit Religion mache, als Mensch?

Woche der Religionen 2013 in Basel

Rafaela: Ja, ich als Kulturwissenschaftlerin würde das sagen. Aber man muss sehen, dass es ganz viele verschiedene Möglichkeiten gibt, an Religion heranzutreten. Und es gibt nicht eine Definition, die ALLE Aspekte abholt. Wenn ich als Wissenschaftlerin an Religion herangehe, kann ich auch nur die Aspekte von Religion auffangen, die die Wissenschaft zulässt. Früher, ganz am Anfang des Faches «Religionswissenschaft», als sie entstanden ist, wurde Religion über «das Heilige» oder «das Numinose» definiert.

Man versuchte damals, das «Wesen» der Religion zu definieren. Aber das versucht man heute nicht mehr, weil man sagt, dass man das Numinose nicht messen kann.

Jonathan: Was heisst «das Numinose»?

Rafaela: Man kann sich das, glaube ich, besser als Bild vorstellen. Wenn man bei einem riesigen Unwetter vor dem Meer steht und die wahnsinnige Gewalt der Natur erlebt, die einen irgendwie ein bisschen demütig macht. Ich denke, das ist das Bild vom Numinosen, von etwas Grossem, auch dem Heiligen. Man versuchte damals das «Wesen» der Religion zu definieren. Aber das versucht man heute nicht mehr, weil man sagt, dass man das Numinose nicht messen kann. Das ist dann das Problem der Wissenschaft, weil in der Wissenschaft gesagt wird, dass man nur untersuchen kann, was auch messbar ist. Ich kann Interviews mit Menschen führen und sie fragen, was sie glauben, aber ich kann nicht messen, ob das stimmt, was sie glauben. Das ist dann eine Grenze der Wissenschaft, wo sie gewisse Aspekte von Religion nicht abbilden kann, die Menschen für sich aber als wichtig erfahren. Das kann dann auch schwierig sein.

Ich denke, man darf nicht meinen, dass nur die wissenschaftliche Definition von Religion wertvoll oder nützlich sein kann. Es gibt auch andere Formen, Religion zu definieren. Aber in der Wissenschaft jetzt, in der Religionswissenschaft, ist es üblich, eher das Individuum anzuschauen. Zum Beispiel wenn sich jemand als christlich bezeichnet: Was bedeutet das konkret in seinem Leben, was macht er oder sie damit, woran glaubt er oder sie? Früher war das etwas anders. Man ging vom «Christentum», dem «Islam» oder dem «Hinduismus» aus. Da hat man dann vor allem die Schriften angeschaut, zum Beispiel die Veden oder so. Das war die Religionswissenschaft früher.

Jonathan: Also da ging man von Dingen aus, die klar zu einer Gemeinschaft dazugehören? Ein Bild, das in der Gesellschaft geläufig ist, ist so ein Schubladenstock. Das Christentum hat seine Schublade, das Judentum, der Islam und da gehören dann auch bestimmte Glaubenspraxen dazu, das macht man einfach so in dieser Schublade. Ist das ein Bild, von dem du sagen würdest, dass wir es besser vergessen sollten?

Rafaela: Ich würde nicht sagen, vergessen wir das lieber, weil das existiert in den Köpfen. Aber ich glaube, es ist einfach nicht besonders nützlich für gewisse Dinge. Im Interreligiösen Dialog glaube ich nicht, dass es besonders nützlich ist. Und ich glaube auch nicht, wenn ich zu Menschen gehe und frage, wie sie ihre Religiosität leben, dass ich das dann vorfinde. Dieses Konstrukt ist einfach mehr etwas, was in einem platonischen Himmel existiert, eine Idee. Da geht man dann davon aus, dass eine Religion aus einer bestimmten Glaubenswelt besteht, vielleicht mit einem Buch, in dem diese Inhalte niedergeschrieben sind, es gehören eine Tradition, eine Organisation, vielleicht gewisse gemeinschaftliche oder individuelle Rituale dazu. Es ist dann wie so ein Set. Und das lernen Kinder häufig auch noch so in der Schule. Das sind dann die «fünf Weltreligionen». Und da muss man einfach sagen, das ist nicht die Realität der Menschen. Man muss nicht das Gefühl haben, dass man dieses Set wirklich bei den Menschen findet.

Die Homogenität, von der wir heute meinen, dass sie mal gewesen sei, war wahrscheinlich viel weniger, als wir es meinen.

