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Angelika Malinar

Rituelle Unreinheit und Gender im Hinduismus

Im Hinduismus dienen Rituale der Aufrechterhaltung der sozialen und kosmischen Ordnung. Status, Alter und Geschlecht bestimmen, wer für die Durchführung von Ritualen geeignet und also «rein» ist. Da Menstruation temporär sowohl «verunreinigend» als auch «reinigend» wirkt, beeinflusst Gender den rituellen Status von Frauen.

Der Hinduismus besteht aus einer Vielfalt religiöser Gemeinschaften und Lehrtraditionen. Sie alle sind durch die gesellschaftlichen Normen und politischen Strukturen ihres jeweiligen historisch-kulturellen Kontextes geprägt. Vorstellungen von «Un-/Reinheit» bilden eine zentrale Schnittfläche zwischen Hinduismus und Gesellschaft. Im Laufe der über 3000-jährigen Religionsgeschichte wurde diese Vorstellungen jedoch zunehmend komplexer. Vielschichtigkeit und Kontextabhängigkeit von Un-/Reinheitsvorstellungen werden durch die nicht weniger komplexen und zudem regional variierenden Konstruktionen von Geschlechterverhältnissen noch gesteigert. 

In diesem Artikel stehen soziale und rituelle Kontexte von Un-/Reinheit im Hinblick auf Gender im Mittelpunkt. Hier sind die Dharmaśāstras wichtig, die klassischen Rechtstexte des Hinduismus, in denen die Gesetze und Normen (dharma) der richtigen Lebensführung beschrieben sind. In den verschiedenen Traditionen des Hinduismus gibt es noch viele weitere Deutungen von Un-/Reinheit. Auf diese gehe ich hier aber nicht weiter ein.

Erhalt der sozialen und kosmischen Ordnung

In diesen Rechtstexten wird eine «richtige», das heisst das eigene Wohl im Diesseits und Jenseits fördernde Lebensführung, an die Erfüllung der sozialen und rituellen Pflichten gebunden. Diese wiederum hängen vom sozialen Status (Kaste), dem Alter und Geschlecht einer Person ab. Die Erfüllung dieser Pflichten dient auch dem Erhalt der sozialen und kosmischen Ordnung (ebenfalls als dharma bezeichnet). Im Rahmen dieser Ordnung können sich die Menschen um das Erreichen der vier im Hinduismus gelehrten Lebensziele (Pflichterfüllung, materielles Wohlergehen, Wunscherfüllung und Erlösung) bemühen. 

Die jeweils geltenden Normen sind in den Rechtstexten unter dem Stichwort‚ «Gesetze von Kaste und Lebensphase» aufgeführt (varṇāśrama-dharma). Welcher Kaste (varṇa) man zugehört und in welcher Lebensphase (āśrama) man sich befindet, ist für die sozialen Pflichten und Rechte des Einzelnen massgeblich. Diese Normen gelten jedoch nur, wenn man die Lebenszyklusrituale (saṃskāra) durchlaufen hat, die einen Menschen zum Mitglied der sozialen Gemeinschaft, das heisst der Kastengesellschaft, machen.  

Sozialer Status und Gender bei Lebenszyklusritualen

Diese Rituale werden mit Hilfe von Mantras (rituelle Formeln) durchgeführt, die allein von Brahmanen (Kaste der Priester und Gelehrten) überliefert werden. Die Durchführung der Lebenszyklusrituale manifestiert die von den Brahmanen tradierten und interpretierten Normen und Hierarchien. So werden Männer gegenüber Frauen ebenso privilegiert wie die oberen drei Kasten gegenüber den niederen Kasten und den sogenannten «Unberührbaren». Dementsprechend erhalten nur männliche Mitglieder der oberen drei Kasten eine Initiation in den Veda, in die ältesten Ritualtexte des Hinduismus (ab ca. 1200 v. Chr.). Nur sie dürfen die «Opferschnur» tragen. 

Im gegenwärtigen Indien gibt es jedoch Reformbewegungen, in denen auch Frauen zu Veda-initiierten Priesterinnen ausgebildet werden.

Durch dieses Lebenszyklusritual werden sie befähigt, Rituale durchzuführen: entweder für sich selbst am Hausaltar oder, im Falle der Brahmanen, auch für andere. Zuerst müssen die initiierten Männer jedoch «Haushälter» werden, das heisst heiraten. Dieses Opferschnur-Ritual ist auch heute noch sehr wichtig, weil es für die Männer die Voraussetzung für ihre religiöse Rolle in der Ehe darstellt. Da Frauen, auch wenn sie der Kaste der Brahmanen angehören, von diesem Ritual ausgeschlossen sind, können sie traditionell auch nicht das Priesteramt bekleiden. 

