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Omair Kedidi

Am Rande mittendrin

Zur Zeit der Gründungsväter und -mütter waren muslimische Vereine in der Schweiz Brücken zur Heimat in der Fremde. Doch die zweite und dritte Generation ist auch – oder vor allem – hier zuhause. Die Bedürfnisse haben sich verändert. Unter den jungen Musliminnen und Muslimen herrscht eine Aufbruchstimmung. Der Generationenwechsel in den muslimischen Vereinen birgt Konfliktpotenzial, aber auch Chancen für künftige Schweizer Musliminnen und Muslime.

Als die Schweiz in den 1970er Jahren die sogenannten Saisoniers aus den Balkanstaaten und der Türkei holte, dachten viele nicht daran, dass sie in 50 Jahren mit ihren Kindern und Enkelkindern, um den Raclette-Grill versammelt, Weihnachten verbringen würden. Einige hatten die Möglichkeit, mit dem Familiennachzug ihre Familien in die Schweiz zu holen. Andere gründeten in der Schweiz Familien. Ihre Kinder besuchten in ihrem neuen Zuhause die Schule und wurden schnell Teil der Gesellschaft. Die erste Generation bemerkte, dass ihre Kinder stärker in der Schweiz beheimatet waren als sie selbst. In einem Land, in dem sie sich nicht zugehörig fühlten, wo sie als Fremdkörper der Kategorie B eingeteilt waren, wünschten sich die Eltern, ihren Kindern ein Stück Heimat mitzugeben. Dies hofften sie durch die Umwandlung der Vereine und Strukturen, die bisher primär der Freizeitgestaltung im kulturellen Rahmen gewidmet waren, in Vereinigungen zur kulturellen Erziehung der Kinder zu erreichen. 

In der Zwischenzeit ist die junge Generation erwachsen geworden, hat eigene Identitäten und Bedürfnisse entwickelt, und von den Vereinen, die damals gegründet wurden, vermögen es viele nicht mehr, den jungen Erwachsenen gerecht zu werden und ihnen ebendieses Heimatgefühl zu vermitteln. Die junge Generation sieht sich deswegen im Umgang mit ihnen mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert.

Unvollständige Strukturen

Die Strukturen dieser Vereine hängen stets vom Engagement einiger weniger Akteure ab, die zugleich auch das gesamte Know-How erwarben. Es sind immer dieselben Personen, die diese Aufgaben seit Jahrzehnten ausführen. Ihre einzige Qualifikation war zunächst ihre Motivation, zu der im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte noch die Erfahrung dazukam. Da die Vereinsarbeit in der Regel auf freiwilliger Basis geschah und die Ressourcen entsprechend knapp waren, war der Professionalisierungsgrad auch entsprechend tief. So gab es intern, wie es bei Vereinen hierzulande oft der Fall ist, keine klaren Kompetenzabgrenzungen, da man alle Aufgaben im Vorstand gemeinsam beriet und entsprechend den Kapazitäten zuteilte.  

Alles in allem gibt es wenig qualifiziertes Religionspersonal, dies unter anderem, weil es keine islamische Theologie an Schweizer Hochschulen gibt.

Aus dieser mangelnden Erfahrung im schweizerischen Vereinswesen ergab es sich, dass die Vereinsstrukturen nur mühsam und teilweise ungenügend aufgebaut wurden. Ehrenamtliche Tätigkeit war allen bekannt, denn seit jeher übernehmen Imame sowohl theologische wie auch seelsorgerische und sozialarbeiterische Tätigkeiten in den Moscheen. Diese Arbeit, die von ihrer Professionalität lebt, wurde in der Schweiz von ehrenamtlich tätigen Musliminnen und Muslimen übernommen.

Viele Vereine hatten wiederholt mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Zwar wären diese mit einer professionellen Buchhaltung vielleicht vermeidbar gewesen, doch war dies bei der damaligen sozioökonomischen Situierung der Mitglieder und ohne staatliche Beiträge nicht möglich. 

