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Heinz Angehrn

Zur biblisch-christlichen Bewertung von Homosexualität

Die katholische Kirche macht immer wieder Schlagzeilen mit ihrer Homophobie und trotzdem gibt es viele homosexuelle Priester. Wie bewertet ein homosexueller Priester die katholischen Lehren? Heinz Angehrn, Pfarrer im Ruhestand und schwul, ordnet für uns ein.

Biblisch begründete Homophobie, so wie sie uns von evangelikalen Freikirchen und konservativen katholischen Kreisen bis heute entgegenkommt, stützt sich zuallererst und immer wieder auf die einschlägigen Passagen des Heiligkeitsgesetzes im Buch Levitikus. Es erstaunt, dass ein so quantitativ geringer Befund so viel Unheil bis heute anrichten kann. Zumal die Bibel selber in zwei viel zentraleren Texten eine klare Antwort gibt! Im ersten Schöpfungsbericht in Genesis 1 steht: alles, was Gott geschaffen hat, ist «sehr gut» – folglich auch die verschiedenen Spielarten menschlicher Sexualität. Und im Paulus-Text im Galaterbrief (3,26-29) ist zu lesen, dass in Jesus Christus vor Gott alle seine Kinder sind – Männer und Frauen, Heteros und Homos.

So bleibt denn eine Beurteilung der biblischen Homophobie vor allem am Ersten Testament haften. Und hier ist es leider nicht weit zu einer Schuldzuweisung an das Judentum. Darum muss der christliche Alttestamentler eingreifen: Spätestens seit dem Konzilsdokument «Nostra aetate» sind Antisemitismus und Antijudaismus aus dem seriösen theologischen Denken und Argumentieren ausgerottet. Wir sehen und anerkennen das Judentum als unsere Mutterreligion, wir verstehen Jesus von Nazareth, den Religionsgründer, als apokalyptischen jüdischen Wanderprediger. Und selbstverständlich haben wir drei Viertel unserer heiligen Schriften mit dem Judentum gemeinsam. Eine Bibel in der Bibel wie auch ein Evangelium im Evangelium zu suchen, ist zum abwegigen Unterfangen geworden, die Zeit der «Deutschen Christen» ist uns heute eine Schreckensvorstellung.

Je konkreter die Anweisung, desto zeitgebundener ist sie

Gerade darum steht der schwule christliche Theologe aber auch vor der Frage, wie er mit diskriminierenden und ausschliessenden Passagen dieser heiligen Schriften umgehen soll. Nebst der historisch-kritischen Methode und dem Verständnis für die Zeitgebundenheit von Texten aus der Zeit vor Aufklärung und Neuzeit hilft auch ein Blick in die vielen Detailvorschriften der Thora. Es sind ja nicht nur Anweisungen zur Sexualität, sondern in weitaus grösserem Ausmass Regeln und Verbote, etwa zu den Themen Essen und Reinheit, darunter zu finden.

Je konkreter die Anweisung, so lehrt uns jede Erfahrung, desto zeitgebundener dürfte sie sein.

Je konkreter die Anweisung, so lehrt uns jede Erfahrung, desto zeitgebundener dürfte sie sein. Und diese Zeitgebundenheit ist zu klären: geographisch, klimatisch, gesellschaftlich, politisch. Solche Arbeit leistet die biblische Einleitungswissenschaft. Und danach ist zu klären, welche Texte neu bewertet und welche zum innersten Kern biblischer Botschaft gerechnet werden können.

Eine 1:1-Umsetzung verfälscht den Grundgedanken des gütigen Schöpfergottes

Der strikte Umgang des orthodoxen Judentums mit der koscheren Küche und der Sabbatruhe mögen ja noch eine gewisse Sympathie wecken. Auch können wir das Verbot, Schweinefleisch zu essen, hygienisch-klimatisch verstehen und deuten. Anders ist es mit dem Ausschluss bestimmter Berufsgattungen und aller Frauen vom rituell-heiligen Dienst, weil sie mit unreinen Stoffen und Flüssigkeiten in Berührung kommen können.

Und ebenso muss das strikte Verbot von gelebter Homosexualität neu betrachtet werden. Die Zeitgebundenheit dieser Texte ist offensichtlich. Eine Umsetzung im Format 1:1 in unsere moderne Welt ist nicht nur absurd, sondern verfälscht den Grundgedanken vom gütigen Schöpfergott. 

