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Rafaela Estermann

Leben in Gemeinschaft – Soeurs de Saint Paul de Chartres

Die kleine Gemeinschaft der Soeurs de Saint Paul de Chartres im Kanton Jura steht vor vielen Herausforderungen. Sie organisieren ihr Leben zusammen, über Generationen und Nationen. Die Schwestern zwischen 40 und 105 Jahren kommen aus der ganzen Welt. Trotz der vielen unterschiedlichen Weisen, die eigene Religion zu leben, finden sie einen gemeinsamen Weg.

«Veuillez messuier les pieds. Veuillez messuier les pieds. Veuilliez messuier les pieds …» Mit diesen Worten betritt Soeur Madeleine-Thérèse das Wohnzimmer der Gemeinschaft der Soeurs de Saint-Paul in Porrentruy. Die alte Dame wiederholt dieselben Worte wieder und wieder wie ein Mantra. Begleitet wird sie von Soeur Agnès, die sich um die Pflege der in die Jahre gekommenen Schwester kümmert. Soeur Madeleine-Thérèse war eine allgemein interessierte Frau, beschäftigte sich gerne mit Mathematik und Philosophie. Heute ist sie über 90 Jahre alt und dement. Ein Gespräch ist mit der kleinen, grauhaarigen Asiatin nicht mehr möglich. Das Wiederhohlen von aufgeschnappten Wortfetzen wurde zu ihrer Art der Kommunikation – so auch das «Veuilliez messuier les pieds», welches sie von der Morgentoilette mit Soeur Agnès mit zum Frühstückstisch brachte. Schon immer hat sie gerne gesungen und so stimmt sie auch gleich mit ein, als Soeur Agnès mit alten Liedern ihre Erinnerungen weckt.

Ich stehe mit meiner Kamera in der Ecke des Esszimmers als Soeur Madleine-Thérèse vor dem Frühstück das Zimmer betritt. Immer denselben Satz wiederholend kommt sie auf mich zu. Die stark demente Frau ignoriert die Kamera und steht unmittelbar vor mir, als dieses Bild entsteht.
Ich stehe mit meiner Kamera in der Ecke des Esszimmers, als Soeur Madleine-Thérèse vor dem Frühstück das Zimmer betritt. Immer denselben Satz wiederholend kommt sie auf mich zu. Die stark demente Frau ignoriert die Kamera und steht unmittelbar vor mir, als dieses Bild entsteht.

«Mais, je ne regrette rien, hein»

Alle waren sie jung, als sie in die Kongregation eintraten. Heute sind sie zwischen 40 und 105 Jahren alt. Die älteste unter ihnen, Soeur Marie, lebt nun seit 84 Jahren in der Gemeinschaft. Seit einiger Zeit jedoch lässt ihr Gedächtnis nach und sie spricht nur noch selten. Auch sie ist dement. Aber einiges scheint dennoch geblieben zu sein. Die Gebete, verinnerlicht seit der Kindheit, kommen noch immer in einem Schuss – fehlerfrei und im richtigen Moment.

Soeur Mirjam, selbst 79 Jahre alt, betreut Soeur Marie und Soeur Madleine-Thérèse von Zeit zu Zeit den Tag durch. Immer ein Lachen auf den Lippen, erzählt die kleine Frau, wie sie mit 20 Jahren in die Kongregation eintrat. Sie musste die Unterschrift der Mutter dafür einholen, da nach damaligem Recht erst mit dem 21. Lebensjahr die Volljährigkeit erreicht war. Soeur Mirjam hat hier ihr Leben als Lehrerin verbracht. Sie begann ihr Studium nach dem Eintritt in die Kongregation und unterrichtete dann an der Schule der Soeurs de Saint-Paul in Porrentruy. Schelmisch lachend bilanziert sie ihr Leben mit: «Mais, je ne regrette rien, hein». Immer wieder wechseln die Schwestern zwischen Schweizerdeutsch und Französisch. Soeur Mirjam, eine Deutschschweizerin, spricht wie alle in der Gemeinschaft fliessend Französisch. Dies einerseits, weil sich dieses Gemeinschaftshaus in Porrentruy im Kanton Jura befindet und damit in der französischsprachigen Schweiz. Aber auch, weil die gesamte Gemeinschaft nicht nur innerschweizerisch, sondern international durchmischt ist.

