Islam  ·  Meinung  ·  Reformation
Esther Fouzi

Braucht der Islam einen Luther?

500 Jahre sind seit Luther und der Reformation des Christentums vergangen. Oft hört man Stimmen, jetzt seien wir Muslime an der Reihe. Im ersten Moment bin ich versucht, patzig zu fragen: Warum macht man uns Vorschriften? Sind wir nicht selber dafür verantwortlich? Haben die Muslime den Christen je vorgeschrieben, wann sie was zu reformieren hätten? 

Luther beim Studium der Bibel, © Wim van’t Einde, unsplash

Nun gut, ich will versuchen, gerecht zu sein. Ich verstehe den Antrieb hinter diesen Forderungen. «Der Islam» ist im Moment schwer erträglich, und damit meine ich die religiös definierte Politik in vielen sogenannt islamischen Staaten, allen voran dem IS, aber auch die im Namen Allahs begangenen Attentate. Wahrscheinlich hofft man unbewusst, dass eine reformierte Version des Islams kompatibler wäre mit dem Rest der Welt. Braucht der Islam überhaupt eine Reformation? Da gehen die Meinungen bereits auseinander. Falls ja, welche? Da gehen die Meinungen noch mehr auseinander. Und sprechen wir von einer Reformation im Sinne von zurück «zu den Wurzeln» (im 7. Jahrhundert)? Oder von einer kritisch-historischen Auseinandersetzung mit dem Koran? Oder von einer neuen Lesart des Korans?  

Der Koran wurde in zig Sprachen übersetzt – doch die Mehrheit des «Volkes» hat trotzdem keinen Zugang zum Koran. Was hindert uns daran?  

Stopp! Wir müssen zurücksetzen, denn meine Titelfrage setzt noch vor der Reformation an: Brauchen wir einen Luther? Luthers grosses Verdienst war es, dass er dem Volk Zugang zur bis dahin nur auf Latein vorhandenen Bibel gewährte, indem er sie übersetzte, so dass jeder darin lesen konnte. Er brandmarkte auch die gängige Praxis mit dem Ablasshandel und entzog der geistlichen Obrigkeit ihre Legitimation als Mittler zwischen Gott und Mensch. Man könnte denken, dieses Problem hätten die Muslime nicht, denn der Koran wurde in zig Sprachen übersetzt – doch die Mehrheit des «Volkes» hat trotzdem keinen Zugang zum Koran. Was hindert uns daran?  

Was hindert Muslim:innen am Zugang zum Koran?  

Zum einen die Tradition: Schon seit Jahrhunderten beschränkt sich der Umgang der «gewöhnlichen» Muslime mit dem Koran in der Regel aufs schöne Rezitieren des arabischen (!) Textes. Es gibt Wettbewerbe für alle Altersstufen und Feste, wenn der ganze Koran einmal auf Arabisch gelesen wurde, und Jööh-Effekte, wenn kleine Kinder rezitieren. Wer den Koran auf Arabisch auswendig kann, ist eine Respektsperson. So schön und wertvoll das alles ist, wir sollten nicht dort stehenbleiben. Denn das Problem ist, dass die allermeisten nicht genügend Arabisch können, um den Inhalt des Korans auch zu verstehen. Fürs Verstehen sind die meisten Muslime auf die Imame und Gelehrten angewiesen, welche ihnen die Inhalte erklären, und damit sind wir beim anderen Hinderungsgrund, den Machtstrukturen. 

Den einfachen Gläubigen wird suggeriert, dass sie sowieso nicht genügend Wissen hätten, um an den Koran heranzugehen und ihn für sich im täglichen Leben auszulegen. Dazu müsse man die gesamte Geschichte kennen sowie die Hadithe (Worte und Taten, die man dem Propheten Muhammad zuschreibt), welche den Koran erklären würden, und ausserdem auch noch, was frühere Gelehrte zu jedem einzelnen Thema gesagt hätten. Verständlich, dass die meisten Muslime davor zurückschrecken, man will ja bescheiden sein und sich nicht erfrechen, etwas zu erobern, was nur Gelehrten vorbehalten sei. Doch ist es das wirklich? Ich lasse am besten den Koran antworten:  

«Der Monat Ramadan ist es, in dem der Koran als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt worden ist und als klarer Beweis der Rechtleitung und der Unterscheidung.» (2/185) 

«Und das Wort deines Herrn ist in Wahrheit und Gerechtigkeit vollendet worden.» (6/115) 

«… (dies ist) ein Buch, dessen Verse vervollkommnet und dann im Einzelnen erklärt worden sind – von einem Allweisen, Allkundigen.» (11/1) 

«Und wahrlich, Wir hatten ihnen ein Buch gebracht, das Wir mit Wissen darlegten als Richtschnur und Barmherzigkeit für Leute, die gläubig sind.» (7/52) 

«Sie haben sich ihre Schriftgelehrten und Mönche zu Herren genommen ausser Gott …» (9/31) 

Hier steht klar und deutlich, dass der Koran für alle Menschen herabgesandt wurde, für gläubige Leute, nicht nur für die Gelehrten. Ausserdem steht, dass das Buch vollendet, vollkommen ist, und dass es sich selber erklärt. Der Tadel an gewissen Juden und Christen, welche Schriftgelehrte und Mönche zu ihren «Herren» genommen haben, sollte den Muslimen eine Warnung sein, es ihnen gleichzutun. Doch heute beobachten wir vielfach eine ungesunde Abhängigkeit von Scheichs, Internetgelehrten, längst verstorbenen Rechtsschulenbegründern oder den von heutigen Staaten verordneten «religiösen» Gesetzen und Glaubensleitlinien. Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind überzeugt, dass sich «Väterchen Staat» nicht irren kann. 

Im Koran steht nicht, dass wir den gesamten Ballast der früheren Gelehrsamkeit kennen müssen, um an dieses Buch heranzugehen.

Nochmals zur Titelfrage: Braucht der Islam einen Luther? Ich denke, ja, wir bräuchten einen «Luther», der die Menschen auf die koranischen Aussagen hinweist. Der ihnen ihr Selbstbestimmungsrecht, das sie freiwillig und aus falscher Bescheidenheit (vielleicht manchmal auch Gleichgültigkeit und Faulheit) abgegeben haben, wieder in Erinnerung ruft. Mit dieser Erkenntnis können alle Muslime den eigenen Zugang zum Koran vertrauensvoll wagen. So wertvoll die Gedanken von Gelehrten sein mögen im Zusammenhang mit komplexen Fragestellungen – im Koran steht nicht, dass wir den gesamten Ballast der früheren Gelehrsamkeit kennen müssen, um an dieses Buch heranzugehen, denn das Wissen wird sich uns dann erschliessen, wenn wir uns damit beschäftigen. Und ausserdem wird damit auch unser Zugang zu unserem Schöpfer wieder un-«mittler»-barer sein. Wie die Reformation, die auf diese Erkenntnis folgen wird, aussehen könnte, wird sich noch zeigen … 


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Autor

  • Esther Fouzi

    Religionslehrerin für muslimische Kinder und Jugendliche ||| Esther Fouzi, geboren 1964, gelernte Krankenschwester, verheiratet mit einem Marokkaner, zwei erwachsene Söhne, ist vor bald 40 Jahren zum Islam konvertiert und seit bald 20 Jahren Religionslehrerin für muslimische Kinder und Jugendliche.

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