Jonathan: Und würdest du sagen, das ist nicht die Realität der Menschen heute oder würdest du sagen, das ist sie noch nie gewesen? Weil wir ja schon eine sehr individualistisch geprägte Gesellschaft sind. Suche und baue dir deine Welt zusammen, wie du es willst. Da könnte man dann auch sagen: Baue dir deine Religion zusammen, wie du es gerade willst. Das ist doch auch ein bisschen der Zeitgeist, nicht?

Rafaela: Ja, aber das ist auch ein bisschen ein Problem der Datenlage. Wir haben nicht wirklich eine gute Datenlage vom Bauer XY aus der Schweiz aus dem 15. Jahrhundert, weil meistens nur Mönche Aufzeichnungen gemacht haben. Aber ich zweifle einfach daran, rein einfach weil Menschen so sind, wie sie sind, dass es wirklich eine solche Homogenität in der Gesellschaft gegeben hat. Das ist nun einfach meine Spekulation, aber ich denke, es hat schon immer sehr viele Meinungen dazu gegeben, was denn nun das Wichtige in der Bibel ist oder was aus der Bibel im eigenen Leben eine Rolle spielen sollte.

Vielleicht fand der Pfarrer im einen Dorf etwas wichtig, aber der Pfarrer im nächsten Dorf fand etwas anderes wichtig, weil er einfach ein anderer Mensch war. Dann gab es im Dorf wahrscheinlich aber auch unterschiedliche Meinungen, welche Aspekte aus der Bibel herausgegriffen werden sollten. Und das hängt dann auch immer mit der Zeit zusammen. Wenn du gerade eine Hungersnot erlebst, greifst du auf andere Aspekte der Bibel zurück, als wenn du in einer extrem prosperierenden Zeit lebst. Die Homogenität, von der wir heute meinen, dass sie mal gewesen sei, war wahrscheinlich viel weniger, als wir es meinen.

Jonathan: Wenn wir nochmals auf das Bild mit dem Schubladenstock zurückkommen. Ein Bild, das wahrscheinlich weit verbreitet ist. War das vielleicht auch ein Versuch, sich gegenseitig abzugrenzen?

Rafaela: Ja, absolut. Das ist auch daraus entstanden, nach der Reformation bis zur Aufklärung, in der Zeit, als auch die Religionswissenschaft entstanden ist. Die ersten Religionswissenschaftler, nur Männer, hatten das Interesse zu zeigen, dass das Christentum als der Prototyp der Religion einfach die beste Religion ist. Sie haben dann eine Art Schablone geschaffen, indem sie sich das Christentum angeschaut und es als Religion identifiziert haben. Aus dem Christentum ist also eine Schablone entstanden, mit der sie durch die Welt zogen und schauten, was alles in diese Schablone reinpasst, immer mit dem Ziel, zu zeigen, dass das Original das beste ist. Daher kommt dieser Religionsbegriff und das macht ihn auch problematisch, seine Kolonialgeschichte.

Jonathan: Wenn ich dir so zuhöre, finde ich schon, dass du sehr für ein Bild von Religion plädierst, das vom Menschen, vom Individuum ausgeht. Was hat der Mensch für eine Lebenswelt, für Lebensfragen, wo hält er sich auf, womit begegnet er der Spiritualität und sucht nach Antworten.

Wenn ein Mensch einem anderen Menschen begegnet, sieht er die individuelle Ausprägung: Zum Beispiel wenn sich jemand als Christ:in bezeichnet, dann sieht man nicht «das Christentum».

Rafaela: Ja. Das hat aber auch noch mit meiner Prägung aus dem Interreligiösen Dialog zu tun. Im Interreligiösen Dialog kann man sich fragen, wo Begegnungen tatsächlich stattfinden. Und das ist natürlich nicht auf der Ebene der Religionen, sondern auf der Ebene des Menschen. Wenn ein Mensch einem anderen Menschen begegnet, sieht er die individuelle Ausprägung: Zum Beispiel wenn sich jemand als Christ:in bezeichnet, dann sieht man nicht «das Christentum». Es gibt dann sehr viele Vorurteile, die aus diesem Schubladendenken kommen.