Soeur Marie (links) und Soeur Mirjam (rechts) geniessen draussen vor dem Haus in Porrentruy die Sonne.
Soeur Marie (links) und Soeur Mirjam (rechts) geniessen draussen vor dem Haus in Porrentruy die Sonne.

International und Interkulturell

Die Gemeinschaft der Soeurs de Saint-Paul de Chartres ist auf der ganzen Welt verbreitet. Die ursprünglich französische Kongregation ist heute auf allen Kontinenten in 40 Ländern verankert. Dies bedeutet auch, dass die Schwestern häufig nicht ihr ganzes Leben in derselben Gemeinschaft verbringen. In der Schweiz gibt es heute noch fünf Gemeinschaften mit insgesamt 19 Schwestern. Aber auch hier gilt, dass die Schwestern dort leben, wo sie gebraucht werden, und so wechselten die meisten doch mehrmals innerhalb der Schweiz den Ort, an dem sie wohnten. Viele lebten aber auch mehrere Jahre im Ausland – in Kamerun, in Kanada oder Madagaskar. Die Gemeinschaften in der Schweiz sind ausserdem auch selbst international aufgestellt. Es leben manchmal Schwestern aus Madagaskar, China, Frankreich, Vietnam oder Kanada zusammen unter einem Dach.

Die Gemeinschaftshäuser in der Schweiz befinden sich in Biel, Boncourt, La-Chaux-de-Fonds und Porrentruy. Das beeindruckende Anwesen in Porrentruy ist das Hauptgebäude der Gemeinschaft. Man erzählt sich, dass es einst einer Baronin gehört habe. Die Spukgeschichten, die dazu umgingen, verhinderten jedoch einen vermögenden Käufer. So kam es, dass es die Gemeinschaft der Soeurs de Saint Paul vor vielen Jahren zu einem günstigen Preis erwerben konnte. Im grossen Anwesen mit 16 Schlafzimmern und einem blühenden Park mit vielen Obstbäumen leben zurzeit jedoch nur noch sechs Schwestern. Zwei davon stammen aus Madagaskar, drei aus der Schweiz und eine aus Vietnam. Neben den Schwestern beherbergen die Gemeinschaftshäuser eine ausserordentliche Anzahl von Marienstatuen. In den verschlungenen Gängen des Anwesens in Porrentruy begegnet man dem geheimnisvollen Lächeln der Maria an den ungewöhnlichsten Orten. Selbst vom Licht oberhalb des Spiegels her beobachtet eine kleine Maria aus Lourdes einen bei der Morgentoilette.

Das Hauptgebäude in Porrentruy ist umgeben von einem wunderschönen, blühenden Park. Die Schwestern bauen darin auch viel Gemüse für den Eigengebrauch an.
Das Hauptgebäude in Porrentruy ist umgeben von einem wunderschönen, blühenden Park. Die Schwestern bauen darin auch viel Gemüse für den Eigengebrauch an.

