Rafaela Estermann

Was ist Religion? Eine Idee für den Interreligiösen Dialog

Zusammenfassung – In der Schweiz haben viele ein statisches Bild von Religion. Man glaubt, Religion sei «das Christentum», «der Islam» oder «der Hinduismus» und diese Gebilde würden sich nie verändern. Diese Vorstellung von Religion führt zu Vorurteilen und Irritationen in der Begegnung von Menschen. Deshalb soll auf «religion.ch» demgegenüber das Individuum und der je individuelle Zugang zur Welt im Zentrum stehen. Wir sprechen von religiösen und nicht-religiösen «Weltzugängen». Denn nicht jeder und jede ist religiös, einen Weltzugang haben aber alle. Ein Weltzugang ist dann religiös, wenn er irgendeine Form von Transzendenz beinhaltet, also einen Gott, Götter und Göttinnen, Geister oder sonstige höhere Mächte und Energien. Der eigene Weltzugang ist grösstenteils unbewusst. Was den Menschen bewusst ist, darüber streiten sie. Über mächtige Positionen in der Gesellschaft entscheidet sich, welcher Weltzugang für allgemeingültig erklärt wird. An diesem Weltzugang wird dann zum Beispiel in der Theologie gemeinsam gearbeitet und er wird institutionalisiert. Das heisst, dass er sich in Gesetzen, Schulbüchern oder den Strukturen der Verwaltung wiederfindet. Was wir als «Christentum» oder «Islam» bezeichnen, sind systematisierte Weltzugänge. Sie wurden also in der Vergangenheit als allgemeingültig erklärt, weshalb dann Standards gesetzt werden mussten. Es musste also definiert werden, was genau davon allgemeingültig ist. Jeder Mensch hat jedoch seine eigene individuelle «Konfiguration» in seinem Weltzugang. Aus diesem Grund stehen auf «religion.ch» nicht Religionen, sondern Menschen und ihre Perspektiven auf die Welt im Zentrum. Dies ist ein Beitrag von Rafaela Estermann, die basierend auf ihren Erfahrungen im interreligiösen Dialog und vor dem Hintergrund der Religionswissenschaft den Begriff des «Weltzugangs» weiterentwickelt hat.

Die meisten von uns meinen zu wissen, was Religion sei. Bei genauerer Betrachtung muss man jedoch feststellen, dass es keineswegs klar ist. Denn was «Religion» oder «religiös» ist, ist Gegenstand einer wissenschaftlichen, medialen, aber auch ganz alltäglichen Debatte. Sind Atheist:innen insgeheim religiös? Sind «Sekten» Religionen? Sind Umweltbewegungen religiös? Ist Politik auch Religion oder doch etwas ganz anderes? Wenn ich an Gott oder etwas Höheres glaube, mich aber keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühle, bin ich dann religiös oder einfach nur gläubig oder spirituell? 

Wahrnehmung von «Religion» in der Schweiz

Fragen wir einzelne Menschen nach ihrer Wahrnehmung von «Religion», kommen ganz unterschiedliche Antworten. Es sind aber durchaus Tendenzen in der Wahrnehmung zu sehen. Religionen werden in der Schweiz häufig als «Glaubensvorstellungen» wahrgenommen, die einen universellen Wahrheitsanspruch haben. Damit einher geht bei vielen auch die Vorstellung, dass Vorschriften, Regeln und Normen, die befolgt werden, ohne sie zu hinterfragen, für Religionen charakteristisch seien.

Wenn «etwas» dazu Ähnlichkeiten zeigt, wird es häufig mit «Religion» verglichen. So fällt in Diskussionen nicht selten das Votum: «Die sind so extrem, das hat schon fast etwas Religiöses!». Religiös zu sein, steht für viele also im Zusammenhang mit Extremem, Absolutem und Striktem. Aber natürlich wird «Religion» nicht nur negativ gesehen. Auch positive Aspekte werden erkannt: Religion könne Menschen helfen, eine Stütze in schwierigen Lebenssituationen sein, den Horizont erweitern, Gemeinschaft fördern und so weiter. 

Allgemein ist zu beobachten, dass religiös zu sein, eher negativ konnotiert ist.

Allgemein ist zu beobachten, dass religiös zu sein, eher negativ konnotiert ist. Einige schämen sich zuzugeben, dass sie religiös sind, andere suchen aktiv nach anderen Begriffen, um sich von dem, was sie als «Religion» begreifen, abzugrenzen. Viele sagen deshalb, sie seien gläubig oder spirituell, aber eben nicht religiös.

Immer wieder fehlen auch die Worte. Begriffe wie Atheismus oder Agnostizismus werden nur von wenigen verwendet. Eher wird eine Umschreibung gebraucht: «Ich kann mir vorstellen, dass es etwas Höheres gibt, aber ich bin keiner Religion zugehörig.» Im Leben dieser Menschen spielt «das Höhere», das sie sich vorstellen können, jedoch häufig keine Rolle. Viel angesehener ist es, die Wissenschaft als Grundlage des eigenen Weltbildes zu erküren. 

