Verschwörungstheorien
Rafaela Estermann

Verschwörungstheorien – Fake News oder Verheissung?

Sind Verschwörungstheorien eine neue Form von Religion? Und Verschwörungstheoretiker Fanatiker, die blind glauben? Gerade im Kontext der Coronapandemie werden oft Verbindungen zwischen Religionen und Verschwörungstheorien hergestellt. Darin zeigt sich auch, welches Bild von Religion in unserer Gesellschaft verbreitet ist. Was steckt hinter diesen Vorurteilen?

Immer wieder werden Vergleiche zwischen Verschwörungstheorien und Religion gezogen. Dabei wird jedoch selten Erhellendes zu diesem Thema diskutiert. Denn die oben gestellten Fragen zeigen vor allem eines: wie in unserer Gesellschaft über Religion nachgedacht wird. 

Verschwörungstheoretiker, psychisch kranke und religiöse Personen werden gerne in dieselbe Ecke gestellt. Viele Menschen sind davon überzeugt, dass religiöse Weltbilder überholt sind. Nur ein rückständiger, eher ungebildeter Geist kann Jahrtausende alten Texten solche Bedeutung zumessen – oder an etwas glauben, das sich der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit entzieht.

Verschwörungstheorien haben Tradition

Aber ist es tatsächlich so einfach? Die Beziehung von Religion und Verschwörungstheorien ist komplex und vielschichtig. Nicht selten sind antisemitische Narrative in Verschwörungstheorien eingewoben. Gerade in jihadistischen Kreisen spielen solche antisemitischen Erzählungen wie über die «Weisen von Zion» eine wichtige Rolle als Trigger zur Radikalisierung. Ihren Kampf gegen den Westen und Israel gründen sie unter anderem auf die Annahme einer grossen Verschwörung gegen den Islam und die Ummah. Auch in der Geschichte der christlichen Kirche lassen sich Beispiele für Verfolgungen finden, die sich durch die Annahme von Verschwörungen legitimieren liessen. Neben dem Antijudaismus zählt dazu auch die Hexenverfolgung. 

Von Hexenverfolgern zu Coronaleugnern

Im Zeitalter der Coronapandemie hat die Verbreitung von Verschwörungstheorien wieder zugenommen. Hier finden wir nicht zuletzt Argumente von Naturheilpraktiker:innen und Esoteriker:innen, welche die Wissenschaft und die Schulmedizin in Zweifel ziehen, um sich gegen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu wehren – oder gar die Existenz des Coronavirus zu bestreiten. Aufgrund des Glaubens an «unwissenschaftliche» Annahmen werden Verschwörungstheorien allzu oft in einen Topf mit Religionen geworfen. Als Resultat werden Verschwörungstheoretiker im gleichen Zug wie religiöse Menschen als Spinner diffamiert.

Lehrt uns die Geschichte, dass religiöse Menschen anfälliger für Verschwörungstheorien sind? Besteht eine Beziehung zwischen einem Glauben an Gott und einem Glauben an Verschwörungstheorien? 

© Vera Rüttimann

Ein stereotypes Bild von Religion

Der moderne Mensch sei nicht religiös. Durch die Aufklärung habe er sich von primitiven religiösen Weltanschauungen lösen können. Dies ist eine weit verbreitete Meinung in Europa wie Casanova in seinem Buch Europas Angst vor der Religion schreibt. Das Verschwinden von Religion wird in dem Sinn als universeller zielgerichteter Prozess der menschlichen Entwicklung aufgefasst – weg von einem primitiven irrationalen religiösen Zustand hin zu einem aufgeklärten, rationalen, modernen und damit nicht-religiösen Bewusstsein. Aus dieser Perspektive bedeutet keiner Religion anzugehören frei, eigenständig, rational und autonom denken und handeln zu können. Religiöse Menschen sind das negative Gegenbild dazu: Sie werden als unfrei, beeinflusst und nicht rational wahrgenommen.

Auch in der Schweiz sehen viele Befragte Religion als Ursache von Konflikten und religiöse Menschen als intoleranter als andere.