Das Zusammenleben, erzählen die Schwestern, sei nicht immer einfach. Man habe sich die Mitschwestern, mit denen man in der Gemeinschaft lebt, ja nicht selbst ausgesucht. Ausserdem komme häufig hinzu, dass sie aus ganz anderen Kulturen stammen. Die Schwestern hätten einen Schock, wenn sie in die Schweiz kommen, und umgekehrt sei es schwierig, sich in einem neuen Land mit einer anderen Kultur einzufinden, wenn man die Schweiz verlasse. Man spreche zwar häufig dieselbe Sprache – Französisch oder heute auch Englisch –, aber das bedeute nicht, dass man einander verstehe. Häufig meine man, das Gegenüber habe verstanden, aber später finde man heraus, dass etwas ganz anderes angekommen sei. Man spreche eben mit anderen «Codes», habe andere Vorstellungen und ein anderes Verständnis dieser Welt. Doch auch wenn die unterschiedlichen Kulturen von Zeit zu Zeit zu Missverständnissen und Konflikten führen, eine sie trotzdem der Glaube an Jesus Christus und seine Botschaft. Vielleicht mache dies ein solches Zusammenleben auch erst möglich.

Lehrerinnen, Ärztinnen und Pflegerinnen

Diese Botschaft leben sie zum einen im Zusammenleben mit anderen Menschen, aber auch durch ihre Tätigkeiten als Lehrerinnen, Ärztinnen und Pflegerinnen. Neben dem grossen Hauptgebäude in Porrentruy im Jura befindet sich ein kahler, weisser Anbau mit Flachdach. Darin befand sich bis vor zwei Jahren eine Schule. Lange Zeit konnte in diesem Gebäude das früher für Mädchen obligatorische Haushaltsjahr absolviert werden. Als die Zeiten sich änderten, veränderte sich auch die Ausrichtung der Schule. Die Schwestern boten fortan eine Schule für Mädchen an, die Schwierigkeiten hatten, nach der obligatorischen Schule eine Stelle zu finden. Sie durften in der zu Teilen in ein Internat umfunktionierten Schule einen Sprachaufenthalt und gleichzeitig das zehnte Schuljahr verbringen. Auch eine Sekundarschule für die Mädchen aus Porrentruy war im Gebäude untergebracht. Doch es wurden immer weniger Mädchen, die diese Schule für sich aussuchten. Im Jahr 2018 dann entschieden sich die Schwestern, die Schule in ihrem damaligen Bestehen aufzulösen. Die Räume werden nun an die Gemeinde Porrentruy vermietet, die darin eine Kinderkrippe einrichtete. Nun ruhen die Pläne vorläufig. Doch es bestehen Pläne für die Zukunft. Irgendwann soll die Schule wieder aufgehen. Etwas anders soll sie sein, doch soll sie wieder aufgehen.

Neu ist eine Kinderkrippe im Gebäude der Soeurs de Saint Paul de Chartres wo sich ehemals die Mädchenschule der Schwestern befand.
Neu ist eine Kinderkrippe im Gebäude der Soeurs de Saint Paul de Chartres, wo sich ehemals die Mädchenschule der Schwestern befand.

Die Schule ist auch die Ursache dafür, dass in Porrentruy auf demselben Grundstück zwei Gemeinschaften der Soeurs de Saint-Paul existieren. Neben der Gemeinschaft im Hauptgebäude leben noch drei weitere Schwestern im Gebäude der Schule. Aufgrund der unterschiedlichen Rhythmen im Leben der Lehrerinnen und der anderen Schwestern, trennte man die Gemeinschaften in den 70er Jahren. Heute ist dies ein Überbleibsel aus alten Zeiten. Die drei Schwestern in der Schul-Gemeinschaft leben noch immer ein etwas anderes Leben als jene im Hauptgebäude, aber es ist sich durch die Schliessung der Schule etwas ähnlicher geworden.

Ich habe dann gespürt, dass der Herrgott nach mir ruft. Vielleicht ein bisschen wie im Leben sonst, wenn man einen Mann trifft und man für sich sagen kann: Der ist es!