«Religion» wird ausserdem häufig nur in Unabhängigkeit von Menschen betrachtet. Aus dieser Perspektive gibt es dann «das Christentum», «den Islam», «das Judentum», «den Hinduismus». Religionen können gemäss diesem Verständnis «an sich gut» oder «an sich schlecht» sein. Eine häufige Aussage ist dann, dass «die Religion» ja schon gut sei, aber die Menschen sie beschmutzen würden. 

Dies ist eine sehr vereinfachte Darstellung eines weit verbreiteten Religionsverständnisses in der Schweiz. Religion wird als etwas vom Menschen Unabhängiges verstanden, das irgendwo in einem platonischen Ideenhimmel existiert und sich nicht weiterentwickelt. Beim Christentum ist das Bild ein bisschen differenzierter als bei den anderen Religionen. Die Bandbreite der Diversität ist nicht bewusst. Es wird eher von der Institution oder Organisationsform her gedacht. Zu unterst sieht man das Individuum, das sich in dieser Vorstellung nach den Lehrmeinungen der Institution richtet. Einigen ist bekannt, dass es auch beim Islam unterschiedliche Ausrichtungen gibt. Mehr als Sunniten und Schiiten werden selten unterschieden. Andere Religionen werden meist nicht weiter differenziert. Je nachdem werden Atheismus oder andere Gruppen dazugezählt oder nicht. Unser Verständnis ist weiter unten zu sehen. Quelle: Rafaela Estermann

Der Mensch im Zentrum

Ich denke, dass eine andere Sichtweise auf Religion im interreligiösen Dialog hilfreicher sein könnte. Im Zentrum des vorgeschlagenen Religionsverständnisses steht das Menschenbild, welches wir auf «religion.ch» vertreten. Aus dieser Sicht hat jeder Mensch einen «Weltzugang». Damit ist gemeint, dass jeder Mensch einen «Bezugsrahmen» hat, in den er alles einordnet, was er erfährt. Dieser Rahmen bestimmt das globale Bild, das wir von der Welt und uns selbst haben. Wir verstehen die Realität also immer durch den «Bezugsrahmen», durch den wir auf die Welt und uns blicken.

Dieser Bezugsrahmen setzt sich einerseits zusammen aus den sensorischen Grundvoraussetzungen des Menschen und andererseits aus dem Erlernten und den Gegebenheiten seiner Umgebung. Sensorisch Grundvoraussetzungen sind die Sinne, die der Mensch hat, um die Welt zu erschliessen. Dazu gehört auch seine Wahrnehmung von Zeit und Raum. Aber auch das Erlernte prägt unsere Wahrnehmung der Welt. Jeder Mensch entwickelt seinen Weltzugang in Abhängigkeit von der Situation, in der er lebt, lernt sie auf eine gewisse Weise zu verstehen und in ihr zu handeln. Die Lebenssituation, geografische Bedingungen, bestehende Menschengruppen und viele weiteren Faktoren prägen den erlernten Teil eines individuellen Weltzugangs.

Der Mensch befindet sich in verschiedenen sozialen Gefügen eingebettet. Jedes Individuum ist in einer wechselseitigen Beziehung mit den Gruppen und Gesellschaften, in denen es sich befindet. Aber auch Einflüsse aus der Welt ausserhalb des Menschlichen wie klimatische Bedingungen, geografische Begebenheiten und vieles mehr stellen Bedingungen dar, auf die der Mensch und Menschen in Gruppen reagieren müssen. Der Mensch wiederum versucht die Welt um ihn herum zu gestalten und zu seinem Vorteil zu nutzen. Quelle: Rafaela Estermann

«Zugang» eignet sich als Begriff, weil damit auf eine Ebene des Erkennens, Erlebens und Fühlens vor der tatsächlichen Wahrnehmung verwiesen wird. Der «Zugang» ist teilweise unbewusst und geht dem Denken und Fühlen voraus. Ich bin der Meinung, dass Menschen nicht einen Zugang zur Welt haben, «wie sie ist».1 Die menschliche Wahrnehmung ist immer geprägt durch den spezifischen, individuellen Zugang jedes und jeder Einzelnen. 

Bewusst und unbewusst

Unser Weltzugang und die Kontexte, in denen wir leben, stehen in einer ständigen Wechselwirkung. Was wir erleben, ist geprägt von schon Erlebtem, gleichzeitig kann es einen Einfluss darauf haben, wie wir weiterhin erleben.[2] Ein Weltzugang umfasst also das individuelle Gefüge eines Menschen, das bestimmt, wie er die Welt erlebt, versteht, in ihr handelt und sie deutet. Der grösste Teil eines Weltzuganges ist unbewusst und widerspiegelt sich zum Beispiel in Handlungen, Interaktionen, der Art wie und mit wem Beziehungen eingegangen werden und so weiter. Die meisten Handlungen sind unhinterfragt, erlernt und automatisch.[3]

Wichtig ist hier zu verstehen, dass mit dem Begriff «Weltzugang» nicht die Prozesse der Reflexion und Deutung im Vordergrund stehen, sondern der Rahmen der Wahrnehmung, der dem vorausgeht. Als Beispiel könnte eine Katholikin aus einer durch und durch katholischen Gesellschaft dienen. Sie ist aufgewachsen mit Traditionen und Gewohnheiten, die man von aussen als katholisch beschreiben würde – mit Gebeten, Geschichten und Normen, die ihr Verhalten bestimmen. Ihr ganzes Umfeld handelt und lebt auf dieselbe Art und Weise. Es ist einfach, wie es ist. Es besteht keine Notwendigkeit, die Verhaltensweisen zu benennen, denn sie sind die Norm. Reflektiert und benannt müssen sie erst dann werden, wenn sie einer aussenstehenden Person erklärt werden müssen, weil diese es anders macht.

