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Amira Hafner-Al Jabaji

Sola scriptura: Auch ein islamischer Reform-Ansatz?

Mit dem Buch «Schlüssel zum Verständnis des Koran» beteiligt sich Kerem Adigüzel an einer seit Jahrhunderten geführten innerislamisch-theologischen Debatte. Er kritisiert den etablierten Umgang der Muslime mit dem Koran und der Prophetentradition. Viele seiner Vorschläge scheinen dabei in einer Analogie zur lutherischen Kritik der christlichen Reformation zu stehen.

Kerem Adıgüzel, der sich selbst schweizerisch türkischer monotheistischer Rationalist nennt, brachte das Buch bereits 2015 im Eigenverlag alrahman heraus. Unter gleichlautendem Namen betreibt er seit 2006 eine deutschsprachige Website und gründete 2017 auch einen Verein mit, der sich mit zeitgenössischen theologischen und gesellschaftlichen Fragen zum Islam befasst. Innerhalb des muslimischen Spektrums ist Adıgüzel dem rationalistisch-aufklärerischen Lager zuzuordnen. Er verortet sich in der islamischen Frömmigkeit und strikt monotheistischen Glaubensauffassung. Aus ihr leitet er seine teils harsche Traditions- und Gelehrtenkritik ab.

Nicht nur für Muslime

Das Buch setzt zum Ziel, den deutschsprachigen Muslim:innen eine Selbstauslegung des Korans zu ermöglichen und eine Methodik zu entwickeln, die es ihnen erlaubt, eigenverantwortlich Entscheide für das geistliche und profane Leben in Einklang mit der koranischen Botschaft und verträglich mit der säkularen, nicht-muslimischen Umgebung zu fällen.

Anregend und relevant ist die Lektüre aber auch für Nicht-Muslim:innen, sieht man von den Passagen mit akribisch aufgelisteten Koranzitaten oder sprachanalytischen Details einmal ab. Man gewinnt einen Einblick in eine wichtige und alte inner-muslimische Kontroverse, die Erkenntnisse, Ansätze und Beiträge zu einer weniger verhärteten Islamdebatte in Europa beisteuern könnte. Welche Quellen, Autoritäten unter welchen Bedingungen verbindliche Normen für Muslim:innen setzen, ist nämlich eine seit langem immer wieder diskutierte Frage, die Adigüzel wieder aufgreift und die zeigt: Die Antwort ist nicht in Stein gemeisselt.

«Islamkritische» Streitschrift

Das Buch vermittelt einen Eindruck davon, wie «Islamkritik» daherkommen muss, wenn sie Konstruktives leisten will. Dabei rüttelt Adıgüzel durchaus an Grundfesten, wenn er dafür plädiert, Religion und Tradition zu trennen oder das islamische Glaubensbekenntnis, die Schahada, auf das Bekenntnis zu Gott zu begrenzen und das Bekenntnis zum Propheten Muhammad, wie überhaupt die gesamte Prophetentradition, für unerheblich zu erklären. Damit handelt er sich nicht nur die Feindseligkeit von Islamist:innen ein, sondern auch die Kritik traditionell denkender Muslim:innen.

Auch wenn Kerem Adıgüzel sein Buch nicht so nennt, man kann es durchaus als Streitschrift bezeichnen. Der Autor bemüht akribisch den Koran, die für alle Muslime unbestritten verbindliche Quelle, um seine Ansichten zu belegen. Wer anderer Meinung ist, sollte sich daher nicht einfach nur auf Tradition berufen, sondern mit gleichsam nachvollziehbarer und plausibler Gegenargumentation aufwarten. Die ganze Gesellschaft, ob muslimisch oder nicht, hätte einen grossen Gewinn von einem «Theolog:innen-Streit», der öffentlich und zivilisiert geführt würde und bei dem die besseren Argumente gewännen. Ob sie dafür reif ist, ist eine andere Frage.

Sola Scriptura – Nur der Koran zählt

Adıgüzels Ausführungen weisen einige Analogien zur christlichen Reformationsgeschichte auf. Wie Luther im 16. Jahrhundert durch seine Bibelübersetzung ins Deutsche den Anstoss zur «Entlateinisierung» der Bibel gab und es dem/der einzelnen Gläubigen ermöglichte, sich dem Text selbst anzunähern, so beabsichtigt Kerem Adıgüzel die «Entarabisierung» des Korans. Die Sakralität der arabischen Sprache, die aus der Sakaralität des offenbarten Textes auf Arabisch abgeleitet wird, lehnt er ab. Nach ihm soll die arabische Sprache für das Koranverständnis nur noch in ihrer Systematik und zur Analyse koranischer Konzepte eine Rolle spielen. Die Beherrschung der Sprache und der traditionellen Methoden der Exegese sollen nicht mehr unabdingbare, exklusive Voraussetzungen sein, um sich inhaltlich mit dem Text zu befassen.

