Judentum  ·  Tod  ·  Todesrituale
Uri Rothschild

Abschied im Takt mit der Religion

Unmittelbar nach dem Tod eines jüdischen Mitmenschen setzt sich traditionell ein gut koordiniertes und schnell handelndes Netzwerk in Bewegung. Innert wenigen Stunden wird der Leichnam abgeholt und für seine letzte Reise vorbereitet. Gleichzeitig organisieren die Gemeinde und Freunde der Angehörigen die Beerdigung sowie die direkt danach beginnende Trauerwoche. Doch der Reihe nach …

«Wie bitte? Die Beerdigung hat schon stattgefunden? Aber sie ist doch erst gestern gestorben?» Sätze wie diese kriegen Juden nicht selten zu hören, wenn es um den Umgang mit beziehungsweise um die Abläufe nach dem Tod geht. In der Tat werden im Judentum Tote traditionell sehr schnell begraben; oftmals sogar noch am Tag des Ablebens. In Kulturen, in denen Beerdigungen erst nach ein paar Tagen oder Wochen stattfinden, stösst diese schnelle Praxis mitunter auch da und dort auf Unverständnis und Begriffe wie die «jüdische Hast» leiten sich zum Teil aus diesem Unverständnis ab.

Doch bei genauerer Betrachtung zeigt ebendiese Praxis gut auf, welche zwei Elemente im Judentum im Zentrum stehen im Umgang mit dem Tod und in den Abläufen nach dem Tod eines Mitmenschen: Der Respekt vor dem/der Verstorbenen und dem Leichnam sowie der Fokus auf die Gefühle der Hinterbliebenen. 

Alles ist gleich für alle

Schauen wir zuerst auf den Weg des Leichnams vom Todeszeitpunkt bis zur Beerdigung. Sobald die Gemeinde informiert wurde, wird sogleich der Transport des Leichnams organisiert; er wird dorthin gebracht, wo die «Tahara» (übersetzt: Reinheit; frei: Leichenwaschung) stattfindet. An dieser wird der Leichnam gewaschen, gekleidet und eingesargt. Die Tahara wird meist von Freiwilligen durchgeführt, welche in der «Chewra Kadischa» (übersetzt: Heilige Gesellschaft) engagiert sind. Sie lassen oftmals Alltag und Familie spontan liegen um die Tahara möglichst rasch durchzuführen. Denn man will den Toten – aber auch die Hinterbliebenen – nicht warten lassen. 

Der im folgenden beschriebene Vorgang unterscheidet sich zwischen verschiedenen Gemeinden leicht; wird aber für alle Verstorbenen innerhalb einer Gemeinde genau gleich durchgeführt; unabhängig von ihrem Status, Reichtum oder Alter.

Bevor die Tahara beginnt, sprechen die Teilnehmer – bei weiblichen Leichnamen sind es Frauen und bei männlichen sind es Männer – gemeinsam ein Gebet. An vielen Orten wird der Moment auch genutzt, um sich beim Toten vorab zu entschuldigen, falls man im Folgenden etwas falsch oder nicht mit der nötigen Vorsicht machen sollte.

Zu Beginn wird der Leichnam entkleidet und mit einem Leintuch bedeckt. Über dieses wird in mehreren Schritten Wasser gegossen. Und mit einem weiteren Leintuch wird der Körper abgetrocknet. Die Waschung selbst hat einen hohen symbolischen Charakter und der Körper soll «rein» sein für seine Bestattung und die nächste Welt. Doch der Vorgang hat auch einen praktischen Charakter, denn der Körper wird sauber gewaschen. Dafür wird der nackte Körper nie direkt angefasst, sondern grundsätzlich nur von Wasser und Leintüchern berührt. Auch bleiben Geschlechtsteile und Gesicht stets bedeckt – aus Respekt gegenüber dem oder der Verstorbenen. Aus dem gleichen Respekt wird während des ganzen Prozesses – bis der Körper gewaschen, angezogen und eingesargt ist – nur das Nötigste gesprochen und es werden keine Gegenstände über den Toten hinweg gereicht.

Persönliche Gegenstände können nicht mitgegeben werden, um die Gleichheit für alle zu wahren.

Nach der Waschung folgt das Ankleiden in ein schlichtes, weisses Leinengewand. Auch dieses ist für alle gleich. Wenn es die Familie wünscht, dürfen sie dem Verstorbenen die «Socken» des Gewandes anziehen und so ein Teil des Prozesses sein. Es gibt hier noch viele verschiedene Traditionen, in welchen dem Toten zum Beispiel noch Tonscherben in die Hände oder auf die Augen gelegt werden. In den meisten Gemeinden wird zudem Erde aus dem Heiligen Land mitgegeben; entweder über die Augen gestreut oder unter den Kopf gelegt. Persönliche Gegenstände können nicht mitgegeben werden, um die Gleichheit für alle zu wahren.

Darauf wird der Leichnam in einen «Talit» (Gebetsmantel) eingewickelt und je nach Gemeinde anschliessend in ein Leintuch. Und so wird er schliesslich in den Sarg gelegt. Auch hier wird für alle der schlichteste Holzsarg genommen; in Israel wird traditionell kein Sarg verwendet. 