Viele der Schwestern erzählen, dass sie selbst durch die Schule in Porrentruy mit den Soeurs de Saint-Paul in Kontakt kamen und sich aufgrund dieser Begegnung für ein Leben in der Gemeinschaft entschieden haben. Das Leben in der Gemeinschaft habe sie fasziniert und viele Möglichkeiten geboten. Viele erklären, dass sie eine Berufung erlebten. Ein inniger Moment mit Gott, durch den ihnen klar wurde, dass sie dieses Leben für sich möchten. «Ich habe dann gespürt, dass der Herrgott nach mir ruft. Vielleicht ein bisschen wie im Leben sonst, wenn man einen Mann trifft und man für sich sagen kann: Der ist es!» So spürte Soeur Ursula, dass das Leben in der Gemeinschaft ihr Leben sein würde. Nach dieser Entscheidung folgt die Zeit im Noviziat in Chartres in Frankreich, wo die Schwestern mit den Regeln und Lebensweisen der Kongregation in der Spiritualität des heiligen Paulus bekannt gemacht wurden. Ein Leben mit und um die Paulusbriefe ist der Kern dieser Spiritualität. Immer wieder lesen die Schwestern die Paulusbriefe und versuchen, das Leben des heiligen Paulus zu verstehen und für ihr eigenes Leben herauszukristallisieren, welche Botschaften daraus für sie wichtig sind. «Paulus war ein grosser Missionar. Er reiste viel an verschiedene Orte und schrieb dann den Menschen, die er an diesen Orten kennengelernt hatte, Briefe, um sie in ihrem Glauben zu bestärken oder sie zu mahnen, wenn sie sich auf dem Holzweg befanden. Ausserdem war er ein Draufgänger. Er traute sich immer zu sagen, was er dachte, und ist vor nichts zurückgeschreckt. Er musste viel einstecken, weil er ausgeraubt wurde und man ihn mit Steinen geschlagen hat. Trotzdem ist er immer wieder aufgestanden, liess sich nicht entmutigen und hat weitergemacht.» So beschreibt Soeur Ursula die Grundzüge, nach denen sich auch die Spiritualität der Soeurs de Saint-Paul ausrichtet.

Soeur Ursula betet hier am Morgen im kleinen Gebetsraum im Haus in Boncourt kniend.
Soeur Ursula betet hier am Morgen im kleinen Gebetsraum im Haus in Boncourt kniend.

Nach dem Noviziat legten sie dann ein Gelübde ab, mit welchem sie sich für das Leben in der Gemeinschaft entschieden. Dieses Gelübde musste anfangs jedes Jahr erneuert werden und galt nur für dieses eine Jahr. Dies diente dazu, ihnen Zeit zu geben, sich über das Leben als Ordensschwester klar zu werden und sich auch immer wieder daraus zurückziehen zu können. Dieses Leben zu führen, ist zu jeder Zeit freiwillig und auch Zweifel gehören dazu. Soeur My-Lan, welche als letzte Schweizerin das Gelübde ablegte, betont entsprechend, dass die richtige Frage nicht nur sei, weshalb sie sich für dieses Leben entschieden habe, sondern weshalb sie geblieben sei. Die Gemeinschaft biete ihr die Möglichkeit, persönlich zu wachsen und einen Weg zu sich selbst zu finden. Damit spricht sie wahrscheinlich für viele der Schwestern.

Soeur My-Lan betet mit ihren Mitschwestern singend im Gebetsraum in der Wohnung in La Chaux-de-Fonds. Meistens begleitet sie den Gesang mit der Gitarre.
Soeur My-Lan betet mit ihren Mitschwestern singend im Gebetsraum in der Wohnung in La Chaux-de-Fonds. Meistens begleitet sie den Gesang mit der Gitarre.

Alltag in der Gemeinschaft

Während früher auch die Schwestern im Hauptgebäude zum Beispiel als Pflegerinnen in der Spitex tätig waren, sind heute alle pensioniert ausser den Schwestern aus Madagaskar. Doch was heisst hier pensioniert – während sie früher Personen im Auftrag der Spitex pflegten, pflegen sie heute die beiden alten und dementen Schwestern Soeur Marie und Soeur Madeleine-Thérèse. Ihr Alltag ist in grossen Teilen durch diese Pflege und den Haushalt bestimmt. Nachdem sie die alten Schwestern am Morgen aufgenommen und gebetet haben, frühstücken sie gemeinsam. Dabei kümmern sie sich um die alten Schwestern und geben auch ihnen Frühstück. Dies kann seine Zeit dauern. Geschwindigkeit spielt hier keine Rolle mehr. Dann folgt eine Zeit, in der sie sich entweder Hausarbeiten oder der Pflege der Schwestern widmen. Oft tun sie auch beides gleichzeitig. So können die älteren Schwestern zum Beispiel mit dem Falten von Servietten noch etwas aktiviert werden.