Alles in allem gibt es wenig qualifiziertes Religionspersonal, dies unter anderem, weil es keine islamische Theologie an Schweizer Hochschulen gibt. Wobei das Schweizer Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Universität Fribourg, obschon dessen Eröffnung ein grosser und bedeutender Schritt war, einerseits keine Theologinnen und Theologen ausbildet und andererseits aufgrund seiner Gründung im Jahr 2015 erst nach der aktiven Phase der Gründergeneration entstand. Dies führt zu einer Überbelastung der Imame, die nicht nur ihre Rollen als Vorbeter erfüllen, sondern auch die Funktionen von Sozialarbeitern, Seelsorgern und Lehrpersonen übernehmen müssen. Zudem sind nur wenige Musliminnen und Muslime in der Schweiz Mitglied eines islamischen Vereins  und die Vereine leben von der unbezahlten Arbeit von engagierten Mitgliedern. Nicht zuletzt fehlt es an Ressourcen für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Inmitten dieser Punkte sollte das enorme persönliche Engagement von zumeist vor bewaffneten Konflikten geflüchteten und traumatisierten Menschen ohne jegliche Kenntnisse von Sprache, Kultur oder Gesetz nicht vergessen werden. Im Gegenteil sollte die junge Generation das Wirken ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger schätzen und würdigen, denn ihre Arbeit ist heute noch die Grundlage, auf welcher die Organisationen und die muslimische Vereinslandschaft aufbauen können.

Netzwerktreffen des Young Swiss Muslim Network (YSMN) 2021 im Haus der Religionen in Bern.

Generationenwechsel

It’s the nature of time
That the old ways must give in;
It’s the nature of time
That the new ways come in sin;
When the new meets the old
It always ends the ancient ways;
And as history told
The old ways go out in a blaze
.
Shiroyama von der Heavy Metal Band Sabaton

Es ist die Natur der Zeit
Dass die alten Wege weichen müssen;
Es ist die Natur der Zeit
Dass die neuen Wege als Sünde erscheinen;
Wenn das Neue auf das Alte trifft
Ist es stets das Ende der alten Wege;
Und wie die Geschichte lehrt
sterben die alten Wege in einem Flammenmeer.

Freie Übersetzung

Auch wenn nicht immer so dramatisch wie die hier von Sabaton beschriebene Schlacht von Shiroyama, ist der Übergang von einer Generation zur anderen doch häufig von Schwierigkeiten geprägt. Die Gründe dafür sind vielschichtig und bei den Ursachen handelt es sich oft um verschiedene Perspektiven, die aufeinandertreffen. 

Als die ältere Generation die verschiedenen Organisationen gründete, war ihr Blick oft auf die Heimat gerichtet. Die Strukturen, die sie errichteten, waren dazu gedacht, die Verbindung zu ihren Kulturen zu stärken und aufrechtzuerhalten. 

Heute sieht es so aus, dass über 80 Prozent der zweiten Generation entweder in der Schweiz geboren oder hier sozialisiert ist. Kulturell, sprachlich und religionspraktisch vielfältig aufgewachsen, reichen dieser Generation die homogenen Strukturen der älteren Generation nicht mehr. Der dadurch bedingte Wandel trifft auf verschiedene Reaktionen. Wo es gute Beispiele für den Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern jüngerer Musliminnen und Muslime gibt, existieren auch Beispiele junger Schweizer Musliminnen und Muslime, die sich von den Vereinen ausgegrenzt fühlen, ihre Ideen blockiert und Bedürfnisse übergangen sehen.

Oft fühlen sie sich auch von den Vereinsgründerinnen und -gründern, die sie beim Aufwachsen erlebt haben, belächelt und nicht mit dem Ernst behandelt, den sie sich gewohnt sind und sie ihrer Meinung nach auf jeden Fall verdienten. Ein Gefühl, das viele dieser jungen engagierten Erwachsenen teilen, ist jenes, nicht verstanden zu werden. Denn es ist nicht ihr Ziel, die bestehenden Strukturen an sich zu reissen und ihrem Zweck zu entfremden. Ihre Zielpersonen sind die gleichen wie jene der Gründerinnen und Gründer: Es sind ihre Altersgenossen, die sie seit ihrer Kindheit von diesen Vereinen und Versammlungen kennen und ansprechen wollen. Es sind auch die Kinder, die hier geboren sind und deren Herausforderungen sie besser verstehen und deswegen unterstützen möchten. 