Während des Hochzeitsrituals erfolgt jedoch eine «Kurzinitiation» der Braut in nicht-vedische Mantras. Dies berechtigt die Ehegattin, im Haus Rituale durchzuführen. Im gegenwärtigen Indien gibt es jedoch Reformbewegungen, in denen auch Frauen zu Veda-initiierten Priesterinnen ausgebildet werden. In nicht wenigen religiösen Gemeinschaften, die eigene Initiationen mit Hilfe nicht-vedischer Texte anbieten, können Frauen auch priesterliche Funktionen durchführen. Auch in der Schweiz gibt es hinduistische Priesterinnen, so zum Beispiel im Haus der Religionen in Bern.

«Rein»: «geeignet» für das Ritual

Der Ausschluss von Frauen und niederen Kasten von der Initiation in das Ritualwissen basiert auch auf Vorstellungen ritueller Un-/Reinheit, welche die sozialen Hierarchien widerspiegeln. Zugleich weisen Rituale aber auch auf sakrale Räume und ausseralltägliche Praktiken hin. Man begegnet Gott, Göttin, Gottheiten. Auffassungen von Un-/Reinheit regulieren den Zugang zu Tempel und Schreinraum, identifizieren die jeweils zugelassenen rituellen Akteure, die geeigneten Texte, Ritualutensilien und Opfergaben. Was als rein oder unrein gilt, definiert nicht ein abstraktes Konzept von «Reinheit». Vielmehr bedeutet «rein», ob eine Person oder Sache je nach Anlass, Zweck und Adressat des Rituals dafür geeignet ist.

Bern 2016 im Haus der Religionen. Foto: Martin Burkhard

Deshalb spielen «Reinigungsmittel» eine wichtige Rolle, die sogenannte pavitra, die dazu dienen, die Ritualutensilien und alle am Ritual beteiligten Personen rituell «rein» zu machen (z.B. durch Waschungen). Durch die Reinigung wird der Übergang zwischen dem «weltlich-alltäglichen» (laukika) Leben und dem ausseralltäglichen (alaukika) Kontext des Rituals gestaltet. 

Rituelle Unreinheit

Rituell unrein wird man zum Beispiel durch Verunreinigung mit körpereigenen Substanzen und in Phasen ritueller Unreinheit durch besondere Ereignisse wie Tod oder Geburt. Entsprechend muss man sich reinigen, um am Ritual teilnehmen zu können. So zählen Blut, Schweiss, Urin, Sperma, oder Nasenschleim zu den vom Körper produzierten Substanzen. Sie sind zwar lebensnotwendig, aber werden zu «Schmutz» (mala), wenn sie den Körper verlassen. Diese Substanzen verunreinigen und so soll man beispielsweise nicht am Tempel urinieren oder während der Menstruation nicht an Ritualen (und anderen sozialen Interaktionen) teilnehmen. 

Der Ausschluss von «Unreinen» vom Tempelbesuch führt immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen und auch Rechtsstreitigkeiten.

An den Tempeln wachen die (zumeist brahmanischen) Priester über die Einhaltung der Reinheitsgebote. So bieten sie im Schreinraum der Gottheit «reine», das heisst geeignete Opfergaben dar. Sie schliessen aber auch «Unreines» aus, wie etwa durch das Verbot im Tempel Schuhe und Ledergürtel zu tragen oder indem sie sogenannten «Unberührbaren» und Nicht-Hindus den Zutritt zum Tempel verweigern. 

Der Ausschluss von «Unreinen» vom Tempelbesuch führt immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen und auch Rechtsstreitigkeiten. Vor einiger Zeit erregte in Indien ein Fall der «Verunreinigung» eines Tempelschreins Aufsehen. Frauen hatten ihn betreten, obwohl ihnen der Zutritt grundsätzlich verboten ist, solange sie noch menstruieren.

Tod und Geburt als Auslöser von Unreinheit

Neben körpereigenen Substanzen lösen auch bestimmte aussergewöhnliche Ereignisse «Unreinheit» aus und führen zum zeitweiligen Verlust der «Reinheit», das heisst der rituellen und sozialen Funktionstüchtigkeit. Tod und Geburt gelten als Auslöser solcher Unreinheitsphasen, da sie durch Zuwachs oder Verlust eine Veränderung der Familienstruktur bewirken. Im Unterschied zum Tod wird eine Geburt als Glück verheissendes Ereignis angesehen. Die Unreinheit bezieht sich vor allem auf die dabei freigesetzten unreinen Substanzen wie Blut oder Schleim. 