Generell wird «Handeln, ohne zu hinterfragen» negativ gewertet. Es ist jedoch das normale Verhalten des Menschen, während Reflexion, energieaufwändig und zeitintensiv, nur punktuell stattfinden kann.

Das betrifft nun nicht nur religiöse Menschen. Gerade in städtischen Gebieten der Schweiz sind nicht-religiöse Weltzugänge in ihrer ganzen Vielfalt verbreitet. In diesen Gebieten stellen sie die Norm dar und müssen nicht bennant werden. Das bedeutet auch, dass diese Weltzugänge noch viel weniger reflektiert und formalisiert vorliegen, aber auch, dass wir aus einer wissenschaftlichen Perspektive noch nicht viel darüber wissen.

Generell wird «Handeln, ohne zu hinterfragen» negativ gewertet. Es ist jedoch das normale Verhalten des Menschen, während Reflexion, energieaufwändig und zeitintensiv, nur punktuell stattfinden kann. Der Weltzugang der meisten Menschen in der Schweiz enthält viele Komponenten aus der Aufklärung und der Reformation. Deshalb haben wir ein Idealbild des Menschen verinnerlicht, der hinterfragt, reflektiert und die Bedeutung seiner Handlungen kennt. Die heutige Forschung zeigt jedoch ein anderes Bild. Der Begriff des Weltzugangs soll diesen Aspekt des Menschen ernst nehmen ohne die negative Wertung, die im «Handeln, ohne zu hinterfragen» für viele aufgrund der eigenen Prägung mitschwingt.

Geläufiger sind vielleicht Begriffe wie Weltanschauung, Weltbild, Weltsicht[4] usw. Den Begriff «Weltzugang» habe ich bewusst gewählt, um damit die passiven Aspekte, die Wahrnehmung, die Praxis und das Handeln zu betonen. Weltanschauung, Weltbild oder Weltsicht sind zu kognitiv, zu aktiv und zu deutend. Nicht alles, was Menschen machen, reflektieren sie auch. Der Begriff «Weltzugang» schliesst eine aktive, kognitive und deutende Rolle nicht aus, legt den Schwerpunkt jedoch anders. Jeder Mensch hat einen Weltzugang, in Anteilen bewusst, aber zum grossen Teil unbewusst. Es gibt Menschen, die sich reflektierterter mit der Welt und ihrem Leben auseinandersetzen als andere. Einen Weltzugang haben aber alle gleichermassen. 

Im Gegensatz zum oben beschriebenen stereotypen Bild von Religion, ist der Begriff des Weltzugangs nicht auf «Glauben» fokussiert, da dies eine eher kognitive Tätigkeit ist. Spezifische Glaubensvorstellungen können das Produkt eines Weltzugangs sein, sie sind aber nur ein Aspekt davon. Das Wissen eines Menschen über diese Welt ist Teil des Weltzugangs. Ein Weltzugang ist jedoch weitaus umfassender und besteht nicht nur aus Wissen.  Ein Weltzugang besteht also keineswegs nur aus Vorschriften, Regeln und Normen wie im oben beschriebenen stereotypen Bild von Religion von vielen angenommen wird.

Formalisierte und systematisierte Weltzugänge

Gehen wir also davon aus, dass alle Menschen einen spezifischen Weltzugang haben und diese sich bilden, wie vorhin beschrieben, unterscheiden sich damit die Weltzugänge von Mensch zu Mensch. Bewegen sich Menschen aber in einer Gruppe, treten sie in Verhandlungen über ihren Weltzugang ein, einigen sich und/oder streiten über den «richtigen» Zugang.[5] 

In Gruppen organisieren Menschen ihr Zusammenleben. Sie bilden Strukturen, Institutionen und Organisationen, verteilen Zuständigkeiten und organisieren den Informationsfluss. Institutionen sind dabei immer ein Trägheitsmoment in Gesellschaften, weil sie mächtige Diskurse in Gesetzen festschreiben und daraus Strukturen wie Verwaltungen, Projekte, Schulen, Gefängnisse usw. entwickelt werden. Die Veränderung von Gesetzen, Verwaltungen, Schulen etc. erfordert immer eine gesellschaftliche Anstrengung und erneute Aushandlungsprozesse. Weltzugänge sind einerseits also individuell und andererseits auf einer gesellschaftlichen Ebene im Diskurs wiederzufinden. 