Soeur Irène ist bei der Hausarbeit. Sie lässt Geschirrtücher durch die Mangel, die dann von der 105 Jahre alten Soeur Marie gefaltet werden.
Soeur Irène ist bei der Hausarbeit. Sie lässt Geschirrtücher durch die Mangel, die dann von der 105 Jahre alten Soeur Marie gefaltet werden.

Nach einem Gebet zur Mittagszeit folgt das gemeinsame Mittagessen, bei dem sie sich erneut um die älteren Schwestern kümmern. Nach dem Mittag gehen die alten Schwestern für eine kurze Zeit zu Bett. Dies gibt den jüngeren den Raum für etwas Freizeit, um einkaufen zu gehen oder für sonstige Aktivitäten. Vor dem Abendessen kommt dann jeweils ein alter Abbé vorbei. Selbst schon über 90 Jahre alt, lebt der früher in Paris tätige Priester in der Nähe der Gemeinschaft in Porrentruy. Jeden Abend holen sie ihn bei sich zuhause ab, dann liest er die Messe und gibt die Kommunion. Die Messe ist öffentlich und so finden sich auch immer Menschen aus Porrentruy oder der Umgebung zur Messe in der kleinen Kapelle zwischen Hauptgebäude und Schulgebäude ein. Als Freundschaftsdienst wird dem alten Abbé dann in einem der vielen Zimmer der Gemeinschaft das Abendessen serviert. Er isst nur selten mit den Schwestern gemeinsam zu Abend. Nach dem gemeinsamen Abendessen der Schwestern werden die älteren Schwestern von den jüngeren zu Bett gebracht. Es bleibt noch eine kurze Zeit der Stille, Zeit, um ein Buch zu lesen oder den Garten zu giessen. Beim Beobachten der Schwestern fällt etwas auf, was auch den alten Schwestern geblieben ist: Die Art und Weise miteinander umzugehen ist respektvoll, zuvorkommend und empathisch. Aufmerksam beobachten sie einander und versuchen, die Bedürfnisse der anderen zu sehen und darauf einzugehen, bevor sie überhaupt geäussert werden können.

In der Kapelle der Soeurs de Saint Paul de Chartres beim Hauptgebäude in Porrentruy beten nicht nur die Schwestern. Am Abend kommen auch Menschen aus der Umgebung, die den Gottesdienst mit ihnen feiern. Die Schwestern singen viel während dieser Gottesdienste – immer wieder auch im Solo.
In der Kapelle der Soeurs de Saint Paul de Chartres beim Hauptgebäude in Porrentruy beten nicht nur die Schwestern. Am Abend kommen auch Menschen aus der Umgebung, die den Gottesdienst mit ihnen feiern. Die Schwestern singen viel während dieser Gottesdienste – immer wieder auch im Solo.

Das Leben bei den Soeurs de Saint Paul hat sich in der Schweiz sehr verändert. Während in den 70er Jahren die Zimmer des Hauptgebäudes voll besetzt waren und es noch nicht aussergewöhnlich war, dass Schwestern Mitte Zwanzig mit Schwestern jeden Alters zusammenlebten, gibt es heute keine so jungen Schwestern mehr. Die Jüngsten in der Schweiz sind heute Anfang 40 und kommen häufig nicht mehr aus Europa.

