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Krishna Premarupa Dasa

Neue Technologie für eine alte Religion — Digitalisierung im Hinduismus 

Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft rasant – und sie macht auch vor hinduistischen Religionsgemeinschaften keinen Halt. Götter sind neu online, Zeremonien gibt es per Live-Stream und der Kontakt zum Guru wird im Netz hergestellt. Aber kann spirituelle Kraft über das Internet übertragen werden? Zuletzt müssen die Gefahren der Digitalisierung bedacht werden. Nur so kann sie auch im Sinne des Göttlichen eine Wirkung entfalten.

Wir leben in einer hochdigitalisierten Gesellschaft, in der wir mit Menschen aus aller Welt über Videokonferenzen kommunizieren, Freundschaften über soziale Medien pflegen und erst langsam begreifen, wie stark die Entwicklung der künstlichen Intelligenz unsere Lebensweise dauerhaft verändern wird. Die Digitalisierung macht auch vor dem religiösen Leben keinen Halt, daran besteht kein Zweifel. Wie beeinflusst diese Entwicklung die hinduistischen Gemeinschaften? Wie zeigt sich das? Und welche Auswirkungen ergeben sich daraus? Inwieweit ist die Digitalisierung ein Segen oder vielleicht doch ein Fluch? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, habe ich in meinem Umfeld nachgefragt. 

Götter haben ihren eigenen Instagram-Account

Für Raju aus Jaipur, Indien, ist der Besuch im Tempel ein wichtiger Aspekt seines Alltags. Im Zentrum eines Tempelbesuchs steht der sogenannte «darshan», was bedeutet, zu sehen oder gesehen zu werden. Gläubige kommen in den Tempel, um ihre «ista-devata», ihre verehrungswürdige Gottheit, zu sehen. Seit der junge IT-Fachmann in der Schweiz lebt, ist das schwierig geworden. Schliesslich gibt es hier nicht an jeder Strassenecke einen Hindu-Tempel.

Dank der Digitalisierung weiss sich Raju jedoch zu helfen; Seinen Govindaji (eine Form von Krishna) kann er täglich auf Instagram bewundern. Während die meisten Nutzer:innen von Instagram, Facebook & Co. sich mit ausgefallenen Selfies selbst ins Rampenlicht stellen möchten, nutzen viele Hindu-Tempel diese Plattformen, um die neuesten Bilder ihrer Gottheiten mit anderen zu teilen. Auf diese Weise können Gläubige jeden Morgen vor ihrer Arbeit ihre liebste Gottheit sehen und dadurch Inspiration für den Tag gewinnen. Viele Hindu-Götter besitzen heutzutage also ihren eigenen Instagram-Account!

Mit anderen Gläubigen aus aller Welt vernetzt

Sanjeeva’s Eltern stammen aus Sri Lanka, sie selbst ist in St. Gallen aufgewachsen und fühlt sich eher als Schweizerin. Dennoch sind ihre Kultur und Religion sehr wichtig für sie. Gerne würde sie öfter in den Krishna-Tempel nach Zürich kommen, um an den Zeremonien und Feiern teilzunehmen. Dank unserem 24-Stunden-Online-Livestream ist sie nun oft virtuell dabei; manchmal schon ab 4:30 Uhr morgens, wenn die Mönche und Tempelbewohner die ersten Sanskrit-Gebete singen und die Priester eine Arati, den hinduistischen Gottesdienst, ausführen.

Live-Stream des Krishnatempels Zürich am 20. November 2023

Für Lea aus Luzern, die die hinduistische Spiritualität durch ihre Yoga-Praxis kennengelernt hat, sind die sogenannten Sat-Sangas zu etwas sehr Zentralem geworden. Das Hören aus den heiligen Schriften in der Gemeinschaft von Heiligen oder fortgeschrittenen Spiritualisten ist ein wichtiger Aspekt der Yoga-Tradition. Während spirituell Suchende vor einigen Jahrzehnten noch monatelange Reisen nach Indien auf sich nahmen, um einen Guru zu finden, machen das Menschen wie Lea heute mit ihrem iPad vom Wohnzimmer aus. Auf den sozialen Medien findet man unzählige Gurus, die ihre Lebensweisheiten an ein Millionenpublikum weitergeben.

