Gender  ·  Katholizismus
Sarah Paciarelli

Eine Ode an die Ungleichheit

Sind Männer und Frauen gleich? Führt Gleichbehandlung immer zu Gerechtigkeit? Gibt es mehr als zwei Geschlechter? Was auf den ersten Blick selbstverständlich erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als komplexe Angelegenheit. Für den Schweizerischen Katholischen Frauenbund SKF, der das Geschlecht seiner Zielgruppe sogar im Namen trägt, ist das Thema Gender unumgänglich. 

Bei den Worten «Erzieher» oder «Astronaut» denken Sie vermutlich nicht an Frauen, oder? Wer eine männliche Berufsbezeichnung vernimmt, denkt unweigerlich an einen Mann, ergaben psycholinguistische Studien. Das macht die Kompetenzen, Errungenschaften und Interessen von Frauen sprachlich in vielen Bereichen unsichtbar. Unsere Sprache ist durchtränkt von Erwartungen an das jeweilige Geschecht: Wir sprechen vom «Bemuttern», wenn wir (Über)Fürsorglichkeit meinen und von Rabenmüttern, wenn diese nicht fürsorglich sind – oder nicht den Fürsorglichkeitserwartungen an Frauen entsprechen. Sind Sie sprachlich schon mal einem Rabenvater begegnet?

Die Zuschreibung unterschiedlicher Eigenschaften an Jungen und Mädchen beginnt schon im Kindesalter.

Von Geburt an ist Geschlecht eine Kategorie, die alle Bereiche des Lebens massgeblich prägt. Vorstellungen davon, was angeblich «typisch männlich» oder «typisch weiblich» sei, beeinflussen, wie wir Männer und Frauen wahrnehmen und wie unterschiedlich wir ihr Handeln und ihre Leistungen beurteilen. Der wissenschaftliche Ansatz dahinter betrachtet Geschlecht nicht als eine biologische Eigenschaft, sondern untersucht, wie soziale Annahmen über gewisse Gruppen von Menschen zustande kommen und wirken.

Soziolog:innen und Geschlechterforscher:innen untersuchen, wie geschlechtsspezifische Stereotype entstehen und wie die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung geschlechtsspezifischer Rollenerwartungen sich auswirkt. Die Zuschreibung unterschiedlicher Eigenschaften an Jungen und Mädchen beginnt schon im Kindesalter. Ein Blick in die die Spielzeugabteilungen genügt: Er blau, sie pink. Er verwegen und abenteuerlustig, sie lieblich und verträumt. Er Ritter, sie Prinzessin.

Ein zugespitztes Beispiel, wie Gender-Stereotype auf gesellschaftliche Verhältnisse wirken: Von Frauen wird Fürsorglichkeit erwartet und so wundert es nicht, dass es überwiegend Frauen sind, die Angehörigenpflege, Haushaltsführung und Kinderbetreuung übernehmen. Dass Frauen häufiger in Teilzeit arbeiten, um die von ihnen geleistete unbezahlte Sorgearbeit und Lohnarbeit unter einen Hut zu bringen. Dass Frauen verminderte Karrierechancen haben, weil sie ihre Lohnarbeit in geringeren Pensen verrichten oder zeitweise ganz aus dem Beruf aussteigen. Dass Frauen ein tieferes Renten- und Pensionsniveau aufweisen. Dass Frauen viel häufiger als Männer von Altersarmut betroffen sind. 

Vielfalt als göttliche Schöpfung

Lässt man sich auf das zunächst ungewohnte Betrachten von Geschlecht als soziales Konstrukt ein, wird auch deutlich, dass das (biologische) Geschlecht und die (soziale) Geschlechtsidentität nicht bei jedem Menschen übereinstimmen. Das biologische Geschlecht wird durch die die Zuweisung äusserer Geschlechtsmerkmale bestimmt. Diese frühe zweiteilige Unterscheidung von «männlich» und «weiblich» ist unter Umständen problematisch. Der SKF stützt sich auf die Geschlechterforschung und anerkennt die Vielfalt. Seit 2021 schliesst der SKF neben Männern und Frauen auch Menschen anderer Geschlechtsidentitäten ein. 

  1. Es gibt non-binäre Menschen, die sich nicht, nicht dauerhaft oder nicht ausschliesslich mit den binären Geschlechtsidentitäten «männlich» und «weiblich» identifizieren können oder wollen. 
  2. Es gibt intergeschlechtliche Menschen, die biologisch nicht anhand der Bestimmung äusserer Geschlechtsmerkmale eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können. 
  3. Es gibt trans Menschen, deren eindeutig bei der Geburt bestimmte äussere Geschlechtsmerkmale nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen. 

Alle Menschen sind gleich, denn alle Menschen sind Gottes Ebenbild. Theologisch versteht der SKF die Gottesebenbildlichkeit als die Übernahme von Verantwortung. Als Bild Gottes geschaffen, repräsentieren die Menschen das Göttliche in der Welt, indem sie verantwortlich mit der Schöpfung umgehen – unabhängig von Geschlecht, Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung. Diese Perspektive zeigte sich im Rahmen der Abstimmung über die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die der SKF befürwortete. Der Verbandsvorstand verkündete: «Wir teilen die christliche Sicht auf die Ehe aus Ausdruck einer verantwortungsvollen Liebe zweier Erwachsener». 

Alle gleich, alles gerecht?