Der Mensch und sein Weltzugang stehen in einem ständigen Austausch mit den Gesellschaften und Gruppen, in denen er sich bewegt, den Institutionen dieser Gesellschaften und Gruppen und der Welt. Die Weltzugänge, die über Machtpositionen für allgemeingültig erklärt werden, finden Eingang in die Institutionen. Ein Beispiel dafür ist das Römische Reich, in dem das Christentum am Ende des 4. Jh. zur Staatsreligion erklärt wurde. Es musste standardisiert werden. Man legte also fest, welche Texte in die Bibel aufgenommen werden sollten (Kanonisierung) und richtete Ämter und Gesetze ein, die das Christentum, auf welches sich die mächtigen Männer geeinigt hatten, widerspiegeln sollten. Quelle: Rafaela Estermann

In verschiedenen Menschengruppen bilden sich über die Zeit andere Weltzugänge heraus. In diesem Austausch entstehen formalisierte und systematisierte Weltzugänge, denen Menschen Namen gegeben haben, wie «das Christentum», «der Islam», «der Hinduismus» usw. Über die Zeit hat man nicht aufgehört, darüber zu verhandeln, was diese Begriffe beinhalten. Was als gültiger Inhalt anerkannt wurde, hat mit den Machtpositionen der Verhandelnden zu tun. Da sich diese immer wieder verändert haben, wurden auch immer wieder andere Inhalte ins Zentrum dieser Begriffe gerückt. Unterschiedliche Menschengruppen haben teilweise auch über dieselben systematisierten Weltzugänge verhandelt und sind dann zu anderen Systematisierungen gelangt. So gibt es für das Christentum, den Islam, den Buddhismus usw. Strömungen, Konfessionen, Schulen etc.

Im gesellschaftlichen Diskurs fliessen aber nicht nur systematisierte/formalisierte und individuelle Weltzugänge ein, sondern auch weitverbreitete ähnliche Weltzugänge, die noch nicht oder nur wenig systematisiert sind. Gerade in den letzten 200 bis 300 Jahren sehen wir Tendenzen der Säkularisierung und Individualisierung, wobei verschiedene Theoretiker:innen darauf aufmerksam gemacht haben, dass auch säkulare und nicht-religiöse Menschen vereinende Elemente in ihren Weltzugängen haben, auch wenn diese nicht so systematisiert vorliegen wie beim Christentum, Islam und so weiter.[6]

Individuelle Konfigurationen von Weltzugängen

Menschen und Menschengruppen ordnen sich teilweise stärker und teilweise schwächer einem solchen systematisierten Weltzugang zu. Man könnte sagen, sie sehen sich als ein Glied in einer Kette der Erinnerung.[7] Am Ursprung der Kette stehen Figuren wie Jesus, Mohammed oder Siddharta Gautama. Häufig orientieren sich Menschen jedoch nicht nur an einem dieser systematisierten und formalisierten Weltzugänge, sondern haben ihre eigene Konfiguration, die aus ihrem individuellen Leben und im Zusammenhang mit ihrem Umfeld entstanden ist.[8]

Aus diesem Grund, denke ich, gibt es viele Menschen die sich als christlich verstehen, weil sie sich zum Beispiel in eine Beziehung zu Jesus setzen, die gleichzeitig aber auch an die Wiedergeburt in Anlehnung an buddhistische oder hinduistische Vorstellungen glauben. Das heisst nicht, dass sie sich als buddhistisch bezeichnen würden. Die individuelle Konfiguration des Weltzugangs eines Menschen ist spezifisch und vielleicht auch einzigartig.

Religion als eine Kategorie unter Weltzugang

Im Laufe der Entwicklung einer Vielzahl an Weltzugängen haben Menschen begonnen diese zu kategorisieren. Einige Weltzugänge wurden als religiös, andere als spirituell, wieder andere als säkular oder nicht-religiös bestimmt. Und hier sind wir wieder beim Streit darüber angelangt, was nun religiös ist und was nicht. 

Ein Weltzugang verstehen wir auf «religion.ch» als religiös, wenn er von irgendeiner Form der Transzendenz ausgeht oder diese beinhaltet. Das können Gott, Götter, Geister, Feen, Magier:innen, Energien oder sonstige «höhere Kräfte» sein.[9] Hier nicht einfach von religiös und nicht-religiös zu sprechen, sondern von religiösen und nicht-religiösen Weltzugängen hat den Vorteil, die Hierarchie, die ansonsten zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen mitschwingt, abzubauen. 

Bild: Ekaterina Fedulyeva/iStock

Weil eine negative Sicht von «Religion» in der Schweiz weit verbreitet ist, werden religiöse Menschen eher als rückständig, irrational und seltsam wahrgenommen. Aus dieser Perspektive glauben religiöse Individuen noch, obwohl man heute eigentlich «weiss» und also nicht mehr glauben müsste. Diese Sicht widerspricht dem Konzept der Weltzugänge, denn man kann nicht mit oder ohne Weltzugang sein. Jeder und jede hat einen Weltzugang, aber es gibt unterschiedliche Weltzugänge. Der aus unserer Sicht begrenzte Zugang zu dieser Welt ist der Ausgangspunkt für alle Menschen. Daraus folgt dann auch, dass wir keine Gewichtung von Innen- und Aussenperspektiven vornehmen möchten, da dies eine Hierarchisierung von religiösen und nicht-religiösen Perspektiven beinhaltet. 