Die verschiedenen Apps für heilige Texte sind eine weitere Bereicherung, auf die ich nicht verzichten möchte.

Ich selbst mache ebenfalls Gebrauch von den modernen Medien und Technologien. Meine Website fungiert als digitale Visitenkarte, auf der ich meinen Blog veröffentliche. Meine Notizen halte ich auf meinem ‚reMarkable‘ fest, und wenn ich auf Reisen bin, schätze ich es sehr, meine persönliche Bibliothek von über 700 Büchern in Form meines iPads stets griffbereit zu haben. Die verschiedenen Apps für heilige Texte sind eine weitere Bereicherung, auf die ich nicht verzichten möchte. Zusätzlich schätze ich die Möglichkeit, mich mit anderen Gläubigen aus aller Welt zu vernetzen. Online-Grossveranstaltungen vermitteln mir das Gefühl, wirklich Teil einer globalen Bewegung zu sein.

Initiation per Zoom-Videokonferenz?

Sicherlich sind dies alles sehr positive Entwicklungen. Dennoch sind sich bei weitem nicht alle Hindus einig, inwieweit digitale Hilfsmittel tatsächlich einen Mehrwert bieten. Kann ein virtueller Tempelbesuch überhaupt als gleichwertig betrachtet werden? Hat das Anhören eines YouTube-Videos den gleichen Effekt auf das Bewusstsein wie das Hören eines Vortrags vor Ort?

Es gibt spannende Diskussionen zu diesen Fragen. Ein Thema, das unsere Gemeinschaft zum Beispiel beschäftigt hat, ist die Frage, ob ein spiritueller Lehrer seine Schüler per Zoom-Videokonferenz initiieren kann. Traditionell umfasst die Aufnahme eines Schülers in die Tradition eine aufwendige vedische Feuerzeremonie sowie die Übergabe von Mantren. Der Guru flüstert die heiligen Silben ins linke Ohr des Schülers. Kann dies auch per Zoom durchgeführt werden? Hängt die Übertragung der spirituellen Kraft dann von der Internetverbindung ab?

Bild: Krishnagemeinschaft während des Sommerlagers in den Bergen. Es zeigt den Aufwand einen Live- Stream zu machen, für alle diejenigen, die nicht daran teilnehmen können.

Virtuelle Pilgerreisen

Ein weiteres Thema sind Pilgerreisen. Erlange ich durch virtuelle Pilgerreisen einen ähnlichen spirituellen Nutzen, wie wenn ich tatsächlich vor Ort wäre? Auf der einen Seite ist offensichtlich, dass die direkte Erfahrung tiefere Eindrücke im Bewusstsein hinterlässt als virtuelle Erfahrungen. Wenn ich einen Tempel oder einen Pilgerort persönlich besuche, kann ich den Duft der Räucherstäbchen riechen, die zarten Blütenblätter berühren, die den Göttern dargebracht wurden, und ich habe die Gelegenheit, mich mit anderen Pilgern zu unterhalten und die köstlichen Speisen zu schmecken, die im Tempel als Prasad (Gnade Gottes) an die Besucher verteilt werden. All dies ist mir nicht möglich, wenn ich auf meinem Sofa zu Hause sitze. Eine Zeremonie in Indien unter einem Banyanbaum prägt sich einfach tiefer in das Bewusstsein ein, als wenn ich sie hier in Zürich vor dem Bildschirm meines MacBooks erlebe.

Gleichzeitig muss gesagt werden, dass die spirituelle Wirkung letztendlich vom Bewusstsein des einzelnen Praktizierenden abhängt. Ich kann mich an einem heiligen Ort im Himalaya am Ufer des Ganges befinden, aber in Gedanken ständig an meine Arbeit in Zürich denken. Andererseits kann ich in Zürich meine Arbeit verrichten und gleichzeitig im Bewusstsein an den heiligen Ort im Himalaya verweilen. In gewisser Hinsicht ist letzteres die bessere Meditation.