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Schweiz: Religionskritik ist weit verbreitet. Jörg Stolz, Religionssoziologe an der Universität Lausanne, spricht sogar von einer «Rückkehr der Religionskritik». Auch in der Schweiz sehen viele Befragte Religion als Ursache von Konflikten und religiöse Menschen als intoleranter als andere. Religion werde instrumentalisiert, um sich Macht anzueignen, Menschen negativ zu beeinflussen sowie Gewalt und Kriege zu entfachen. Gerne wird Religion reduziert auf das Moment des «Vertrauens in etwas Unbeweisbares». Wird das Bild von Religion nicht stereotyp negativ gezeichnet, stellt es sich häufig auch stereotyp positiv dar. Religion gebe Halt, Kraft und Trost in schwierigen Situationen und biete einfache Antworten auf (zu) komplexe Sachverhalte. 

Dieses Bild von Religion und religiösen Menschen ist sehr vereinfacht, unterkomplex und entspricht oft einer Sichtweise von Personen, die selbst nur wenig Bezug zu Religion und religiösen Menschen haben. Und dieses Bild ist es, das nun dazu verleitet, Ähnlichkeiten zwischen Religion und Verschwörungstheorien bzw. zwischen religiösen Menschen und Verschwörungsgläubigen zu sehen.  

Delegitimieren und Diffamieren

Der Glaube an Reptiloiden, Indigo-Seelen, die Weisen von Zion oder Pizza Gate erscheint absurd, fantastisch und teilweise auch extrem unplausibel für viele Menschen. Entsprechend ist der Begriff der Verschwörungstheorie negativ besetzt. Matthias Eder schreibt: «Eine Aussage als Verschwörungstheorie zu bezeichnen, bedeutet zumeist auch, ihr jeglichen Wahrheitsgehalt abzusprechen und so die Position des Gegenübers zu delegitimieren.» Dasselbe trifft auf Religion zu. Eine Bewegung als religiös oder quasi-religiös zu bezeichnen, dient ebenfalls häufig dazu, sie unglaubwürdig zu machen und sie zu delegitimieren, wie dies Michael Rosenberger in Bezug zur Klimabewegung ausführt. Die Parallele zwischen der diffamierten Bewegung zu religiösen Menschen wird meist in der rückständigen, unaufgeklärten, unvernünftigen Art des Denkens gesehen, das religiösen Menschen unterstellt wird. Es handelt sich also um dieselbe Parallele, die auch jetzt zwischen religiösen Menschen und Verschwörungsgläubigen vermutet wird. 

«Der religiöse Mensch»

Dabei wäre es wichtig, dieses Bild von Religion und religiösen Menschen, aber auch das Gegenbild des nicht-religiösen Menschen zu hinterfragen und empirisch zu überprüfen. Wer sind religiöse Menschen heute in der Schweiz? Wie homogen oder heterogen ist diese Gruppe? Sollten wir überhaupt von «den religiösen Menschen» sprechen oder ist dies angesichts der enormen Diversität unangebracht? Wen genau vergleichen wir, wenn wir «die religiösen Menschen» «den nicht-religiösen Menschen» gegenüberstellen? Ab wann ist jemand nicht-religiös? Sind auch nicht-religiöse Menschen gläubig? Oder glaubt ein nicht-religiöser Mensch tatsächlich an nichts?

Dieses Bild ist problematisch, weil daraus häufig ein Überlegenheitsgefühl resultiert und solche Überlegenheitsgefühle Tür und Tor dafür öffnen, Handlungen gegen «die Unterlegenen» zu legitimieren. 

Wer sich diesen Fragen widmet, merkt schnell wie stark überzeichnet das oben skizzierte Bild von Religion und religiösen Menschen ist und wie unreflektiert «Unglaube» mit einer «neutralen» Sicht der Welt gleichgesetzt wird. Dieses Bild ist problematisch, weil daraus häufig ein Überlegenheitsgefühl resultiert und solche Überlegenheitsgefühle Tür und Tor dafür öffnen, Handlungen gegen «die Unterlegenen» zu legitimieren. 

Angesichts der Coronapandemie wurden Verschwörungsmythen zu einem grossen gesellschaftlichen Phänomen. In der Hilflosigkeit, dafür Erklärungen zu finden, wurden Analogien zu anderem, «schon bekanntem menschlichem Verhalten» gezogen, in dem man ähnliche Muster zu sehen glaubte. Doch was verglichen wurde, verrät mehr darüber, welches Bild von Religion und religiösen Menschen in dieser Gesellschaft verbreitet ist, als dass es uns Erklärungen für das Phänomen der Verschwörungstheorien liefert. Es empfiehlt sich, hier nochmals einen Schritt zurückzugehen und sich zu überlegen, was oder wer hier genau verglichen wird, wenn man danach fragt, ob religiöse Menschen empfänglicher für Verschwörungstheorien sind. 