So wird unter anderem diskutiert, ob gewisse Anlässe doch nicht lieber auf Deutsch als in der «Muttersprache» durchgeführt werden sollten.

In diesen Vereien werden die Ursachen selten direkt angesprochen, da ihre Manifestationen nicht immer direkt auf sie schliessen lassen. So wird unter anderem diskutiert, ob gewisse Anlässe doch nicht lieber auf Deutsch als in der «Muttersprache» durchgeführt werden sollten. Die ältere Generation entgegnet dann regelmässig, dass Zweck der Veranstaltungen die Verbindung mit der Heimat ist, wozu auch die Muttersprache gehört. Was hier beispielsweise nicht besprochen wird, ist die hybride Identität der Generation, die hier aufgewachsen oder sogar geboren ist, denn spätestens, wenn man seinen Lebenslauf erstellen will, stellt sich bei der Sektion der Sprachen die Frage, was man bei Deutsch schreiben möchte: Schreibt man Muttersprache oder lässt man es ganz aus? Beide Möglichkeiten lassen denselben Schluss zu: Man beherrscht die deutsche Sprache, wie jemand, der zuhause Deutsch spricht. 

Das Beispiel mit der Sprache ist nur eines von vielen, wo es auf beiden Seiten zu Frustration mit dem Gegenüber kommt. Und wie es in der Realität häufig der Fall ist, hat keiner der beiden Seiten ganz recht. Sowohl die ältere als auch die jüngere Generation haben wichtige Aspekte im Sinn, doch setzen sie unterschiedliche Gewichtungen. Die einen erkennen den Wert der eigenen Geschichte und Herkunft als Bestandteil der Identität und wollen einen positiven Bezug dazu schaffen, und die anderen sehen die neu dazugekommenen Teile der Identität und wissen aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, als Muslimin und Muslim in der Schweiz aufzuwachsen. Es braucht auf beiden Seiten mehr Verständnis für das Gegenüber, den Willen, für das Wohl der Allgemeinheit auch von der eigenen Meinung abzulassen, und die Einsicht, dass sowohl die Lebenserfahrung der Älteren als auch die Dynamik der Jüngeren für die Entwicklung einer nachhaltigen Organisation notwendig sind. 

Netzwerktreffen des Young Swiss Muslim Network (YSMN) 2021 im Haus der Religionen in Bern.

Ungewohntes Rampenlicht

Die mediale Berichterstattung über Musliminnen und Muslime in der Schweiz ist unverhältnismässig zum Anteil der muslimischen Bevölkerung. Zudem werden Themen aufgegriffen, die nicht zum Alltag der Mehrheit der Schweizer Musliminnen und Muslime oder der Musliminnen und Muslime weltweit gehören. 

2018 veröffentlichte die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus eine Studie zur medialen Berichterstattung über Muslime in der Schweiz. Sie kam zum Schluss, dass in den letzten Jahren die medialen Beiträge zusehends Distanz zu Musliminnen und Muslimen bewirkten. So waren 2017 Radikalisierung und Terrorismus Thema von mehr als der Hälfte der untersuchten Beiträge. Zudem werden Personen in der medialen Berichterstattung zu Repräsentantinnen und Repräsentanten von Musliminnen und Muslimen auserkoren, von denen sich die Meisten nicht repräsentiert fühlen.