Soeur Véronique lebt zusammen mit Soer My-Lan und Souer Denize in der Wohnung in La Chaux-de-Fonds. Mit ihrem elektrischen Roller fährt sie durch La Chaux-de-Fond und durch die Umgebung zur Arbeit.
Soeur Véronique lebt zusammen mit Soer My-Lan und Souer Denize in der Wohnung in La Chaux-de-Fonds. Mit ihrem elektrischen Roller fährt sie durch La Chaux-de-Fond und durch die Umgebung zur Arbeit.
Soeur Denize bereitet die Liederbücher für das Gebet vor. Im kleinen Raum hinter ihr beten und singen die drei Schwestern jeden Tag.
Soeur Denize bereitet die Liederbücher für das Gebet vor. Im kleinen Raum hinter ihr beten und singen die drei Schwestern jeden Tag.

Das Leben ist jedoch nicht in jeder der fünf Gemeinschaften gleich. Während das Leben im Hauptgebäude in Porrentruy stark auf die Pflege der älteren Schwestern ausgerichtet ist, arbeiten die Schwestern in La-Chaux-de-Fonds allesamt. Sie leben in einer Wohnung in einer Siedlung am Hang in La-Chaux-de-Fonds. Soeur Deniz aus Guyana arbeitet als Pflegerin in einem Altersheim, Soeur Véronique düst mit ihrem Mobil als Seelsorgerin zwischen verschiedenen Institutionen hin und her und Soeur My-Lan entwickelt das neue Schulprojekt für Porrentruy weiter.

Auch ihr Tag ist durch das Gebet strukturiert. Am Morgen, Mittag und Abend sind mehrmals Gebetszeiten eingeplant. Doch diese lassen sich gut verschieben und an die jeweilige Arbeit anpassen. Das Geld, das die Schwestern mit ihrer Arbeit verdienen, geht in eine Gemeinschaftskasse. So gleichen sie gegenseitig aus, wenn jemand nur in einem kleinen Pensum arbeitet und sich dafür noch um ältere Schwestern oder die eigene Familie kümmert. In der Regel arbeiten die Schwestern nicht 100%. Dafür engagieren sie sich noch weiter für soziale oder religiöse Anliegen. Sie besuchen Menschen zuhause, organisieren Jugendgruppen oder sind mit einem «Gesprächsmobil» unterwegs. Gerade auch die jungen Schwestern in La-Chaux-de-Fonds nehmen sich aber auch immer wieder Zeit für gemeinsame Ausflüge oder Scrabble-Abende.

Die Gemeinschaft ist ausserdem nicht geschlossen gegen die Entwicklungen dieser Welt. Auch das Leben in der Gemeinschaft wurde individueller und selbstbestimmter. Während früher fast alle Gebete gemeinsam stattfanden, gibt es heute viel individuelle Gebetszeit, die sich jede selbst einplanen kann. Dies unterscheidet sich jedoch von Kulturraum zu Kulturraum. Jede Gemeinschaft vereinbart, wie sie die Gebetszeiten und das gemeinschaftliche Leben handhaben will. Auch wird viel mehr gefragt und gemeinsam besprochen, wie das Leben jeder Einzelnen ablaufen soll. Man muss nicht mehr ins Ausland gehen, wenn man nicht will. Zwar wünschen sich die Schwestern die Kraft «Ja» zu sagen und in dieser Situation gehen zu können, doch sie müssten es nicht. Auch die Wahrnehmung der Schwestern in der Gesellschaft hat sich verändert. Längst wird ihnen nicht mehr mit dem Respekt begegnet, den man ihnen früher entgegenbrachte. Immer wieder werden sie angepöbelt und es wir über sie gelacht. Jede hat da ihre eigenen Strategien entwickelt, mit diesen Anfeindungen umzugehen. Wobei ihnen nicht überall respektlos begegnet wird, im Gegenteil, viele vermuten bei ihnen ein offenes Ohr für die eigenen Anliegen und suchen den Kontakt, ob im Zug, im Gesprächsmobil oder bei den Schwestern zuhause.

