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Sarah Bloch

Religion und Klima-Aktivismus: Eine jüdische Perspektive

Gibt es im Judentum Gründe für meinen Klimaaktivismus oder verleitet es eher dazu, nichts zu tun und zurückzulehnen – auf Gott zu vertrauen, der dann schon über sein Volk wachen wird? Könnte meine Religion eine Ressource im Kampf gegen den Klimawandel darstellen oder ist sie eher ein Hindernis und überhaupt inkompatibel mit modernen Werten?

Mein Name ist Sarah, ich bin ein 18-jähriges jüdisches Mädchen und in der Gemeinde ICZ gross geworden. Meine Religion war schon immer ein wichtiger Teil meines Lebens. Jüdischer Kindergarten, jüdischer Religionsunterricht, jüdischer Jugendbund, überall bin ich aktiv gewesen – und das, obwohl ich nicht wirklich religiös aufgewachsen bin. Für mich persönlich sind die wichtigsten Dinge an der Religion die Kultur und die Tradition. Ohne Feiertage wie Pessach und Channukah würde ich meine Familie nur einen Bruchteil von der Zeit sehen, die wir miteinander verbringen. Aber nun gut, genug zu meiner Person.

Vor kurzem wurde mir die Aufgabe gegeben, über die Verbindung zwischen meiner Religion, dem Judentum, und der aktuellen Situation bezüglich dem Klimawandel zu schreiben. Eine bestimmte Frage hat mich seitdem besonders beschäftigt: Ist es überhaupt möglich einen Zusammenhang zwischen meiner Religion – per Definition ein «durch Lehren festgelegter Glaube» – und der Klimakrise – einer Veränderung des Klimas, die über mehrere Jahre durch Studien belegt worden ist – zu finden? Persönlich habe ich noch nie über Gemeinsamkeiten zwischen Religion und Klimaaktivismus nachgedacht. Vielleicht weil es keine Gemeinsamkeiten gibt; wahrscheinlich aber, weil ich noch nie darüber nachdenken musste. Nun ja, einmal ist immer das erste Mal.

Der Shomer und die Ökologie

Seit 2016 bin ich aktiv in der Jugendbewegung Hashomer Hatzair, kurz Shomer. Dieser Jugendorganisation, der ich mich zugehörig fühle, ist es extrem wichtig, auf das Klima und die Umwelt zu achten. Diese Vorsätze haben den Ursprung in unserer Ideologie. Grob erklärt ist diese Ideologie auf drei Säulen aufgebaut: Sozialismus, Zionismus und säkulares Judentum. In der Tora, dem jüdischen Gesetzbuch, sind 10 Dibrot niedergeschrieben. Analog gibt es 10 Dibrot für den Shomer. Die siebte lautet wie folgt: «Der Schomer respektiert die Natur, sie ist ihm/ihr wichtig; er lernt sie kennen, lernt in ihr zu leben und handelt nachhaltig». Dieser Satz ist seit der Gründung meines Jugendbundes im Jahre 1913 ein fester und wichtiger Bestandteil des Lebens aller Shomrim:ot – aller, die Teil dieser Shomer-Familie sind. In der Tora steht aber auch, dass Gott den Menschen nahm und ihn in den Garten Eden setzte, dass er ihn bebaue und bewache. Weil das Judentum ein wichtiger Teil der Ideologie ist, war der Gedanke der Gründer des Hashomer Hatzairs von Beginn an, dass wir Shomrim:ot in der Natur leben und diese geniessen dürfen, es aber eine Symbiose sein soll – niemand verletzt den anderen und man trägt sich gegenseitig Sorge. Bis heute wurde dieser Gedanke mitgetragen. In der heutigen Zeit soll nach diesem alten Vorsatz nun darauf geachtet werden, die Ressourcen nicht zu überstrapazieren, denn dann wäre es keine Symbiose mehr und die Natur würde zugrunde gehen. Aus dem Grund, dass wir auch heute noch die Natur zu schätzen wissen, sind Waldprogramme und Zofiut ein fester Bestandteil unseres Jahresplanes. Was ist Zofiut? Zofiut bedeutet auf Deutsch übersetzt Pfadfinder. Der Tagesplan lautet demnach Aktivitäten im Wald, Kochen auf dem Lagerfeuer und Schlafen im Zelt.