Literaturempfehlungen:

Asad, Talal (2017). Ordnungen des Säkularen: Christentum, Islam, Moderne. Konstanz: Konstanz University Press. 

Casanova, José (2009). Europas Angst vor der Religion. Berlin University Press.

Casanova, José (2009). «The Secular and Secularisms». In: Social Research 76.4, S. 1049–1066. 

Lee, Lois (2015). Recognizing the non-religious: reimagining the secular. First edition. Oxford: Oxford University Press.

Stolz u.a. (2014). Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft: Vier Gestalten des (Un-)Glaubens. Zürich: Theologischer Verlag Zürich.

Taylor, Charles (2007). A Secular Age. Cambridge, Massachusetts und London: The Belknap Press of Harvard University Press. 

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Autor

  • Rafaela Estermann

    Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch ||| Rafaela Estermann ist Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch. Ihre Schwerpunkte sind Nicht-Religion, Säkularität und der Diskurs über Religion und den Islam in der Schweiz. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Zürich in einem Forschungsprojekt (MORE) zum Religionsunterricht über den Islam in verschiedenen Religionsunterrichtsmodellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.

0 Gedanken zu „Verschwörungstheorien – Fake News oder Verheissung?

  • Christian B. Schäffler sagt:

    Sie schreiben: „Im Zeitalter der Coronapandemie hat die Verbreitung von Verschwörungstheorien wieder zugenommen. Hier finden wir nicht zuletzt Argumente von Naturheilpraktiker:innen und Esoteriker:innen, welche die Wissenschaft und die Schulmedizin in Zweifel ziehen (…)“
    Glauben Sie im Ernst, dass nur „Naturheilpraktiker:innen und Esoteriker:innen“ die Wissenschaft und die Schulmedizin in Zweifel ziehen?
    Die Coronapandemie hat erstaunlich rasch offen gelegt, dass die „Wissenschaft“ über ein breites Spektrum von professioneller Aussagen verfügt, die sehr widersprüchlich sind. Deren Widersprüche werden aber bis heute kaum diskutiert, erforscht und für die Gesellschaft verständlich bekannt gemacht. Die Praxis zeigt leider unmissverständlich, dass wissenschaftliche Erkenntnisse , Ergebnisse und Meinungen welche sich gegen den „unbewiesenen“ Mainstream sprechen zu „Verschwörungstheorien“ werden. Ganz ohne Beteiligung von Religion.

    • Rafaela Estermann sagt:

      Vielen Dank für Ihren Kommentar.
      In dem von mir zitierten Satze steht bewusst kein „nur“. Im Satz kommt keine Generalisierung vor. Das heisst, die Aussage des Satzes ist nicht, dass NUR Naturheilpraktiker:innen und Esoteriker:innen die Wissenschaft und Schulmedizin in Zweifel ziehen.

      Wie Sie richtig schreiben, ist es in der Wissenschaft nicht üblich, dass alle dieselbe Meinung vertreten. Ich sehe das allerdings nicht als „Offenlegung“ von etwas, was bisher nicht bekannt war. Die Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass diskutiert und Stellung bezogen wird. Leider ist dieser Diskussion bis zur Pandemie medial nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, weshalb ausserhalb der Wissenschaft schnell der Eindruck entstehen konnte, dass es jeweils nur eine Meinung zu einem Thema gibt. Dies ist und war aber nie der Fall. Wissenschaft ist immer mit einer erheblichen Unsicherheit verbunden. Daran muss man sich als Wissenschaftler:in gewöhnen und nun, da diese Diskussion von der breiten Bevölkerung miterlebt wurde, muss man sich wohl auch ausserhalb der Wissenschaft mit der Unischerheit anfreunden lernen. Ich stimme Ihnen also nicht zu, dass die Widersprüche nicht diskutiert werden, aber ich stimme Ihnen zu, dass diese Diskussion einem nicht-wissenschaftlichen Publikum besser verständlich gemacht werden sollte. Solange mit wissenschaftlichen Standards gearbeitet wird, werden die Ergebnisse der Untersuchungen auch diskutiert.