So lehnt sich der schwule christliche Theologe einigermassen beruhigt zurück. Auch die Passagen, die ihn betreffen und die schwuler Sexualität Tod und Vernichtung androhen, sind zeitbedingt. Und wenn der ehemalige Churer Bischof Vitus Huonder diese Passagen vor begeistert fundamentalistischem Publikum vorgetragen hat und dazu fügte, dass diese Texte für sich sprechen, dann hat er sich disqualifiziert als das, was er wirklich war: ein frommer Hetzer.

Nichtsdestotrotz bleibt aber die Grundaufforderung auch des jüdischen Gesetzes bestehen: «Seid mir geheiligt; denn ich, der HERR, bin heilig» (Lev 20,26). Und es ist weiter der Gedanke zu verfolgen, was durch die Jahrhunderte mit Heiligkeit gemeint ist.

Berufen und abgesondert – auf den Spuren der Heiligkeit in der frühchristlichen Geschichte

In ähnlichem Ausmass wie unseren heiligen Schriften sind wir unserer Geschichte, gerade derjenigen des frühen Christentums mit seinen Konzilien und lehramtlichen Texten, den Schriften der frühen Kirchenväter und dem Zeugnis der Märtyrer und Märtyrerinnen verpflichtet. Allerdings sind auch diese Texte wieder weit über 1000 Jahre alt. Es sind alles Dokumente, die noch vor der ersten Kirchenspaltung entstanden und darum für Katholiken, Orthodoxe und Reformierte im gleichen Ausmass gelten. Daher sind sie im selben Sinn wie die heiligen Schriften zu lesen, zu beurteilen und zu bewerten.

Die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends, die Endphase des römischen Reiches, wird zum Neuaufbruch für die noch junge Religion, die nun in eigener Regie den Begriff der Heiligkeit neu umsetzt und lebt. Deutlich wird dies mit dem Begriff «abgesondert»: Fern des Lärms der Städte und ihrer permissiven Kultur und fern dem (schon damals!) «anything goes» einer multikulturellen Gesellschaft gehen vom Heiligen berührte und «berufene» Männer (von Frauen wird zunächst kaum berichtet) in die Einsamkeit der Wüste, in Einsiedeleien am Ende der Welt. Dort stellen sie sich ihren Dämonen, finden zu sich und damit zu ihrem Ursprung. Bis heute ist diese Lebensform der Eremiten und Eremitinnen erhalten geblieben und immer noch lebendig. Kloster und Stadt St. Gallen etwa wären nicht bestehen geblieben ohne die heilige Wiborada. Und unser Land verdankt Nikolaus von Flüh die Einsicht des Friedens in Gott.

Segensfeier von homosexuellen Pärchen durch den Zürcher Theologen Meinrad Furrer auf dem Platzspitz in Zürich. © Vera Rüttimann

Verzicht auf gelebte Sexualität

Weit entfernt vom Gedanken des heutigen Pflichtzölibats gehört der Verzicht auf gelebte Sexualität zu diesem neuen Lebensstil der Eremit:innen und Mönche respektive Nonnen. Der Pflichtzölibat – das muss immer wiederholt werden – ist erst im Mittelalter primär aus materiellen Gründen entstand, um das materielle Kirchengut nicht an leibliche Erben abfliessen zu lassen. Sowohl der hetero- wie der homosexuelle Mensch kann sich zu einem solchen Leben als Eremit:in oder als Mönch oder Nonne berufen fühlen. Es ist in keiner Art und Weise etwa zu entdecken, dass der Gedanke der sexuellen Keuschheit nur für homosexuell fühlende Menschen gilt, wie es nun in neuster Zeit offizielle Texte der katholischen Kirchen empfehlen. Und es sind längst nicht alle Menschen für einen solchen Lebensstil, der eine hohe Fähigkeit zu geistiger Sublimierung erfordert, geeignet.

Alles Gesagte gilt dann ab dem frühen Mittelalter für das europäische Mönchstum, das indirekter Nachfolger der frühen Eremiten ist. Seit Benedikt (und für Frauen seit seiner Schwester Scholastika) sind die Klöster nun der Ort des Suchens nach Heiligkeit und geistiger Reinheit. Wie in diesen Klöstern und Gemeinschaften auf Grundlage ihrer Spiritualität bis heute grossartige geistig-intellektuelle wie sozial-karitative Leistungen möglich waren und sind, beeindruckt und begeistert. Gerade der lange angefeindete Jesuitenorden, die Societas Jesu, sticht heraus.

Mit dem Pflichtzölibat der Heiligkeit einen Schritt näher?