Mein Interesse und Aktivismus bezüglich unserer Klimakrise kommt nicht direkt durch die Religion, aber ich kann mit meinen Ideen und Vorhaben einen für mich wichtigen Teil des Judentums beeinflussen, den Shomer.

2019 wurde ich im Shomer Bogeret und Madricha. Als Bogrim:ot werden alle Leiter:innen bezeichnet, als Madrichim:ot alle Leiter:innen, die zusätzlich noch für eine Kwutza (Altersgruppe) verantwortlich sind. Durch meine dadurch entstandenen Aufgaben als Vorbildfunktion kam ich nicht darum herum, mich mit unzähligen Fragen bezüglich unseres Klimas zu beschäftigen: Wie leben wir im Shomer klimafreundlich? Wie machen wir das Machane (Jugendlager) komplett vegetarisch? Was für Programme müssen geplant werden, damit unsere Chanichim:ot – Kinder – möglichst viel Natur geniessen können? Wie können wir uns aktiv an der Klimabewegung beteiligen? Mein Interesse und meine Aktivismus bezüglich unserer Klimakrise kommen nicht direkt durch die Religion, aber ich kann mit meinen Ideen und Vorhaben einen für mich wichtigen Teil des Judentums beeinflussen, den Shomer.

Diskussionen über Gott und die Welt

Nicht nur in meinem Jugendbund kann ich auf Grund meiner Religion andere Menschen zum Nachdenken anregen, auch bei mir zu Hause ist dies möglich. Alle meine Grosseltern sind weitaus religiöser als ich. Diskussionen über Gott und die Welt finden am Esstisch nicht selten statt. Die Erziehung, die ich sowohl bei meinen Eltern, als auch im Shomer erfahren habe, hat, so denke ich, einen gemeinsamen Grundsatz: Kritisches Denken. Von meinem Elternhaus mitgenommen habe ich die absolute Offenheit gegenüber allem und jedem. Niemand ist weniger oder mehr wert als jemand anderes. Gibt es Menschen, die dem widersprechen und dich vom Gegenteil zu überzeugen versuchen, musst du kritisch nachfragen und zum Schluss kommen, dass dies nicht stimmen kann. Das kritische Denken, welches ich von der Erziehung im Jugendbund kenne, ist wiederum ein Teil der 10 Dibrot. Die achte Dibra lautet nämlich: «Der Schomer ist mutig, unabhängig, denkt kritisch und handelt dementsprechend». Weiss man in der Biologiestunde die Antwort auf eine Frage nicht, ist der Satz «Das Mitochondrium ist das Powerhaus der Zelle» bestimmt nicht falsch; weiss man im Shomer die Antwort auf eine Frage nicht, ist der Begriff «Kritisches Denken» bestimmt nicht falsch.

«Falls unsere Welt wirklich untergehen sollte, aufgrund zu starker Klimaveränderung, dann soll das so sein, Gott wird es schon richten.»