Zwar gilt auch der verstorbene Körper als «unrein». Es geht dabei aber vor allem um die durch den Tod ausgelöste Dysfunktionalität der Familie. In beiden Fällen werden solche Phasen der Unreinheit durch entsprechende Lebenszyklusrituale begleitet, die eine reinigende Funktion haben und zudem dazu dienen, die soziale und hier spezifisch die familiäre Ordnung zu sichern. Die Unreinheit setzt im Todesfall für die Familienangehörigen ein und macht sie für alle anderen «unberührbar», das heisst für soziale Interaktionen ungeeignet. Ähnliches gilt für die Eltern bei der Geburt eines Kindes.

Unreinheit durch Menstruation

Ein spezieller Fall von Unreinheit ist die Menstruation (rajasvalā). Während sie zum einen zum Komplex der reinigenden Abfuhr vom überflüssigen Körperschmutz (mala) gehört, teilt sie auf der anderen Seite bestimmte Aspekte der zuletzt genannten temporären Verunreinigungsmomente. Denn die Frau ist während ihrer Periode «unberührbar», das heisst von alltäglichen sozialen und rituellen Aktivitäten ausgeschlossen. Das führt in der Praxis oft zu einer Tabuisierung und der Diskriminierung von Frauen. 

Andererseits signalisiert die Menstruation die Fruchtbarkeit einer Frau und ist daher positiv bewertet.

Da die Menstruation als eine zur Frau dazugehörende «Verunreinigungsphase» gilt, werden Frauen, wie in einigen anderen Religionen auch, von bestimmten Ämtern ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere für das Priesteramt und das damit verbundene Wissen. Denn durch die wiederkehrende «Dysfunktionalität» aufgrund der Menstruation können Frauen die notwendige kontinuierliche Durchführung der mit dem Amt verbundenen Aufgaben nicht garantieren. 

Andererseits signalisiert die Menstruation die Fruchtbarkeit einer Frau und ist daher positiv bewertet. Die erste Regelblutung (Menarche) und die Menopause beeinflussen deshalb auch den sozialen Status einer Frau. So wird den klassischen Rechtstexten zufolge ein Mädchen mit dem Einsetzen der Menstruation heiratsfähig. In einigen Regionen Indiens und Gemeinschaften des Hinduismus wird daher die Menarche mit einem eigenen Ritual zelebriert, das durchaus mit den klassischen Lebenszyklusritualen für junge Männer vergleichbar ist. Auch an hinduistischen Tempeln in der Schweiz wird dieses Ritual durchgeführt, und zwar als Festtag für die junge Frau. 

Weder Männer noch Frauen sind prinzipiell «rein» oder «unrein»

Die Sicht auf Menstruation ist somit ambivalent; sie ist reinigend und verunreinigend, Signum von Fruchtbarkeit und Nicht-Befruchtung. Reinheits- und Unreinheitsregeln im rituellen Kontext betreffen somit die Geschlechter gleichermassen. Weder Männer noch Frauen sind prinzipiell «rein» oder «unrein». Die rituelle Deutung der Menstruation nicht nur als situative, sondern zur Frau dazugehörenden Unreinheitsphase unterstützt jedoch patrilinear-hierarchische Interpretationen der Geschlechterrollen. Dies schränkt die rituelle und soziale Handlungsmacht von Frauen ein. 

Nicht alle hinduistischen Gemeinschaften teilen jedoch diese Interpretation und vor allem in der Gegenwart gibt es diverse Reformbewegungen, wie etwa solche für eine Ausbildung von Frauen zum Priesteramt. In vielen religiösen Traditionen des Hinduismus werden die rituellen Reinheitsgebote befolgt, auch wenn sie eigene Initiationen für ihre Mitglieder anbieten und andere Konzepte von Un-/Reinheit entwickelt haben. 

So gilt in einigen asketischen Traditionen ein rituell-meditativer Umgang mit «unreinen Substanzen» als hilfreich bei der Verwirklichung des religiösen Ziels, sich von allen weltlichen Dualitäten (auch die von rein und unrein) zu befreien. Entsprechend ist Menstruation kein Hindernis für die Beteiligung von Frauen an Ritualen; im Gegenteil. Solche Lehren bilden den Gegenpol zu den zuvor diskutierten, mehrheitlich befolgten Normen, und gehören zum Spektrum hinduistischer Konzepte von Un-/Reinheit. 


Malinar, Angelika (2007). Reinigung und Transformation von Unreinem im Hinduismus, in: Un/Reinheit: Konzepte und Erfahrungsmodi im Kulturvergleich, herausgegeben von A. Malinar & M. Vöhler, München: Fink, 19-46.

Malinar, Angelika (2009). Hinduismus. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht

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Autor

  • Angelika Malinar

    Professorin für Indologie an der Universität Zürich ||| Angelika Malinar ist Professorin für Indologie an der Universität Zürich. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist der Hinduismus in Vergangenheit und Gegenwart.

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