Im ganzen Prozess steht stets die Unversehrtheit und der Respekt vor dem/der Verstorbenen im Vordergrund. So muss der Körper stets mit grosser Vorsicht bewegt werden, Kremationen sind gemäss dem jüdischen Glauben nicht gestattet und die Totenruhe währt für immer. Es werden keine Gräber ausgehoben.

Diese Respekterweisungen gelten neben den Verstorbenen auch den Angehörigen, die ihre geliebte Person stets in guten Händen wissen sollen.

© Uri Rothschild

Die Beerdigung

Der grösste Unterschied zu anderen Beerdigungen liegt wohl darin, dass diese so schnell wie möglich stattfindet. Oftmals am Todestag oder am Tag darauf. Und interessanterweise bedeutet dies nicht, dass an jüdischen Beerdigungen nur wenige Leute teilnehmen, denn die jüdische Gesellschaft hat sich auf diese rasch stattfindenden Beerdigungen eingestellt und nimmt oft in grosser Zahl teil.

Die kurze Zeit zwischen dem Tod und der Beerdigung gilt als Respekterweisung gegenüber dem Verstorbenen, dessen Leichnam möglichst bald der Erde zurückgegeben werden soll. Zudem wird hier auch versucht sicherzustellen, dass die Hinterbliebenen bald einen ersten Abschluss finden und mit der Trauer beginnen können.

Vor der Beerdigung reissen die Angehörigen einen kleinen Riss in ihr Hemd; meist unterstützt von einem Gemeindemitglied oder einem Freund. Dies als Zeichen der Trauer und dafür, dass materielle Werte in den Hintergrund treten für den Moment. Der Brauch symbolisiert aber auch, dass in unserem Herzen ein Riss entstanden ist, den wir nie wieder ganz herstellen können. Der Brauch reicht bis in die Bibel zurück wo er meist direkt beim Erhalt einer Todesnachricht durchgeführt wurde. Manche Gemeinden halten dies auch heute noch so.

Die Zeremonie selbst kann je nach Gemeinde sehr verschieden aussehen; wenn auch gewisse Gebete fast überall gleich gesprochen werden. So steht am Ende der Beerdigung im Normalfall das «Kaddisch» Trauergebet, welches meist von den Angehörigen gesprochen wird. In vielen Gemeinden bilden die Gäste danach ein Spalier, durch welches die Trauernden gehen und ihnen erste Worte des Trostes ausgesprochen werden.

Aufgefangen und begleitet

Womit wir bei der Zeit nach der Beerdigung angelangt sind respektive bei der Trauer der Hinterbliebenen. Diese stellt uns Menschen fast immer vor grosse Herausforderungen. Sei es die Überwältigung direkt nach dem Tod, wo aber auch sofort Erledigungen anstehen; oder beim Wiedereinstieg in den Alltag, welcher nicht zu schnell aber auch nicht zu langsam erfolgen sollte; oder in jeder anderen Phase der Trauer und Verarbeitung.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, hat das Judentum ein mehrstufiges System entwickelt, welches die Trauernden sofort auffängt und sie langsam und schrittweise in den Alltag zurückführt. Die wichtigsten Schritte sollen hier kurz skizziert werden.

«Onen»

Dieser Status tritt mit dem Tod des Angehörigen ein und endet nach dessen Beerdigung. Obwohl man in dieser Zeit meist unter Schock steht, stehen dennoch Erledigungen an wie beispielsweise die Organisation der Beerdigung. Aus diesem Grund gewährt die Religion dem Trauernden eine kleine Auszeit und die Gebote gelten für ihn/sie nicht; er/sie muss beispielsweise nicht beten, keine Segensprüche sprechen und so weiter; Verbote bleiben natürlich in Kraft. Diese Pause von den Geboten soll auch einen kurzfristigen Abstand zu Gott schaffen, um die potentiell belastete Beziehung zu Gott in diesem Moment etwas zu entlasten.

«Schiwa»

Direkt nach der Beerdigung beginnt die Schiwa-Woche, die Trauerwoche. Die Kinder, Eltern, Ehepartner und Geschwister des/der Verstorbenen sitzen (meist) gemeinsam im Trauerhaus und empfangen Trauerbesuche. Die Ausnahme bildet der Schabbat, an welchem traditionell nicht getrauert werden soll. 

Wichtig ist auch, dass die Trauernden umsorgt werden müssen. Sie bereiten ihr Essen nicht selbst zu, bestellen den Haushalt nicht selbst, arbeiten nicht und so weiter.