Durch dieses konstante Hinterfragen aller mir vorgelegten Fakten, ist es nicht unüblich, dass sich so manche Konfrontationen mit meinen Grosseltern ereignen. Konfrontationen über die Tora, über das Judentum selbst, oder über heutzutage wichtig gewordene Werte – ein Beispiel: Der Klima-Aktivismus. «In der Tora steht, dass Gott die Welt inklusive uns Menschen innerhalb von sieben Tagen erschaffen hat. Jeder Baum, jedes Stückchen Erde, jedes Kleeblatt ist für uns Menschen kreiert worden. Jeder Baum, jedes Stückchen Erde, jedes Kleeblatt darf daher auch von uns Menschen gebraucht werden, – denn wofür gibt es Ressourcen, wenn nicht zum Verbrauchen?». Eine Aussage, die ich bereits von einigen jüdischen Menschen gehört habe. Nicht nur diese Ansicht bezüglich Umwelt, Ressourcenknappheit und Erderwärmung kenne ich. Der Gedanke «Falls unsere Welt wirklich untergehen sollte, aufgrund zu starker Klimaveränderung, dann soll das so sein, Gott wird es schon richten» ist mir auch nicht fremd. Auf solche Aussagen bin ich gar nicht gut zu sprechen. Warum nehmen wir uns heraus unserem zu Hause – der Welt – nicht Sorge zu tragen, nur weil es vielleicht einen Gott gibt, der über uns schaut und darauf achtet, dass es uns gut geht? Schliesslich schaut Hashem im Himmel auf uns herab. Wenn es also etwas so Übergeordnetes gibt, warum dann nicht beweisen, dass wir als Menschheit die Erde, so wie sie für uns geschaffen wurde, verdient haben? Warum nicht beweisen, dass wir den uns zugetrauten Ressourcen Sorge tragen können und es keine Fehlentscheidung war, die Welt zu erschaffen?

Das Problem: Radikales Denken

Ich bin eine Person, die radikales Denken nicht versteht. Ganz egal ob rechts- oder linksradikal, lässt man sich nicht belehren und ist man nicht bereit dazu über seine Ansichten zu diskutieren und diese auch kritisch zu hinterfragen – wohin führt dann dies alles? Wie lange gäbe es die Welt noch – ginge sie nicht schon bald wegen dem zu Grunde gehenden Klima unter – würde sie ausschliesslich radikales Denken beinhalten? Meiner Meinung nach nicht lange. Die meisten Religionen verkörpern für mich ziemlich radikales Denken, da es auf mich wirkt, als wenn das Prinzip beinahe jeder Religion, die konservativ ausgelebt wird, das blinde Befolgen aller im Gesetzbuch stehenden Regeln ist. Die einen essen Kühe – sofern sie richtig getötet wurden – bei den anderen sind die Kühe heilig. Niemals, auch nicht in hunderten von Jahren, werden plötzlich überall Kühe heilig sein und umgekehrt. Niemals also, auch nicht in hunderten von Jahren, werden alle Religionen der Welt einen gemeinsamen Nenner finden.

Der Umgang mit Tieren spielt in allen Religionen eine Rolle. Im Zusammenhang mit der Klimadebatte wird vor allem der Fleischkonsum thematisiert.  Im Bild: Kurdischer Ziegenhirte im Bündner «Gaissa-Projekt». © Vera Rüttimann
Der Umgang mit Tieren spielt in allen Religionen eine Rolle. Im Zusammenhang mit der Klimadebatte wird vor allem der Fleischkonsum thematisiert. Im Bild: Kurdischer Ziegenhirte im Bündner «Gaissa-Projekt». © Vera Rüttimann

Religion und Modernität? Ich habe da manchmal meine Zweifel.

Das Problem: Radikales Denken. Extrem religiöse und konservative Menschen denken radikal, was dazu führt, dass zum Beispiel die christliche Bibel im Judentum als nicht wirklich korrekt gilt und umgekehrt die jüdische Auslegung der Tora konservativen Christen ein Dorn im Auge ist. Radikal Denkende lassen sich von ihrer in Stein gemeisselten Meinung nicht abbringen. Religionen beruhen auf Traditionen und Überlieferungen, weshalb einige ihrer Elemente über Jahrhunderte, teilweise gar Jahrtausende bestehen bleiben. Selbst wenn sich die Umwelt verändert und die Menschen einer Religion sich dem neuen Jahrhundert anpassen, in der Art und Weise wie sie sich kleiden oder wie sie sprechen, verändert sich, so denke ich, die Religion an sich kaum. An Pessach, dem jüdischen Fest, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, wird bis zum heutigen Tag noch Matze gegessen, um nicht zu vergessen, dass unsere Vorfahren vor 4000 Jahren beim Aufbruch keine Zeit hatten, das Brot säuern zu lassen. Religion und Modernität? Ich habe da manchmal meine Zweifel.

Religion und Klimabewusstsein: Hand in Hand in Richtung grüne Zukunft?