      In meinem Artikel geht es weniger um Verschwörungsmythen, sondern mehr darum, weshalb möglicherweise in einem gewissen Teil der Bevölkerung gerne Vergleiche zwischen Verschwörungserzählungen und Religion gezogen werden.

  • Alice Stohler sagt:

    Ich habe eben den Artikel in Horizonte Nr. 7/8 Seite 6, über Verschwörungstheorien mit grossem Interesse gelesen. Die Redaktion hat mich an Sie, Frau Estermann verwiesen.

    Beim Lesen ist bei mir ein Passus „hängen geblieben“:
    „Neue Hexenverfolger. ….Hierbei finden sich nicht zuletzt Argumente von Naturheilpraktikern und Esoterikern, welche die Wissenschaft und die Schulmedizin in Zweifel ziehen, um sich gegen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu wehren oder überhaupt die Existenz des Coronavirus zu bestreiten. ….“ Zitatende.

    Wie soll ich das verstehen? Die Wissenschaft ist eine Materie im steten Wandel, die Schulmedizin ist Teil davon. Wissenschaftliche Errungenschaften müssen deshalb offen sein für kritische Anschauung, sonst werden sie zu Dogmatik. Ich bin selber Wissenschaftlerin und bitte Sie mir zu erklären, wie obiges Zitat zu verstehen ist.

    Noch zu „Neue Hexenverfolger“. Auch das ist für mich verwirrlich. In der Vergangenheit waren diese immer auf der Seite der Mächtigen, derer, die das Sagen hatten. Meinen Sie nach diesem Sachverhalt hiermit das BAG?

    Ich habe gerade noch Ihre Antwort auf den Kommentar von Herrn Schäffler gelesen. Als gestandene Wissenschaftlerin (ü 60) muss ich Ihnen leider sagen, dass ich in Wissenschaftskreisen nicht überall so heere Zustände antreffe. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass nach Ihrer Einschätzung der Bevölkerung ohne Fachstudium nicht oder wenig Bescheid weiss. Das erlebe ich ganz anders. Die heutigen Medien machen es möglich. Interessierte Leute ausserhalb der Bildungsinstitutionen sind sehr gut informiert (interdisziplinär manchmal noch besser als Fachleute) und können oft mit bereichernden Anschauungen aufwarten. So man sie denn hören will.

    Ich erwarte mit grossem Interesse Ihre Stellungnahme.

    • Rafaela Estermann sagt:

      Vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihr Interesse.

      Auf jeden Fall soll die Wissenschaft kritischer Anschauung unterzogen werden. Damit war nicht gemeint, dass die Wissenschaft nicht kritisiert werden soll. Mit dieser Aussage sollte lediglich auf Argumente aus esoterischen Kreisen verwiesen werden, die in der Coronapandemie einen Bezug zu Verschwörungsmythen hatten. Dazu finden Sie auf religion.ch übrigens auch einen spannenden Podcast von Christoph Stapfer mit Prof. Jens Schlieter.

      Nein, ich meine nicht das BAG. Ja, das ist durchaus eine interessante Frage: Wie ist Macht in einer Gesellschaft verteilt? Ich würde Macht nicht unbedingt nur auf Seiten der Behörden verorten. Macht ist in einer Gesellschaft wie in der Schweiz wahrscheinlich eher zwischen allen Menschen zu sehen. Jeder Mensch, der das Handlungsfeld von anderen beeinflusst oder zu beeinflussen versucht, übt Macht aus (siehe dazu auch Foucault). Deshalb würde ich heute, in dieser Gesellschaft nicht eine solche Grenze zwischen „Mächtigen“ und „Unterdrückten“ ziehen und entsprechend „Hexenverfolger“ auch nicht auf einer „Seite“ verorten.

      Natürlich möchte ich niemandem unterstellen, dass er oder sie nicht Bescheid weiss. Diese Aussage war explizit auf das Erstaunen von Herrn Schäffler über die Widersprüchlichkeit von wissenschaftlichen Meinungen bezogen.

      Ich hoffe, ich konnte Ihre Fragen beantworten. Ansonsten dürfen Sie mir geren auch an redaktion@religion.ch schreiben.

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