Vielleicht geht jemand davon aus, dass alle Muslim:innen Kopftuch tragen und dann trifft er eine Muslimin, die keines trägt. Weshalb trägt sie keines? Das sind Vorurteile, die daher kommen, dass man denkt, dass der Islam aus einem spezifischen Set an Glaubensvorstellungen, Praxen und Regeln besteht. Aber das Individuum macht eben meistens etwas anderes als das, was man aufgrund der «Konstruktion» erwarten würde. Deshalb glaube ich, dass es für unser Zusammenleben in dieser Gesellschaft mit vielen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten einfacher ist, wenn wir einfach vom Individuum ausgehen – und dieses Bild ist auch einfach etwas realistischer.

Woche der Religionen 2018, Sikh Tempel Däniken

Jonathan: Wenn wir gerade da noch etwas eintauchen. Du arbeitest bei IRAS COTIS, einer Arbeitsgemeinschaft, die sich für das Vernetzen und Verstehen von Religionen in der Schweiz einsetzt. Du hast schon ein Müsterchen genannt: Begegnungen sind etwas, was das Zusammenleben fördern kann. Wir haben in der Schweiz verschiedenen Religionsgemeinschaft, wir haben diese Schubladen, sie existieren, aber wie können wir oder wie könnt auch ihr in dieser Arbeitsgemeinschaft daran arbeiten, dass man den Menschen kennenlernt? Hast du ein paar Beispiele, wie ihr das macht?

Rafaela: Ja, wir haben verschiedene Projekte. Eines ist die Woche der Religionen. In dieser Woche sind es Menschen aus verschiedenen Religionsgemeinschaften, die zusammen Veranstaltungen organisieren. Da lernen sie einander kennen. Das Wesentliche ist also nicht unbedingt die Veranstaltung selbst, sondern die gemeinsame Organisation der Veranstaltung, weil sich da die Leute als Menschen kennenlernen und etwas zusammen machen. Und ich denke, dass die Diskussion über die Weltsichten erst dann möglich wird, wenn die Beziehung dazu vorhanden ist. Und in dieser Zusammenarbeit entstehen Beziehungen.

Jonathan: Ich stelle mir das aber schwierig vor, wenn Menschen aufeinandertreffen, die ja auch von ihren eigenen Ansichten überzeugt sind. Findet man sich da immer in diesen Begegnungen?

Rafaela: Ich glaube, es ist nicht das Erste, was man macht, wenn man jemanden kennenlernt, dass man ihm die eigenen Ansichten um die Ohren schlägt. Du lernst einen Menschen kennen und ihr habt eine gemeinsame Aufgabe, nämlich das Organisieren einer gemeinsamen Veranstaltung. Und da sind diese Ansichten noch nicht so wichtig. Ich arbeite in einem Büro mit vielen Muslim:innen, weil wir eine Bürogemeinschaft mit der VIOZ, der Vereinigung Islamischer Organisationen Zürich, haben. Manchmal diskutieren wir schon auch über Glaubensinhalte, aber oft sind es eher alltägliche Dinge, wie der Zug oder die Verstopfung am Bahnhof, einfach so das, was das Leben der Menschen gerade so betrifft im Alltag.

Natürlich gibt es Menschen, die das Bedürfnis haben, über die Inhalte zu sprechen und das findet manchmal auch statt. Aber ich würde sagen, dass es nicht die Masse der Menschen ist, die einen solchen kognitiven Zugang zu Religion hat. Das heisst, viele Menschen haben Rituale und eine Praxis in ihrem Alltag und manchmal denken sie natürlich darüber nach, aber es ist einfach nicht auf einer Flughöhe wie in der Theologie. Ich glaube deshalb, dass das Bedürfnis, über Glaubensinhalte vertieft zu streiten, relativ klein ist. Auch wenn es das gibt und es Leute gibt, die das machen, aber es ist nicht die grosse Masse des Interreligiösen Dialoges, die so stattfindet.

Jonathan: Sondern es ist mehr das gemeinsame etwas auf die Beine stellen, einander begegnen.

Rafaela: Freunde werden, Beziehungen aufbauen, Ansprechpersonen kennenlernen. Das ist der Interreligiöse Dialog im Grossen und Ganzen. Und dann haben wir auch noch weitere Projekte. Zum Beispiel Dialogue en Route. Das ist ein Projekt mit Jugendlichen, das vor allem Schulen anspricht. Schulklassen können Tempel, Kirchen und Moscheen besuchen. Es gibt dann Guides, das können junge Menschen aus den Gemeinschaften sein, die Führungen und Workshops mit den Klassen machen. Da hat man dann die Begegnung mit dem Guide, der aus der Peergroup der Jugendlichen ist. Ein Projekt also, wo es wirklich um junge Menschen geht.