Wir glauben, es wäre für das friedliche Zusammenleben wertvoll, wenn eine gesellschaftliche Reflexion auch zu nicht-religiösen Weltzugängen angestossen würde. Das Bewusstsein für den eigenen Weltzugang beinhaltet die Wahrnehmung ihrer Kontingenz. Wir hoffen, dass dies bei allen zu einer grösseren Offenheit gegenüber Menschen mit anderen Weltzugängen führen könnte. 

Kein Widerspruch zu Gott

All dies steht der Existenz eines Gottes, mehrerer Götter und Göttinnen, Geistern oder anderen Formen von Transzendenz nicht entgegen. Das Konzept des Weltzugangs sagt nämlich nicht, dass es nicht zum Beispiel ein Gott sein könnte, der den Menschen Inputs für ihre Weltzugänge gibt und diese Möglichkeit soll auch nicht ausgeschlossen werden.

Gleichzeitig kann das Konzept der Weltzugänge auch nicht-religiös verstanden werden, also ohne Transzendenzbezug, ohne Götter, Geister oder sonstige Wesen, einfach als sozialwissenschaftliche Analyse- und Verstehenshilfe für den Menschen.

Zwischen Relativismus und Universalismus

Auch ist der Weltzugang kein relativistisches Konzept, denn es bedeutet nicht, dass es Millionen von verschiedenen Wahrheiten gibt. In Bezug zu Wahrheit wird nicht gesagt, dass es in allem oder zumindest einem Bereich von Dingen nicht eine einzig wahre Realität gäbe.

Es wird nur der Zugang des Menschen zu dieser Realität bis zu einem gewissen Punkt in Frage gestellt und angenommen, dass zwischen der Realität «wie sie ist» und dem Menschen, sein eigenes Wesen und sein Wahrnehmungssystem stehen und wir daher auch nicht wissen, welcher Weltzugang näher an der Wahrheit liegt, sofern er der Wissenschaft nicht diametral widerspricht.[10]

Beziehung zu Wissenschaft

Auch kann beobachtet werden, dass es sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Weltzugänge gibt, die mit Wissenschaft vereinbar sind und solche, die es nicht sind. Dies liegt daran, dass in unserem Verständnis Wissenschaft nicht handlungsanleitend[11] ist, sondern ein Set an Methoden und Standards zur Untersuchung dieser Welt. Die Wissenschaft ist auch ein Feld, in dem über die Welt und die Methoden zur Untersuchung der Welt diskutiert wird. Auch hier gibt es nicht «die Wissenschaft», sondern Menschen, die miteinander über die Welt debattieren, sich in gewissen Dingen einig und in anderen uneinig sind. 

Wir haben immer nur Perspektiven

Es soll daher kein Urteil darüber gefällt werden, welche Konfiguration von individuellen und systematisierten Weltzugängen der Wahrheit am nächsten kommt. Eine Metapher zur Betrachtung eines Apfelbaumes von Husserl ist hier sehr einleuchtend. Husserl schreibt, dass unsere Wahrnehmung eines Apfelbaumes immer nur partiell sein kann. Selbst sich um den Baum zu bewegen, führt zu keinem vollständigen Bild von allen Aspekten des Baumes in einem Augenblick.

Das heisst, unsere Wahrnehmung des Baumes steht zwangsläufig in Bezug zu unserer Position sowie der Position des Baumes. Wichtig ist dabei, auch wenn die Wahrnehmung des Baumes nur partiell und immer in Bezug zu unserer Position und der Position des Baumes steht, haben wir keinen Grund, die Existenz des Baumes in all seinen Facetten an sich anzuzweifeln. Den Baum weiter zu studieren und andere Positionen einzunehmen, kann dabei helfen, Vorstellungen von diesem Baum zu entwickeln. 

Diese Sichtweise ist eine mögliche Position in einer Debatte, die äusserst komplex ist. Meine Sichtweise hat ihre Stärken und Schwächen und ist begründet durch die Interessen und Werte, die wir mit religion.ch verfolgen. Auch diese Sichtweise kann und soll diskutiert werden. 

Was bedeutet das für «religion.ch»?

In der Abbildung unten sind diese Überlegungen nochmals vereinfacht grafisch dargestellt. Als Gegenstück zur Darstellung oben sehen wir nicht «Religion» als die Kategorie des Vergleichs, sondern die der Weltzugänge. Mit dem oben beschriebenen Religionsverständnis kann anschliessend eine Unterteilung in religiöse und nicht-religiöse Weltzugänge vorgenommen werden. Der Fokus soll aber nicht auf systematisierten und formalisierten Weltzugängen liegen, sondern auf Individuen und wie sich diese im Aushandlungsprozess zwischen Weltzugängen einordnen und ihre eigenen Konfigurationen gestaltet.