Hinter den Begriffen Gleichheit, Gleichberechtigung und Gleichstellung verbergen sich unterschiedliche Ansprüche an Gerechtigkeit. Stellen Sie sich einen Kirschbaum vor und darunter zwei Menschen. Beide haben denselben Zugang zum Kirschgarten, pflücken zur selben Tageszeit, vom selben Baum mit einer Trittleiter der gleichen Höhe. Während eine Person mit ihren 190 cm gross gewachsen ist und problemlos auch ohne Trittleiter an die saftigen Kirschen kommt, ist die andere nur 150 cm gross und kann die Früchte selbst auf Zehenspitzen kaum erreichen. Beide werden gleich behandelt und doch sind ihre Körbe am Ende des Tages nicht gleich voll. Es zeigt sich: Gleichbehandlung ist nicht immer gerechter. Vielmehr ist es das Anerkennen unserer Ungleichheit (im Sinne von Vielfalt), das uns für die unterschiedlichen Privilegien und Benachteiligungen sensibilisiert. Erst die Gleichheit der Chancen ermöglicht Gerechtigkeit. 

Im Juni 2022 findet in der Kirche St. Peter und Paul in Zürich ein ökumenischer Gottesdienst zur Pride statt.
Links im Bild ist Urs Bertschinger, Mitglied der Projektleitung Regenbogenkirche/EMK Zürich 2. Rechts zu sehen ist Melanie Handschuh, christkatholische Pfarrerin.
© Vera Rüttimann

Gleichstellung meint Massnahmen für bestimmte Menschengruppen und zielt auf die Angleichung ungleicher Voraussetzungen – die trotz Gleichberechtigung existieren – ab.

Gleichberechtigung im Sinne der Gleichheit vor dem Gesetz ist eine der grössten Errungenschaften der Moderne. Dennoch reichen gleiche Rechte manchmal nicht aus, wie die bis heute existierenden, geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Lohn, der Verteilung von Sorgearbeit und Repräsentation in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion zeigen. Gleichstellung muss her! 

Gleichstellung meint Massnahmen für bestimmte Menschengruppen und zielt auf die Angleichung ungleicher Voraussetzungen – die trotz Gleichberechtigung existieren – ab. Eine Gleichstellungsmassnahme für die Kirschenpflücker:innen könnte sein, kleineren Menschen eine höhere Trittleiter zur Verfügung zu stellen. Grosse und kleine Menschen würden auf diese Weise zwar ungleich behandelt werden, aber sie hätten gleiche Chancen auf gleiche Ergebnisse. 

Einer gerechten Welt verpflichtet

Man mag es heute kaum glauben, doch es gab eine Zeit, in der es den SKF nicht störte, dass Männer und Frauen nicht gleichberechtigt waren. Der Frauenbund existiert seit über 100 Jahren und ist ebenso lang den Interessen der Frau verpflichtet. Was diese Interessen sind, mit welchen Narrativen sie legitimiert und auf welche Weise sie vertreten werden, wandelte sich mit der Zeit. Die Haltung zum Frauenstimm- und Wahlrecht illustriert das auf wunderbare Weise.

1919 wird das Frauenstimmrecht im SKF noch als Überforderung der Frau, gar als Gefahr für Leib und Seele angesehen. 1923 publiziert Argumente, die aufzeigen sollen, weshalb eine gute Frau und gute Katholikin niemals für das Stimmrecht eintreten könne. 1958 erfolgt das offizielle «Ja» zum Frauenstimmrecht seitens des SKF. Zur ersten eidgenössischen Abstimmung kommt es 1959, doch die ausschliesslich männlichen Stimmberechtigten lehnen die Vorlage zu zwei Dritteln ab. Bei der zweiten Abstimmung 1971 hält sich der sich der SKF aus internen, politischen Gründen öffentlich zurück und gibt keine Empfehlung ab. Stattdessen sensibilisiert er durch Bildungsangebote und unterstützt seine Mitglieder in der Meinungsbildung. 

Gleichberechtigung. Punkt. Amen.

Der Frauenbund befand sich lange Zeit im Spannungsverhältnis zwischen Traditionsbewusstsein und Aufbruchstimmung. Heute versteht er sich als Reformkraft innerhalb und ausserhalb der katholischen Kirche und ist einer Politik des Einmischens verpflichtet. Der SKF nimmt seine Verantwortung dort wahr, wo Menschen von gleichberechtigter Teilhabe ausgeschlossen werden. Dazu gehören Frauen, nicht-geweihte, geschiedene und homosexuelle Menschen gleichermassen.

Missbrauchsskandale, unzureichende Aufarbeitung und Klerikalismus haben zu einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust in der katholischen Kirche geführt. Der SKF fordert nicht bloss die Zulassung von Frauen zu allen Ämtern, sondern engagiert sich für ein einen umfassenden Strukturwandel und ein synodales Miteinander auf Augenhöhe. Ist die katholische Kirche gerecht, wenn sie gleichwürdige Männer und Frauen nicht gleichberechtigt behandelt? Aus Sicht des SKF sind besonders Frauen, die unter der fehlenden Gleichberechtigung leiden. Sie haben nicht dieselben Rechte und können ihre pastoralen Kompetenzen nur unzureichend in den Dienst der Kirche stellen. Für ein gleiches Miteinander muss endlich die gleichberechtigte Teilhabe aller Geschlechter möglich sein. Daran wird sich prüfen, ob die katholische Kirche zu einer wahrhaftigen Glaubwürdigkeit bereit ist und der Vielfalt der Schöpfung mit Demut begegnet.

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Autor

  • Sarah Paciarelli

    Soziologin und Kommunikationswissenschaftlerin ||| Sarah Paciarelli, Jahrgang 1986, studierte Soziologie und Kommunikation. Die gebürtige Berlinerin mit italienisch-polnischen Wurzeln lebt in Zürich und gestaltet die Kommunikation des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds SKF in Luzern.

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