Ich glaube, wenn Menschen einander nicht kennen, haben sie vor allem Vorstellungen davon, wie der andere ist.

Und dann haben wir noch das Projekt religion.ch. Auf religion.ch sollen Mensch aus ihren eigenen Perspektiven schreiben. Wir sehen diese Menschen nicht als Repräsentant:innen für eine Gemeinschaft, sondern sie zeigen einfach ihre Perspektive auf ein Thema. Deshalb kommen Begriffe wie «Islam» oder «Christentum» eher im Hintergrund vor. Wir wissen, diese Schubladen sind vorhanden und Menschen suchen dann auch spezifisch nach diesen Schubladen, deshalb gibt es sie, aber was bei uns im Zentrum steht, sind die Themen. Das sind lebensnahe, alltagsrelevante Themen wie zum Beispiel Liebe oder Erziehung, Tiere oder Gender. Alles Dinge, die betreffen, wie ich lebe, wie ich mein Leben gestalte und welche Perspektiven es auf dieses Thema gibt.

Jonathan: Es geht um die Praxis. Das ist das, was ich im Gespräch spüre. Es geht darum, wie wir Religion eigentlich leben. Was würdest du zusammenfassend sagen, weshalb es einen Dialog zwischen Religionsgemeinschaften auch über Grenzen hinweg braucht? Auch als jemand, der viel Energie in das reingibt. Man könnte ja auch sagen, jede Religionsgemeinschaft lebt in ihrer Schublade und das ist ok so. Ihr sagt, nein, es braucht diesen Dialog. Was würdest du zusammenfassend dazu sagen?

Rafaela: Ich glaube, wenn Menschen einander nicht kennen, haben sie vor allem Vorstellungen davon, wie der andere ist. Man hat dann Vorstellungen davon, was die Angehörigen einzelner Religionsgemeinschaften ausmacht und diese Vorstellungen bleiben abstrakt, das heisst, man hat nicht eine Vorstellung davon, wie jemand seine Religion lebt, sondern was zum Beispiel «den Islam» ausmacht und das bringt Konflikte, die eigentlich nicht sein müssten. Weil man denkt, dass das Gegenüber auf eine bestimmte Art und Weise handeln wird, hat man schon einmal präventiv Angst und meint, man müsste präventiv zum Beispiel Gesetze zur Kontrolle von einzelnen Gemeinschaften erlassen. Würde man die Menschen dahinter jedoch kennenlernen, würde man merken, dass es nicht die Themen sind, die diese Menschen beschäftigen, von denen man dachte, dass sie sie beschäftigen würden.

Zum Beispiel in Bezug zum Islam denken manche, der «Politische Islam» oder die Demokratie abzuschaffen wären grosse Themen für Muslim:innen. Auch die Finanzierung von Moscheen ist immer wieder ein Thema. Ich denke nicht, dass das so wäre, wenn die Leute mehr Kontakte in diese Gemeinschaften hätten. Die Ängste wären viel kleiner, wenn man die Menschen kennen würde. Der Interreligiöse Dialog ist deshalb wertvoll, weil, wenn man Fragen hat, man Leute kennt, die man fragen kann. Und ich denke, es ist auch eine Art Prävention, weil gewisse Konflikte zwischen Menschen, die sich kennen, gar nicht entstehen würden. Wenn man Menschen aus diesen Gemeinschaften kennt, würde man merken, dass das nicht die Gedanken sind, die sie in ihrem Alltag beschäftigen.

Jonathan: Aber das Ziel ist in dem Sinn nicht, keine Schubladen mehr zu machen, denn diese gibt es und das ist, würde ich sagen, auch richtig, weil jede Glaubensgemeinschaft auch eine andere Grundlage hat, auf die sie sich stützt, sondern mehr, dass man einander kennenlernt, Beziehungen hat, sich versteht.

Zuerst braucht es eine Beziehung, damit man miteinander sprechen kann.

Rafaela: Ja und ich glaube auch, wenn man dann diese Beziehungen hat, dann kann man auch diskutieren. Und so können auch fruchtbare Diskussionen stattfinden. Aber ich glaube, man sollte nicht meinen, dass man mit jemandem seine Weltsicht diskutieren kann, wenn man keine Beziehung zu ihm hat. Das ist in der ganzen Friedensarbeit nicht erfolgreich.