Dies ist eine sehr vereinfachte Darstellung des Religionsverständnisses, von dem wir auf religion.ch ausgehen. Ein formalisierter Weltzugang ist dann zum Beispiel das Christentum. Davon existieren dann Version a, b, c, … also zum Beispiel das reformierte, katholische, russisch orthodoxe, eritreisch orthodoxe, … Christentum. Die Darstellung zeigt, dass jedes Individuum seine eigene Konfiguration aufweist und verschiedene formalisierte Weltzugänge in seinem vereint und kombiniert. Eine Katholikin kann zum Beispiel an Reinkarnation glauben. Mit dieser Vorstellung kam sie vielleicht in Kontakt, weil sie eine Person kennenlernte, die sich dem Buddhismus zurechnet. Sie glaubt vielleicht auch nicht an die Trinität (Dreifaltigkeit), sieht Jesus aber als ihr Vorbild und fühlt sich ihrer Gemeinschaft zugehörig. Dieselbe Person könnte auch viele Vorstellungen oder Praktiken mit Menschen teilen, die sich als nicht-religiös (bisher grösstenteils nicht-formalisierte Weltzugänge) bezeichnen. Quelle: Rafaela Estermann

Das bedeutet, dass die Artikel und Reportagen auf religion.ch immer Perspektiven von Individuen in grösseren Debatten darstellen und erklärt, weshalb wir einzelne Personen nicht als Repräsentant:innen von «Religionen» verstehen möchten. Unsere Autor:innen ordnen sich teilweise selbst Religionstraditionen zu. Trotzdem werden sie in ihren Artikeln nicht eine Systematisierung eines Weltzuganges wiedergeben, sondern ihre eigene Konfiguration. 

Das dargestellte Menschenbild, Verständnis von Weltzugang und Religion führt auch dazu, dass auf «religion.ch» Themen und nicht «Religionen» im Zentrum stehen. Wir denken, dass im Leben und Zusammenleben von Menschen viele verschiedene und doch für alle ähnliche Themen auftauchen. Wie wir mit diesen Themen umgehen, was sie für uns bedeuten, wie wir auf sie bezogen handeln, ist der Fokus von «religion.ch». Begriffe wie «Islam», «Judentum», «Christentum» kommen bei uns zwar vor, sie sind jedoch nur im Hintergrund als Bezugskategorien für Individuen vorhanden. 


[1] Philosophische Auseinandersetzungen dazu gibt es nachzulesen bei Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein, Donald Davidson, Richard McKay Rorty, und vielen mehr. 

[2] In den Sozialwissenschaften gibt es verschiedene Theorien und Konzepte, mit denen man diesen Sachverhalt zu fassen versucht. So zum Beispiel «Habitus» bei Bourdieu oder Sozialisation/Interdependenz/Internalisierung bei verschiedenen Theoretiker:innen.

[3] Zu diesen Begriffen z.B. Ann Taves und viele mehr.

[4] Vergleich dazu Daniel Kahneman, Amos Tversky in «Schnelles Denken, langsames Denken»

[5] Vergleich dazu «Diskurs» von Michel Foucault oder auch Ernesto Laclau/Chantal Mouffe

[6] Vergleich dazu Charles Taylor, Talal Asad, Lois Lee, Johannes Quack und viele mehr.

[7] Vergleich dazu Chain of memory bei Danièle Hervieu-Léger

[8] In Anlehnung an «Existentielle Konfigurationen» von Caroline Klintborg

[9] In Anlehnung an Niklas Luhmann

[10] In der Philosophie gibt es dazu verschiedene Debatten im Bereich Wahrheit/Universalismus/Relativismus

[11] Vergleich dazu zum Beispiel Max Weber zu Wissenschaft und Objektivität

Autor

  • Rafaela Estermann

    Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch ||| Rafaela Estermann ist Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch. Ihre Schwerpunkte sind Nicht-Religion, Säkularität und der Diskurs über Religion und den Islam in der Schweiz. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Zürich in einem Forschungsprojekt (MORE) zum Religionsunterricht über den Islam in verschiedenen Religionsunterrichtsmodellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.

0 Gedanken zu „Was ist Religion? Eine Idee für den Interreligiösen Dialog

  • Vielen Dank für den hier ausgerollten Teppich der Verständigung über die Phänomene des Religiösen und der Religion. In sich stimmig erscheint mir der Vorschlag, unter http://www.religion.ch die Kategorie des Zugangs zur Welt zentral den einzelnen Menschen zu überlassen. Dies fördert Gespräche auf Augenhöhe mehr als es verallgemeinernde Zuschreibungen vermögen, wie: «Wir leben doch in einer säkularisierten (verweltlichten) Zeit, die mit Religiosität nichts mehr am Hut hat!» Gleichwohl bilden religiöse Formen, Gesten und damit verbundene Gebets- und Musik-Sprachen Zugänge zu Bereichen der Welterfahrung, die uns Menschen unverfügbar sind und uns vor ihnen stumm und staunend innehalten lassen.