Die Trauernden sitzen auf sehr tiefen Stühlen oder am Boden; dies als Zeichen der Trauer. Die Woche ist begleitet von weiteren Traditionen; so werden alle Spiegel im Haus abgedeckt, wofür es viele Erklärungen gibt – zum Beispiel weniger Fokus auf sich selbst und auf Äusserlichkeiten. Wichtig ist auch, dass die Trauernden umsorgt werden müssen. Sie bereiten ihr Essen nicht selbst zu, bestellen den Haushalt nicht selbst, arbeiten nicht und so weiter. Auch gehen sie grundsätzlich nicht aus dem Haus; weshalb sämtliche Gebete in dieser Woche auch im Trauerhaus durchgeführt werden. Sie hören keine Musik, rasieren sich nicht beziehungsweise schneiden sich die Haare nicht, tragen keine eleganten Kleider und einiges mehr.  


Dieser sehr geschützte Rahmen soll den Trauernden genug Raum und Zeit geben, um mit der Verarbeitung zu beginnen. Zudem bietet er der Gemeinde einen angemessenen Raum für Anteilnahme; der Besuch einer solchen «Schiwa» gilt als besonders wichtige Geste. Und der klar definierte Abschluss dieser Zeit bietet den Trauernden schliesslich einen Fixpunkt, der hilft, den Wiedereinstieg in den Alltag nicht zu verpassen.

«Schloschim»

In den kommenden rund drei Wochen wird der Trauermonat abgeschlossen. Es gelten gelockerte Einschränkungen für die Angehörigen und die Arbeit kann wiederaufgenommen werden. Rasiert wird sich aber zum Beispiel noch nicht. Diesen Trauermonat schliessen alle direkten Angehörigen ab (Kinder, Eltern, Geschwister und Ehepartner).

«Awelut»

Nach dem Trauermonat enden die Vorschriften für alle Angehörigen ausser für die Kinder des/der Verstorbenen. Für sie folgt das Trauerjahr, in welchem wiederum reduzierte Einschränkungen gelten. Haare schneiden ist zum Beispiel wieder erlaubt. Weiterhin wird aber verzichtet auf Musik, gesellschaftliche Anlässe, öffentliche Gebetsfunktionen wie vorbeten, kaufen und tragen von neuen Kleidern und noch weitere Vorschriften. Während dieses Jahres sagen die Kinder des/der Verstorbenen täglich und bei jedem öffentlichen Gebet das Trauergebet «Kaddisch» welches v.a. von der Lobpreisung Gottes handelt, welchem man trotz des Schicksalsschlags sein Vertrauen ausspricht.

«Jahrzeit»

Ist das Trauerjahr abgeschlossen, endet die eigentliche Trauerzeit und der reguläre Alltag beginnt wieder voll; inklusive Musik, gesellschaftlichen Anlässen/Funktionen und so weiter. Einzig jährlich am Todestag findet die so genannte «Jahrzeit» statt. Es wird auch dann das «Kaddisch» gesprochen und es wird des verlorenen Menschen gedacht. Der Tag ist aber nicht ein klassischer Trauertag, sondern eher eine Zeit, in der des Lebens des/der Verstorbenen gedacht wird.

Und dieses sich «in die Hände dieser Rituale und Vorschriften zu begeben» scheint für die meisten ein Auffangnetz zu bieten, in welchem sie sich wohlfühlen.

Wir sehen also, dass die Rituale und Vorschriften rund um die Trauer sehr engmaschig beginnen und dann in den Schritten Woche/Monat/Jahr langsam gelockert werden. So soll sichergestellt werden, dass die Zeit der Trauer nicht ewig anhält aber auch nicht zu kurz ausfällt. Natürlich sind die Emotionen jedes Menschen verschieden und es könnte angemerkt werden, dass man doch jeden so trauern lassen soll, wie er will. Doch wie eingangs erwähnt, ist es auch hier eines der Ziele, dass möglichst alles gleich ist für alle. Und dieses sich «in die Hände dieser Rituale und Vorschriften zu begeben» scheint für die meisten ein Auffangnetz zu bieten, in welchem sie sich wohlfühlen. So zumindest berichten es die allermeisten Trauernden aus verschiedensten Gemeinden.

Respekt und Dankbarkeit

Die Reise nach dem Tod eines Juden oder einer Jüdin beginnt somit beim höchsten Respekt vor dem/der Verstorbenen sowie dessen/deren Körper und endet in einem vorsichtig abgestimmten Prozess für die Trauer. Das Judentum versucht hier den Bogen zwischen Leben und Tod zu spannen; sowie der Tatsache gerecht zu werden, dass der Tod zwar traurig ist, aber nicht immer ein Drama – und vor allem nicht ignoriert werden kann und soll.


Weitere Artikel

Uri Rothschild ist in Basel aufgewachsen und wohnt in Zürich mit seiner Frau Jael und ihren 4 Kindern. In der jüdischen Gemeinde Zürich ist er in vielen Bereichen tätig; u.a. präsidiert er die «Chewra Kadischa» (zuständig für Beerdigungen) und vertritt zudem den Gemeinderabbiner bei Beerdigungen, Steinstellungen und Trauerbegleitungen. Die Tätigkeit in diesem Bereich hat er von seinen Eltern und Grosseltern schon früh mit auf den Weg bekommen.

0 Gedanken zu „Abschied im Takt mit der Religion

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst diese HTML-Tags und -Attribute verwenden:

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.