Woche der Religionen 2018, Nidau

Jonathan: Weil der Dialog fehlt und die Begegnung?

Rafaela: Ich glaube, weil Dialog auf die Bezihung aufbaut. Zuerst braucht es eine Beziehung, damit man miteinander sprechen kann. Ganz viele Dinge, mit denen man kommen würde, wenn man die Leute überhaupt nicht kennt, sind Dinge, von denen man schnell merken würde, wenn man die Leute kennen würde, dass das einfach Anschuldigungen und Vorwürfe sind, die sehr verletzend sind und eigentlich weder Hand noch Fuss haben. Wenn man die Beziehung schon hat, beginnt man den Dialog an einem ganz anderen Ort.

Ich denke, momentan sind wir an einem Punkt, wo Religion häufig privatisiert wird.

Und natürlich sind Differenzen vorhanden und da muss man beginnen, eine Fähigkeit mit Differenzen umzugehen zu erlernen. Aber so weit sind wir in der Gesellschaft, glaube ich, noch nicht. Ich denke, momentan sind wir an einem Punkt, wo Religion häufig privatisiert wird. Leute sagen: «Das ist meine Religion, das ist seine Religion, jeder darf seine eigene Religion haben, glauben was er will, aber man soll es ja nicht am falschen Ort öffentlich sagen.» Solange es privat bleibt, ist es ok. So kann man aber nicht wirklich über Inhalte diskutieren. Ich denke, das ist schwierig. Denn für das Zusammenleben braucht es nicht nur eine Toleranz dafür, dass andere etwas anderes glauben, sondern es braucht auch eine Diskussionsfähigkeit und eine Möglichkeit, Differenzen auszuhalten oder mit diesen produktiv umzugehen.

Jonathan: Du hast gesagt, da sind wir noch nicht, an diesem Punkt. Was würdest du sagen, braucht es, damit wir an diesem Punkt ankommen. Beziehung ist wahrscheinlich etwas?

Rafaela: Beziehung ist sicher das Wichtigste. Aber dann gibt es noch viele weitere Ansatzpunkte. Zum Beispiel in der Schule: Was lernen die Kinder da, was Religionen sind oder nicht sind? Und da sind wir immer noch an einem schwierigen Ort, wenn man die «fünf Weltreligionen» durchnimmt. Ich finde es aber auch schwierig, wie in den Medien über Religion gesprochen wird. Und da versuchen wir mit religion.ch eine Stimme in dem Ganzen drin zu sein. Aber das ist sehr schwierig, weil bei den Medien vieles über Einschaltquoten und Clickbait funktioniert.

Jonathan: Und das macht man mit den harten Grenzen und Vorurteilen.

Rafaela: Exakt. Und dann glaube ich, braucht es auch einen Reflexionsprozess in der Gesellschaft, weil Religion häufig als etwas angeschaut wird, das aus der Vergangenheit kommt und rückwärtsgewandt ist. Viele Menschen schämen sich sogar zu sagen, dass sie religiös sind, weil die Leute so starke Vorurteile gegenüber religiösen Menschen haben. Hier bräuchte es insgesamt in der Gesellschaft einen Reflexionsprozess dazu, was man wissen kann und was man glauben muss. Ich denke, hier verschwimmen in dieser Wissenschaftsgesellschaft manchmal etwas die Grenzen, wo die Menschen meinen, sie könnten ein komplettes Weltbild rein auf wissenschaftliche Fakten basieren und meinen, das würde ihnen die Wertungen der Fakten und alles rundherum gleich mitliefern. Wir sind an einem Punkt, an dem eigentlich viel Reflexion benötigt würde und religion.ch versucht hier, etwas zu machen, aber wir sind zu klein. Wir brauchen noch ganz viele andere Menschen, die auch etwas machen. Deshalb finde ich es super, dass wir zusammen darüber sprechen.

Jonathan: Danke viel Mal, Rafaela, für diesen Einblick, man spürt dein Herz bei der Arbeit, die du machst. Das war das Gespräch rund um Religion, wie wir das in der Schweiz leben und wo wir noch vorwärts gehen müssten.