    Ich kann weitere Folgerungen daraus ziehen, indem ich etwa mit Hans Joas die Ebene der «Heiligkeit» ins Spiel bringe. Von ihr her versucht dieser Soziologe sein Verständnis von Religion elementar aufzubauen [vgl. durch Maria Hässig aufgezeichneter Vortrag «Erfahrungen von Selbsttranszendenz», in: Schweizerische Kirchenzeitung 190 (18/2022) 420-422]. Für den Soziologen zentral ist das «Phänomen des Ergriffenwerdens und der Auffüllung von Zeiten, Orten, Personen, Gegenständen, Vorstellungsgehalten in präreflexiver Weise mit so einer Kraft ein universal anthropologisches Phänomen». Danach nimmt Joas in sieben Schritten Bezug auf William James (1842–1910) und blickt auf die allgemeine religiöse Erfahrung als Selbsttranszendierung und die Einordung derselben unter den Stichworten Heiligung oder Sakralität, deren Artikulation, der Ethisierung der Sakralität und der Macht des Heiligen.

    Paul Tillich zur «Qualität dessen, was den Menschen unbedingt angeht»
    Fast bedeutsamer erscheint mir, wie auf dem Hintergrund des Zivilisationsbruches des Ersten Weltkriegs die Theologie von Paul Tillich (1886-1965) als Basis aller Religionen die Heiligkeits-Erfahrung sah. Tillichs Blick auf die unterschiedlichsten religiösen Erzählweisen fokussierte auf die Erfahrung dessen, was alle «unbedingt angeht», dem ultimate concern. Näher hin sah Tillich das Heilige als «die Qualität dessen, was den Menschen unbedingt angeht». Denn: «Nur das, was heilig ist, kann den Menschen unbedingt angehen, und nur das, was den Menschen unbedingt angeht, hat die Qualität der Heiligkeit.» Wie sich dies im Verhältnis von Glaube und Religiöser Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus zeigt, erläuterte zudem Stefan S. Jäger 2011 in einer ausführlichen religionshermeneutische Studie, auf die hier nur kurz hingewiesen sei.

    Gottesdienst als passivisch erfahrene Feier
    Zudem diskutierte Markus Roth 2016 Paul Tillichs Denken im Interesse einer fundamentalliturgischen Praxistheorie aus der Sicht Evangelischer Gottesdienst-Theologie. Die Lektüre seines Buches unter dem Titel «Die Zuwendung Gottes feiern» lädt ein zu einem Verständnis von Gottesdienst als passivisch erfahrener Feier. Es war auf dem gesellschaftlichen Hintergrund vermehrter Abwendung von institutionellen Engführungen des Glaubensaktes nur konsequent, dass Tillich eine «wachsende Selbst-Transzendierung» wichtig wurde. Diese führe zur «Partizipation am Heiligen». Wobei dies lt. Roth über ein ‘Andachtsleben oder Gebetsleben’ hinaus gehe, indem sogar die Teilnahme am Gottesdienst der Gemeinde abgelehnt und Gebet der Meditation untergeordnet werde. Deshalb rückte Tillich den Begriff ‘Heiligung’ näher zur ‘unio mystica’: «‘Es gibt keinen Glauben …, wenn nicht der göttliche Geist das personale Zentrum dessen, der im Glauben steht, ergriffen hat. Gerade das aber ist die mystische Erfahrung, nämlich die Erfahrung der Gegenwart des Ewigen im Zeitlichen. Als ekstatische Erfahrung ist der Glaube mystisch’». Roth vermerkt an dieser Stelle, dass Tillich der ungeklärten Beziehung zur Mystik im Protestantismus die Schuld dafür gab, dass die östliche Mystik für Christen so interessant sei: «Die Tatsache, dass der Protestantismus seine Beziehung zur Mystik nicht verstanden hat, hat Einzelne darin bestärkt, das Christentum als ganzes zugunsten der östlichen Mystik aufzugeben, vor allem für den Zen-Buddhismus».

    Glaube als Ergriffensein
    Folgerichtig begegnet einem bei Tillich – hier Roth weiter – ein «weites Gottesdienst-Verständnis. Alles kann zur Offenbarung werden, die ‘kirchliche Feier’ ist nur eine von vielen Möglichkeiten, in den sich der göttliche Geist dem menschlichen Geist erschliesst». Erneut geht es um das «Ergriffensein, das sich nicht auf einen Ort beschränken lässt». Und so finden wir «‘einen Tempel neben einem Rathaus, das Abendmahl des Herrn neben einem täglichen Abendessen, das Gebet neben der Arbeit, Meditation neben der Forschung, caritas neben eros.» Im Gottesdienst selbst geht es «um ein Empfangen und Antworten… um das Empfangen der Botschaft, von Gott angenommen zu sein. Dies ist aber gerade nicht das Empfangen eines intellektuellen Urteils. Wie die Religion, so darf der Gottesdienst nicht auf Kultur oder Moral verkürzt werden. Der Gottesdienst der Kirche darf weder die Moral noch die intellektuelle Erkenntnis als Ziel haben, sondern ein Geöffnetwerden, ein Ergriffensein, ein Über-sich-hinaus-geführt-werden. Ekstatisches Sein wäre das Ziel eines Gottesdienstes – als Geschenk, nicht als Methode. Ziel des Gottesdienstes wäre der Glaube als Ergriffensein, durch das, was den Menschen unbedingt angeht. Dabei ist der Glaube ja weder Intellekt, noch Wille, noch Gefühl, sondern er umfasst nach Tillich alle drei Geistesfunktionen, eint sie und unterwirft sich der ‘umwandelnden Macht des göttlichen Geistes’.» In diesem Zustand des «Geöffnetwerdens durch den göttlichen Geist» sei der Mensch «ganz passiv» – was strukturanalog ebenso im Shin-Buddhismus zu beobachten ist als passive Einstellung auf Amidas Urgelübde der Anderen Kraft, in welcher die letzte Wirklichkeit sich manifestiert, «um das menschliche Herz (kokoro) zu erreichen und kommunizierbar zu werden …» (Stefan S. Jäger)