Diese Faktoren führen zu Unbehagen bei den Schweizer Musliminnen und Muslimen gegenüber Medien. Sie fühlen sich falsch dargestellt und fehlrepräsentiert. Obwohl Musliminnen und Muslime wiederholt die Tagesaktualität sind, fehlt es innerhalb der Medienlandschaft an muslimischer Repräsentanz. So gibt es kaum muslimische Expertinnen und Experten, Journalistinnen und Journalistien oder Redakeurinnen und Redakteure. In der Berichterstattung sind Musliminnen und Muslime sowohl am Rande des Geschehens wie auch mittendrin; ein lebendes Oxymoron.

Früher waren sie da, um die Brücke zur kulturellen und religiösen Heimat zu schaffen. Heute aber müssen sie zusätzlich Öffentlichkeitsarbeit betreiben, um künftigen Generationen einen Platz in der Gesellschaft zu sichern, der nicht mehr durch Ausgrenzung geprägt ist. 

Für viele junge Musliminnen und Muslime führt dieser Umstand zu einem Gefühl der Ohnmacht. Egal, was sie für die Gesellschaft machen, und egal, wie sie ihr nützen: sobald etwas geschieht, das zu einer Tagesaktualität wird, vergisst die Mehrheitsgesellschaft all das Gute der Vergangenheit und fängt wieder an, darüber zu debattieren, ob ihre Religion Teil der Schweiz sein darf. 

Ähnlich fühlen sich auch die muslimischen Vereine, an die sich sowohl die betroffenen Musliminnen und Muslime als auch die interessierte und kritisierende Öffentlichkeit wenden. Früher waren sie da, um die Brücke zur kulturellen und religiösen Heimat zu schaffen. Heute aber müssen sie zusätzlich Öffentlichkeitsarbeit betreiben, um künftigen Generationen einen Platz in der Gesellschaft zu sichern, der nicht mehr durch Ausgrenzung geprägt ist. 

Die Herausforderungen der jungen Musliminnen und Muslime bestehen im Schaffen von Räumen für sich, sowohl in der Gesamtgesellschaft als auch innerhalb ihrer Gemeinschaften. Ob sich die Räume innerhalb der muslimischen Gemeinschaften in den bereits bestehenden Strukturen der kulturellen und religiösen Vereine befinden oder ganz neu geschaffen werden müssen, kann nicht abschliessend beantwortet werden, denn dies hängt von vielen Faktoren ab und muss für jeden Einzelfall entsprechend geklärt werden. In der hier vertretenen Meinung ist die Zusammenarbeit mit den bestehenden Organisationen der Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung der Vereinslandschaft, denn die personellen und ideellen Beziehungen zwischen der Gründer- und der jungen Generation sind zu verflochten, als dass sie genügend sauber voneinander getrennt werden könnten. Und was das Schaffen von Räumen innerhalb der Gesellschaft angeht, so gilt hier ohne Zweifel der Weg der Kooperation, denn die Schaffung von Parallelgesellschaften führt nur zu mehr Vorurteilen und Antagonismen. 


Im Herbst 2021 trafen sich im Haus der Religionen in Bern im Rahmen des alljährlichen Networking Events des Young Swiss Muslim Network junge Musliminnen und Muslime, die sich in der ganzen Schweiz in verschiedensten Formen engagieren, um sich über die aktuellen Herausforderungen der Schweizer Musliminnen und Muslime auszutauschen. Dieser Artikel entstand aus der gemeinsamen Reflexion. 

Omair Kedidi ist Aktiv- und ehemaliges Vorstandsmitglied des muslimischen Studierendenverbands des Kantons Zürich (Muslim Student Association Zurich, MSAZ) und Projektleiter für Organisationsentwicklung bei der Vereingung der Islamischen Organisationen Zürich (VIOZ). 

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Autor

  • Omair Kedidi

    Projektleiter für Organisationsentwicklung bei der Vereinigung der Islamischen Organisationen Zürich (VIOZ) ||| Omair Kedidi ist Aktiv- und ehemaliges Vorstandsmitglied des muslimischen Studierendenverbands des Kantons Zürich (Muslim Student Association Zurich, MSAZ) und Projektleiter für Organisationsentwicklung bei der Vereinigung der Islamischen Organisationen Zürich (VIOZ).

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