Dahinter steckt die Idee, dass jeder Mensch kraft seines eigenen Verstandes die Offenbarungsschrift ohne Erläuterung und Interpretation von Dritten sinnstiftend und zeitgemäss vornehmen soll. Die Begründung zu dieser Idee findet Adıgüzel im Koran selbst. Das deckt sich mit der Hauptforderung des Autors, die da lautet: Einzig der Koran sei bindende Quelle für eine islamische Lebensführung, Theologie und Jurisprudenz. Bei Luther hiess das auf die Bibel bezogen Sola Scriptura.

Foto: Alihan Usullu/iStock

Wider einem «Klerus» zwischen Gott und Gläubigen

Auch die islamische Gelehrten-Kaste kritisiert Adıgüzel in ähnlicher und grundsätzlicher Weise wie Luther zu seiner Zeit den kirchlichen Klerus. Sie würde durch eine illegitime Machtaneignung, indem sie Ihr Wissen und ihre Rituale zur exklusiven Ressource für die Heilserlangung der Menschen erklärt, mehrfach gegen das fundamentale islamische Prinzip des Tawhid (Eins- und Umfassendheit Gottes) verstossen. Dieser Kritikpunkt ist ein wesentlicher und durchzieht die gesamte Lektüre. Er zweifelt die Autorität von Religionsgelehrten, insbesondere jener der frühislamischen Zeit aber auch der islamischen Hochblüte bis ins 14. christliche Jahrhundert, an. Sie gelten heute vielen Muslim:innen unhinterfragt als Referenzen, deren Lehrmeinungen sie im Alltag vorbehaltslos und unreflektiert folgen. 

Mit Logik und Gnade zu Erkenntnis 

Im Buch werden alternative Herangehensweisen und Methoden zur Koraninterpretation vorgeschlagen. Hier kommt der studierte Mathematiker und Informatiker Adıgüzel zum Zug. Sein Ansatz sieht die Anwendung verschiedener logischer Prinzipien und Schlussfolgerungen vor, mit welchem der Koran-Text seziert, kontextualisiert und interpretiert werden soll. Keine der möglichen Interpretationen hat absolute Gültigkeit.

Insgesamt ist die Methode eine Mischung aus Logik, Rationalität und sprachwissenschaftlicher Analyse, die sich als ergiebig erweist, erlernbar ist, und grosse Ergebnisoffenheit zulässt. Adıgüzel weiss jedoch um die Stärken und Schwächen der Anwendung und will sie nicht als der Weisheit letzter Schluss verstanden haben. Er verweist daher auch darauf, dass Erkenntnis und Weisheit immer auch von der Gnade Gottes und von der Glaubenshaltung des Menschen abhängen, analog der reformatorischen Lehre von Sola Fide (allein durch Glauben) und Sola Gratia (allein durch Gnade).

Persönliches Fazit

Dem Autor ist grosser Fleiss, Genauigkeit und Ernsthaftigkeit in Bezug auf Inhalt und Anspruch zu attestieren. Man nimmt ihm seinen Drang, die «Gläubigen» zu einer aufgeklärt-kritischen Auseinandersetzung und Mündigkeit in Glaubensfragen anzuregen in jeder Zeile ab. Die Frustration darüber, dass kulturelle, traditionelle Normen oft über die eigentlichen ethisch-religiösen Normen dominieren, dass Fehlinterpretationen, Denkfaulheit und die Verletzung des Tawhid dem positiven Potential des Islam wenig zum Durchbruch verhelfen, und schlimmer noch, negatives Potential zum Vorschein bringen, teile ich.

Kritisch bewerte ich (und mittlerweile auch der Autor selbst) die Tonalität des Buches. Sie verrät viel Selbstüberzeugung und schiesst stellenweise womöglich über das Ziel hinaus. Die gewisse Radikalität, die sie selbst offenbart, mag dem jungen Alter des Autors und der Leidenschaft für die Sache geschuldet sein. Zu hoffen ist, dass sie die argumentative Position, die an sich überzeugt, nicht schwächt. Die inhaltlichen Punkte verdienen eine weiterführende Vertiefung und Debatte. Adıgüzel hat sie mit seinem Buch im deutschen Sprachgebiet angestossen. Es ist nun an allen anderen Akteur:innen, sie konstruktiv weiterzuführen.


Kerem Adıgüzel: Schlüssel zum Verständnis des Koran, Romanshorn 2015, Verlag Alrahman 

Die Erstveröffentlichung dieses Artikels von Amira Hafner-Al Jabaji war im Oktoberheft des Aufbruchs.