    Tillich bleibt aktuell
    Diesen passiven Charakter im Vollzug einer Feier des Glaubens, der für sich genommen eine weitere «Grenzsituation» benennt, gilt es mit Markus Roth zu beachten. Ja, mit Blick auf die Missbrauchsstrukturen in den Religionen ist die Einordung durch Tillich überzeitlich aktuell: «Es ist eine uralte Erfahrung aller Religionen, dass die Frage nach etwas, das sie transzendiert, durch erschütternde und umwandelnde Erfahrungen der Offenbarung und der Erlösung eine Antwort erhält, dass aber unter den Bedingungen der Existenz sogar das absolut Grosse – die göttliche Selbst-Manifestation in der Religion – nicht nur gross, sondern auch unwürdig, nicht nur göttlich, sondern auch dämonisch werden kann.» In derartiger «Zweideutigkeit» befindet sich der Gottesdienst «auf der Grenze … zwischen reiner Sondersphäre, die als Gefahr die Dämonisierung in sich trägt, und der Profanisierung; auf der Grenze zwischen Protest und Selbstzweck». Tillich ist darum kirchen-, gottesdienst- und religionskritisch zugleich, wenn er ausdrücklich festhält: «Die Frage heisst: Radikales Sichstellenlassen in die Grenzsituation oder Sicherung gegen unbedingte Bedrohung durch Kirche und Sakrament.» Alles müsse die Kirche weglassen, was die Schärfe der Grenzsituation abschwächt: «das Sakrament, das magisch wirkt, also an der letzten Bedrohung vorbei zum wahren Sein führt; die Mystik, die an der unbedingten Drohung vorbei zum wahren Sein führen soll; das Priestertum, das eine Sicherung vermitteln soll, die nicht mehr der Unsicherheit der menschlichen Existenz unterworfen ist; die kirchliche Autorität, die eine Wahrheit besitzen soll, die nicht mehr unter der Drohung des Irrtums steht; der Kultus, der eine rauschhafte Erfüllung gibt und hinwegtäuscht über die Unerfülltheit der letzten Forderung gegenüber.»
    Man ist als katholischer Leser dieser warnenden Zeilen aufgerufen zu eigener Selbstkritik gegenüber der eigenen Gottesdienstpraxis, die sich zu wenig der Kraft aus Gottes Geist aussetzt, geschwätzig wird und mit Blick auf das Gottes- und Menschenbild vielfach dogmatischem Perfektionismus frönt – statt der Gebrochenheit menschlicher Existenz aller am Gottesdienst Teilnehmenden den Freiheitsraum zu lassen, der ihr seit Beginn der Schöpfungs- und Unheilsgeschichte mitgegeben ist.

    Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser

  • Jürg Stettler sagt:

    Ein interessanter Artikel. Tatsächlich ist das Wort Religion vielerorts negativ konnotiert. Die Medien berichten eben vor allem über negative Aspekte, Auswüchse oder Skurriles. Meist in Verbindung mit institutionalisierter Religion. Oder man macht Religionen – zum Teil zu recht – verantwortlich für Konflikte. Meist handelt es sich aber dabei nicht um Konflikte aufgrund transzendentaler Grundlagen, sondern oft um Machtkämpfe oder falsch interpretierte Glaubenssätze. Hier haben die etablierten Religionen eine grosse Verantwortung, dass es soweit kam.
    Transzendenz ist ganz sicher ein wichtiger Aspekt, der zu Religion gehört. Spricht man mit religiösen Menschen, egal welcher Glaubensrichtung, so sieht man, dass es in jeder Religion ähnliche Grundlagen gibt. Materialismus ist weniger wichtig als das Geistige, wie immer man es nennt: Seele, Geist etc. Man glaubt und hofft auf mehr als nur ein Menschenleben, auf etwas Höheres. Allen gemeinsam ist auch ein moralisches und ethisches Gerüst. Auch hier gibt es sehr viele Übereinstimmungen. Jede Religion hat ihre Riten, die man mag oder auch nicht, oder die man vielöleicht belächelt. Dies ist aber nicht die Grundlage von Religion oder Spiritualität. Ich denke, man muss die Gemeinsamkeiten fördern, das Spirituelle herausheben und so diesem Gebiet eine neue positive Bedeutung geben.

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