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Autor

  • Rafaela Estermann

    Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch ||| Rafaela Estermann ist Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch. Ihre Schwerpunkte sind Nicht-Religion, Säkularität und der Diskurs über Religion und den Islam in der Schweiz. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Zürich in einem Forschungsprojekt (MORE) zum Religionsunterricht über den Islam in verschiedenen Religionsunterrichtsmodellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.

Ein Gedanke zu „Interreligiöser Dialog: Zuerst die Beziehung, dann das Gespräch

  • Stephan Schmid-Keiser 11. Mai 2023
    zu Interview von Jonathan (Radio Life Channel) mit Rafaela Estermann (IRAS COTIS)
    https://www.religion.ch/blog/interreligioeser-dialog-zuerst-die-beziehung-dann-das-gespraech/

    Im Gespräch gemeinsam weiterkommen…
    Selten gelingt mehr seit den Zeiten der Aufklärung ein vertieftes Gespräch über den persönlichen Glauben. Lieber sprechen wir seither von Werten, die uns etwas bedeuten. Gut möglich, dass dabei nochmals ein neuer Weg sich auftut, von dem zu reden, was uns unbedingt angeht – the ultimate concern, wie es Paul Tillich ausgedrückt hat.
    Es könnte sein, dass wir auch bei anderen Persönlichkeiten gemeinsam Anschluss finden, um miteinander ins Gespräch zu kommen. So etwa bei John Henry Newman. Der Gottsucher durchlitt im Mai 1833 auf einer Reise nach Sizilien eine lange Krankheit. Am 16. Juni 1833 schreibt er auf der Rückreise nach England sein Gebet «lead kindly light» – ein Text, der in unserer Zeit gelähmter Herzen Zeugnis gibt vom Dennoch eines Glaubens, der bewegt:
    führ unscheinbares licht // dunkelheit umschliesst mich / undurchdringliche nacht / und weitab / habe ich mich verirrt // zeig du den weg // was israel / die feuersäule war / in seinen nächten / das sei du mir // du unscheinbares licht // nicht verlange ich / zu sehen / zu welchem ende / nur diesen einen // nur den nächsten schritt // nicht immer war mein wunsch / dass du den weg mir weist / selbst wollte ich wählen / wissen wohin es geht // doch nun / führe du // ich folgte dem grellen schein / stolze angst jagte mich // meiner vergangenen jahre / erinnere dich / nicht // erinnere mich // dass du es warst / der mich geführt die ganze zeit / und wirst nicht du / in zukunft auch / mich leiten // über schwankendem grund / auf steinigem weg / wenn wogen fort mich reissen // bis die nacht vorüber ist / und wie der morgen / freundlich mir erstrahlst // du / den ich gesucht / der eine weile / mir verloren schien
    Dieses glaubende Ich des einzigartigen Denkers Newman, der streitsüchtigen Zeitgenossen gegenüber kritisch blieb, dokumentiert ein kleiner Ausschnitt aus seiner spirituellen Autobiografie. Sie hebt die eigene Zivilcourage hervor, die die nach Gott Suchenden in eine innere Freiheit des Gewissens führt.: «Der Egotismus [speziell bei Newman: das Einbringen und Verantwortlichsein des Ich, nicht zu verwechseln mit dem Egoismus] ist die eigentliche Bescheidenheit. In Untersuchungen zur Religion kann jeder von uns nur für sich selber sprechen, und er hat auch nur das Recht, für sich selber zu sprechen. Ich muss eine wahrheitsgetreue Erklärung für mein ganzes Leben liefern; ich muss aufzeigen, wer ich wirklich bin, damit man sieht, wer ich nicht bin, und endlich das Gespenst verschwindet, das statt meiner herumstottert. Ich möchte, dass man in mir den lebendigen Menschen erkennt und nicht eine Puppe, die nur meine Kleider trägt.»
    John Henry Newman: lead kindly light, Neuübertragung von Reinhard Feiter, in: Biemer, G. / Kuld, L. / Siebenrock, R. (Hrsg.), Sinnsuche und Lebenswenden: Gewissen als Praxis nach John Henry Newman. Internationale Cardinal-Newman-Studien XVI. Folge, Frankfurt am Main 1998, 11-12.
    Einordnend dazu Michel Clévenot: Ich selbst und mein Schöpfer, in ders.: Grosse Denker des Christentums, Lizenzausgabe Kevelaer 2017, 169-183, 171f. Folg. Zitat aus der Apologia vita sua von John Henry Newman ebd.

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