Gefahren der Digitalisierung: Narzissmus, Neid und Cyberkriminalität

Doch selbst wenn wir akzeptieren, dass digitale Formen der Religion theoretisch gleichwertig sein können, bleibt die Frage, ob es auch Schattenseiten gibt. Was sind die negativen Konsequenzen dieser Entwicklung? Was sind Herausforderungen und Bedenken? 

Für Kashvi aus Südindien ist es klar: Digitale Formen ihrer Praxis können die «echte» Ausübung ihrer Religion nicht ersetzen. Sie zieht es beispielsweise vor, persönlich zum Tempel zu kommen, anstatt nur den Livestream anzuschauen. Sie empfindet, dass die digitale Welt die Menschen bequem und träge macht. Zudem wird die Gesellschaft immer unpersönlicher, jeder schaut auf seinen Handybildschirm und vergisst, dass neben ihm «echte» Menschen sitzen, mit denen man auch eine Unterhaltung führen könnte.

Die gesamte Selfie-Kultur, die Selbstdarstellung mit dem Ziel, möglichst viele Follower zu gewinnen, fördert den Narzissmus und den Neid in den Menschen.

Auch ich selbst bin der digitalen Welt gegenüber immer etwas skeptisch geblieben. So gross wie der Nutzen ist, so gross sind auch ihre Gefahren. Wir sehen zum Beispiel, wie die sozialen Medien von Fehlinformationen überschwemmt werden. Es ist schwierig zu verstehen, was überhaupt noch wahr ist und was nicht. Zudem dient das Internet vielen Menschen dazu, Kritik zu üben und über andere zu lästern. Die gesamte Selfie-Kultur, die Selbstdarstellung mit dem Ziel, möglichst viele Follower zu gewinnen, fördert den Narzissmus und den Neid in den Menschen. Ganz zu schweigen von den vielen Formen des Missbrauchs, wie Cyberkriminalität. Und selbst wenn man die besten Absichten hat, ist es sehr leicht, durch die ständige Online-Präsenz abgelenkt zu werden.

Digitalisierung in den Dienst des Göttlichen stellen

Während einige Spiritualisten schnell dazu neigen, alles abzulehnen und moderne Technologie zu verteufeln, hat der Hinduismus hier einen äusserst pragmatischen Ansatz. Srila Rupa Goswami, einer der grossen Gelehrten der Gaudiya Vaishnava Bhakti-Tradition, prägte den Begriff «yukta-vairagya», was so viel wie richtige Loslösung bedeutet. Anstatt alles in der Welt als Illusion abzulehnen, soll man die Dinge in dieser Welt in Verbindung mit dem Göttlichen sehen und in dessen Dienst stellen. Es geht also um eine innere Haltung des Bewusstseins. Ein scharfes Küchenmesser kann gefährlich sein, jemand könnte es nutzen, um einen anderen Menschen zu verletzen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir keine scharfen Messer mehr verwenden. Nein, wir nutzen sie, um Gemüse zu schneiden. Ähnlich bringen die Digitalisierung und moderne Technologie viele Gefahren mit sich, aber auch grossen Nutzen. 

Insgesamt repräsentiert die Digitalisierung eine spannende Entwicklung im Hinduismus und es bleibt abzuwarten, wie sich die Verbindung von Spiritualität und Technologie in den kommenden Jahren weiterentwickeln wird. Die Herausforderung besteht darin, diese neuen Errungenschaften auf intelligente und moralisch-ethisch richtige Weise zu nutzen. Und genau hier können der Hinduismus und andere Religionen in dieser Ära der neuen Technologien eine sehr wichtige Rolle spielen.


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Autor

  • Krishna Premarupa Dasa

    Mönch im Krishna Tempel Zürich ||| Krishna Premarupa Dasa lebt seit über 20 Jahren als Mönch und Priester im Krishna Tempel Zürich. Er vertritt die Krishna-Bhakti-Tradition im Schweizerischen Dachverband für Hinduismus und ist Mitglied im erweiterten Vorstand des Zürcher Forums der Religionen.

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