Und doch finde ich genau diesen Aspekt, dass der Glaube aller sich derselben Religion zugehörig Fühlenden – ob orthodox oder säkular – auf denselben Grundlagen aufbaut, könnte man in eine andere Richtung lenken. In eine Richtung, die einen positiven Einfluss auf unsere Umweltkatastrophe haben kann. Religionen gibt es auf der ganzen Welt, in allen Ländern und Städten. Beinahe jeder Mensch ist in eine Religion hineingeboren – ob er oder sie diese Religion auch auslebt, ist eine andere Sache. Religionen sind Weltbewegungen. Religiöse Menschen schauen oft über den Tellerrand der Wissenschaften hinweg. Sie lassen sich komplett auf ihr Gesetzbuch oder etwas Übergeordnetes ein und glauben an höhere Mächte. Mächte ausserhalb unserer kleinen Erdkugel. Würde man Religionen auf der gesamten Welt mit dem herrschenden Klima-Aktivismus in Verbindung bringen, könnte dies einen riesen Erfolg bezüglich Klimabewusstsein bedeuten.

Würde als Beispiel in meiner Religion, dem Judentum, eine Bewegung starten, die gegen Fleisch am Shabbes ist, wer weiss wohin dies führen würde? Als Shabbes oder Shabbat werden der Freitagabend sowie der ganze Samstag bezeichnet. Es ist der Ruhetag im Judentum. Hashem hat es in sechs Tagen vollbracht, die Welt zu erschaffen, am siebten Tag soll der Mensch ruhen. Weil dieser Ruhetag etwas Besonderes ist und Fleisch als edel gilt – drei Mal raten, was zum Abendessen vorgesetzt wird. Würde diese fiktive jüdische Vegi-Bewegung wirklich etwas auslösen können und bewirken, dass die meisten jüdischen Leute auf Fleisch am Freitagabend verzichten, der Effekt wäre sicherlich spürbar. Begründet werden könnte der Umschwung damit, dass es um einiges edlere und vornehmere Dinge zu essen gibt, als Fleisch. Früchte sind in einem gewöhnlichen Supermarkt meist teurer als Fleisch, Vegi-Optionen sowieso. Und wenn es bei einer Familie nicht auf das Vornehme ankommt, wieso keinen einfachen Kochabend mit der gesamten Familie, so dass auch alle Kinder etwas zu tun haben?

Jeder kann den Anfang wagen – auch ich….

Menschen sind Gewohnheitstiere. Aus meiner Perspektive sind die allermeisten auf dieser Welt schlichtweg zu faul, um etwas an ihren Lebensgewohnheiten zu ändern. Es verbraucht extrem viel Energie, mit Freunden oder Familienmitgliedern zu diskutieren, die einfach «ihr Leben geniessen wollen» und deswegen keinen Sinn darin sehen, auf bestimmte Dinge wie Fleisch und Fisch, Fliegen oder Shopping zu verzichten. Wie schlecht es unserer Welt geht, ist schliesslich das Problem der nächsten Generation.

Meine Religion ist das Judentum und ich werde nicht aufgeben.

Obwohl ich mich zum Teil derart aufrege, mit gewissen Menschen zu diskutieren, werde ich bestimmt nicht damit aufhören und auf meinen Mund sitzen. Ich sehe ein grosses Potential in allen Weltreligionen, jeweils einen Zusammenschluss zu gründen, um die eigene Religion entsprechend dem Jahre 2021 nützlich zu machen, in Anbetracht unserer selbstverschuldeten Klimakatastrophe. Jede Bewegung beginnt mit einer einzigen Person. Ein Mensch mit der richtigen Einstellung genügt um zu beginnen. Zu beginnen, unsere Welt wieder auf den richtigen Pfad zu führen. Jeder kann den Anfang wagen, auch ich. Meine Religion ist das Judentum und ich werde nicht aufgeben.


Sarah Rafaela Bloch hat ihre Matur 2021 absolviert und studiert seither Medizin an der Universität Zürich. Sie ist Teil des Hashomer (Jüdischer Jugendverband) in Zürich.

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