Wie schon gesagt, taugt die Idee des Pflichtzölibats nicht, den Gedanken der Heiligkeit und Reinheit auch im Leben der «Feld-, Wald- und Wiesenpfarrer», zu denen auch der Verfasser gehört hat, umzusetzen. Es geht um Verzicht auf Frau und Familie um des Himmelreiches willen – so wurde dies uns Studierenden später begründet. Diese Vorstellung gehört zum Ideal des Seelsorgers, der rund um die Uhr nur für seine Anvertrauten da und frei von anderer Verantwortung ist. Die Botschaft zumindest war für homosexuell fühlende Menschen eine attraktive, mancher schwule junge Mann jubelte ob solcher Verheissung, auch der hier Schreibende! Doch für den ideellen Gedanken, dass der so lebende Seelsorger auch näher bei seinem spirituellen Zentrum lebt, genügte und genügt das nicht. 

Ehelosigkeit und Zölibat bedeuteten in der ganzen Kirchengeschichte nie Keuschheit und Reinheit.

Leider, denn um dies nur einmal klar festzuhalten: Ehelosigkeit und Zölibat bedeuteten in der ganzen Kirchengeschichte nie Keuschheit und Reinheit. Die Renaissance-Päpste sind nur das berüchtigtste Beispiel, die grosse Stricher-Szene um den Vatikan das widerlichste.

Der Trick mit der Priesterweihe: Die katholische Lehre

Ausserhalb des straff geregelten Klosterlebens ist radikale Jesus-Nachfolge wohl nur schwer zu leben. Da sind die Versuchungen zu gross: Mobilität, materieller Privatbesitz, Alkohol, Medienkonsum und vieles mehr. Für ihre Priester hat die katholische Kirche darum ein gewaltiges theologisch-spirituelles Konstrukt geschaffen, um ihre Unzulänglichkeiten zu kaschieren. Mit der Priesterweihe, so die bis heute gültige Lehre, wird dem Weihekandidaten ein «character indelebilis» göttlich-geistig eingepflanzt. Dieser befähigt ihn von nun an, Gottes heilig-heilendes Handeln immer dann zu vollziehen, wenn er nur die richtigen Worte und Materialien benutzt.

Ganz unabhängig davon ist, wieviel und wann er gesündigt hat und was für einen Lebensstil er pflegt. Auch brutal-aggressive, auch alkoholkranke, ja auch pädophile Priester, so die schreckliche Konsequenz, vermitteln Gottes Heilshandeln unter den Menschen, die ihnen anvertraut sind. Man lese etwa bei Daniel Pittet die perverse Geschichte, wie der Priester dem missbrauchten Jungen den Mund mit Weihwasser reinigt.

Es bedarf einer Neubewertung

Aus der Sicht des Verfassers bedarf deshalb sowohl das theologische Reden davon, dass der Priester «in persona Christi» handelt, wie die gesamte Theologie rings um das Weihesakrament dringend einer Neubewertung. Die katholische Kirche muss sich der Frage stellen, ob sie nicht sogar mit einer solchen Stilisierung und bewussten Abhebung ihrer Kleriker vom alltäglichen Leben gegen den im Neuen Testament greifbaren offensichtlichen Auftrag des Religionsgründers verstösst. Es fällt etwa auf, dass der schon genannte Jesuitenorden seine Gemeinschaften nicht mehr in Wüsten und Einsiedeleien, sondern mitten im prallen Leben der Städte am richtigen Ort sieht, nicht «abgehoben», sondern «integriert».

Der Weg zurück zu unserer Mutterreligion, dem Judentum, ist dann beschritten, wenn wir sehen, dass es die grossen Propheten und prophetischen Gestalten des Ersten Testamentes waren und sind, in denen für Aussenstehende der Schöpfergott, sein Wesen und sein Wille, eben seine «Heiligkeit», direkt erfahrbar waren. Und die Liste derer, die ihnen folgten, ist eindrücklich: Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer, Oscar Romero, Nelson Mandela, Dom Helder Camara …


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Autor

  • Heinz Angehrn

    Pfarrer im Ruhestand ||| Heinz Angehrn, Pfarrer im Ruhestand, Redaktion Schweizerische Kirchenzeitung (SKZ), ist katholischer Theologe und hat sein Studium in Luzern und München mit einer Arbeit zur Theologie des Alten Testaments abgeschlossen. Er ist katholischer Priester und hat in dieser Funktion seit über 40 Jahren in verschiedenen kirchlichen Tätigkeiten gearbeitet. Daneben ist er seit Beginn der Pubertät schwul.

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