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Autor

  • Amira Hafner-Al Jabaji

    Referentin, Autorin und Journalistin im Bereich interreligiöser Dialog ||| Amira Hafner-Al Jabaji studierte Islam- und Medienwissenschaften an der Universität Bern. Seit über zwanzig Jahren arbeitet sie freischaffend als Referentin, Autorin und Journalistin im Bereich interreligiöser Dialog. Von 2015 bis 2021 moderierte sie die «Sternstunde Religion» des SRF.

0 Gedanken zu „Sola scriptura: Auch ein islamischer Reform-Ansatz?

  • Vielen dank für diese sehr anregende und kluge rezension – ich habe das buch, das ich nur flüchtig angeschaut hatte, denn auch gleich gekauft. Als katholischer theologe scheint mir natürlich von vornherein unwahrscheinlich, dass man eine heilige schrift ganz unabhängig von einer tradition verstehen kann. Aber zugleich scheint mir eines völlig klar: anfangen muss man wirklich immer mit einer genauen – und d.h. dann auch: wohlwollenden – hinwendung zum text selbst in allen seinen sprachlichen einzelheiten: das ist eine elementare form von respekt, die jeder text, zumal ein heiliger verdient. Anschliessend kann man sich dann umso unbeschwerter der lesetradition zuwenden (denn auch sie verdient respekt), um von ihr das zu übernehmen, was heute hilfreich ist. Denn tradition darf nie als dogmatisierter fetisch verwendet werden, sondern muss in jedem zeitalter neu verdaut, d.h. fortgeschrieben werden!

  • Herr Adıgüzel ist kein Reformer, der es den westlichen Medien und Regierungen recht machen will, sondern ein Mann, der den Koran bzw. auf deutsch die Lesung als die einzige legimtime Quelle in der Lebensordnung der Gottergebenheit akzeptiert. Er, ich und andere Menschen, die die Lesung als einzige Quelle in dieser Lebensordnung annehmen, unterscheiden uns dramatisch von den traditionalistischen Muslimen. So lehnen wir sogenannte Überlieferungen (Hadithe) und die erfundene Sunnah Mohammeds ab. Daraus resultiert, dass Gottergeben gegen jeglichen Zwang in der Lebensordnung sind (vgl.: 2:256) und somit die Einschränkungen, die in Saudi-Arabien oder durch die Taliban in Afghanistan gegen die Bevölkerung aufgezwungen werden, mit äußerster Härte ablehnen. Saudi-Arabien, die Taliban, der Daesch und viele sogenannte „islamische“ Länder und Organisationen machen sich der Beigesellung schuldig, was eine Kapitalsünde in der Gottergebenheit darstellt und eine harte Bestrafung nach sich zieht – im Dies- und Jenseits (vgl.: 4:48).
    Ebenso lehnen Gottergebene auch sinnbefreite Verbote und Einschränkungen ab, die sich zu Hauf im traditionellen Islam widerfinden. So brauchen Frauen in der Gottergebenheit sich nicht zu bedecken, es reicht aus meiner Sicht aus, dass Frauen ihre Geschlechtsorgane verbergen, während im traditionellen Islam sich Frauen ganz bedecken müssen und auch ihre Stimmen verbergen müssen. Letzteres absurdes Verbot finden Sie nicht in der Lesung. Im traditionellen Islam ist es absolut verboten, Musik zu hören, zu tanzen, zu zeichen oder sich künstlerisch zu befassen. Im Gegensatz dazu lässt die Lesung die Menschen eine freihe Hand, ihr Leben zu gestalten. So dürfen Menschen laut der Lesung Musik hören, singen, tanzen, malen, zeichnen, etc., da es zu diesen Aktivitäten keine Verbote in der Lesung gibt.
    Diese extrem freiheitliche, rationalistische und aufklärerische Auffassung über die Gottergebenheit ist nicht nur Islamisten und traditionalistischen Muslimen ein Dorn im Auge, aber auch den Islamkritiker vom Schlage der SVP, FPÖ, AfD, PVV, Vlaams Belang, Geert Wilders, Éric Zemmour, Rasmus Paludan, Viktor Orbán, Ayaan Hirsi Ali, Kacem El-Ghazzali würden die Gottergebenheit um den Faktor 1.000.000.000 noch mehr hassen, weil diese extrem freiheitliche, rationalistische und aufklärerische koranistische Auffassung ihre Mutmaßungen über die Gottergebenheit, auf die ihr Geschäftsmodell basiert, für ein und alle mal zerstört wird. Gottergebene müssen sich nur noch trauen und die sinnbefreiten „Islamdebatten“ aufmischen und die Bevölkerung und allen voran die ganzen irregeleiteten Islamkritiker bloßstellen, um Gottes Licht vollzuenden! (vgl.: 9:32)

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