Über die Zeit haben sich in der Kongregation eine Art demokratische Strukturen gebildet. Jede Gemeinschaft wählt ihre Oberin, eine Schwester, die für die Gemeinschaft verantwortlich ist und alle Fäden in der Hand behält. Diese zusammen wählen wiederum eine Oberin, die für ein bestimmtes Gebiet verantwortlich ist. Alle sechs Jahre finden sich die gewählten Oberinnen der Gemeinschaften aus der ganzen Welt in Rom zu einem «Kapitel» zusammen. Da wird nicht nur die neue Generaloberin gewählt, sondern auch besprochen, welchem Thema sich die Gemeinschaften weltweit in den nächsten sechs Jahren widmen möchten. Das letzte Mal wurde entschieden, sich dem «Interkulturellen» zu widmen. Für die Kongregation ist und war dies immer ein prägendes Thema.

Es bleibt indes offen, wie es für die Schweizer Kongregation der Soeurs de Saint-Paul weitergeht. Noch ist die Gemeinschaft gross genug, um zu bestehen und ihre Arbeit fortzuführen. Doch wie geht es weiter in 20 oder 30 Jahren, wenn die meisten Schweizer Schwestern gestorben sein werden? Werden die Soeurs de Saint-Paul in der Schweiz und aus Europa verschwinden und zu einem Teil unserer Geschichte? Egal wie es weitergeht, jetzt sind die Soeurs de Saint-Paul de Chartres noch da. Immer bereit zuzuhören, zu helfen und zuzupacken. Das öffentliche Bild der Ordensschwestern entspricht nur wenig der gelebten Realität und die vielfältigen Geschichten dieser Frauen beeindrucken durch die tiefe Hingabe an ihre Religion und die Menschheit, durch ihren Mut ein unkonventionelles Leben zu leben und sich ganz ihrer Spiritualität zu widmen. 

Von Frankreich aus um die ganze Welt

Die Soeurs de Saint Paul de Chartre sind eine ursprünglich aus Frankreich stammende römisch-katholische Kongregation. Sie wurden 1694 in Levesville in der Nähe von Chartres durch Louis Chauvet mit dem Ziel gegründet, Mädchen Bildung zu ermöglichen. Nur kurz darauf verstarben Louis Chauvet wie auch die Mitbegründerinnen der Kongregation, doch der Bischof von Chartres konnte die zu diesem Zeitpunkt noch kleine Gemeinschaft zusammenhalten. Seit dieser Zeit ist die Kongregation auf über 4000 Ordensschwestern angewachsen und auf allen Kontinenten in über 40 Ländern verteilt. Die Soeurs de Saint Paul kommen jeweils auf Anfrage und meist dann, wenn niemand anderes mehr kommen möchte. Häufig sind sie den französischen Soldaten und deren Familien in der Kolonialzeit gefolgt, um sie zu pflegen und für die Bildung ihrer Kinder zu sorgen. So wurden sie angefragt, Schulen und Spitäler zu bauen und zu leiten. Doch dabei blieb es nicht. War anfangs Frankreich das Epizentrum, von dem aus sich die Gemeinschaft verbreitete, wurden es nach dem Ende der Kolonialzeit häufig andere Teile dieser Welt, von denen diese Bewegungen ausgehen. Dies liegt unter anderem daran, dass die Gemeinschaften in Asien auf eine beachtliche Grösse angewachsen sind, während die Gemeinschaften in Europa und Nordamerika schrumpfen und an Überalterung leiden.


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Autor

  • Rafaela Estermann

    Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch ||| Rafaela Estermann ist Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch. Ihre Schwerpunkte sind Nicht-Religion, Säkularität und der Diskurs über Religion und den Islam in der Schweiz. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Zürich in einem Forschungsprojekt (MORE) zum Religionsunterricht über den Islam in verschiedenen Religionsunterrichtsmodellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.