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Dolores Zoé Bertschinger

Buddhismus: Wer ist hier unrein?

Frauen sind Männern in den Lehren des tibetischen Buddhismus in punkto Erleuchtung eigentlich gleichgestellt. Anders sieht es in buddhistischen Gesellschaften aus. Dagegen entwickelten Frauen indes verschiedene Strategien des Widerstandes. Diese Vorbilder sind noch heute relevant.

Wenn ich als Religionswissenschaftlerin mit Schwerpunkt tibetische Kunst an Reinheit und Unreinheit denke, kommt mir sofort die Figur von Vajrasattva in den Sinn. Vajrasattva dient im Vajrayāna – auch tantrischer oder tibetischer Buddhismus genannt – in erster Linie zur Reinigung von Vergehen und Sünden. Vajrasattva hat ein friedliches Aussehen, der Körper ist von weisser Farbe, die rechte Hand hält vor dem Herzen einen Vajra (Donnerkeil) und die linke an der Hüfte eine Glocke. Wie alle Darstellungen von Buddhas und Bodhisattvas in der tibetischen Kunst sitzt auch Vajrasattva auf einer Lotusblüte. Im buddhistischen und hinduistischen Kontext ist sie ein Symbol für Schöpfung und Entstehung, aber auch für Sakralität und Reinheit.

Tibetisches Rollbild (Thangka) mit einer Darstellung des Vajrasattva (tib. Dorje Sempa); Tibet, 19. Jh., Mineralfarben auf Baumwolle, Photo aus dem Shechen Archive, Quelle: https://www.himalayanart.org/items/15131, 01.02.2023.

Das «westliche» Auge

Als Religionswissenschaftlerin mit einer feministischen Perspektive fällt mir auf, dass Vajrasattva in diesem Thangka für mein «westliches» Auge relativ geschlechtsneutral dargestellt ist. Die detailreiche und bunte Gestaltung mit der regenbogenfarbenen Beinbedeckung und den pastelligen Orange- und Rosatönen in Mandorla und Blüten wirkt auf mich zart und fröhlich. Sie kontrastiert mit dem starken Dunkelblau, in dem das Weiss des Buddhakörpers besonders leuchtend zur Geltung kommt. 

Das Dunkelblau bringe ich aufgrund meiner Kulturalisierung mit Männlichkeit in Verbindung, das Rosa, Orange und Weiss mit Weiblichkeit. Ob diese Darstellung des Vajrasattva von der Malerin oder dem Maler wirklich androgyn intendiert war, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Aus meiner Perspektive als Schweizer Religionswissenschaftlerin mit einem feministischen Blick und der Frage nach Un-/reinheit der Geschlechter im Hinterkopf stelle ich erst einmal einfach fest, dass Vajrasattva als Repräsentation von Reinheit für mich weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich konnotiert ist.  

Meinem anfänglichen Blick auf Vajrasattva als androgyner oder gar frauenfreundlicher Darstellung von Reinheit ist also nur unter Vorbehalt zu trauen.

Aufgrund meines Studiums weiss ich jedoch, dass Vajrasattva trotz barockem Schmuck, rundlichen Brüsten, schmaler Taille und bedeckten primären Geschlechtsorganen als männlicher Buddha verstanden wird. Meinem anfänglichen Blick auf Vajrasattva als androgyner oder gar frauenfreundlicher Darstellung von Reinheit ist also nur unter Vorbehalt zu trauen. Wenn Vajrasattva als Buddha der Reinheit männlich ist, heisst das im Umkehrschluss, dass auch im Buddhismus Weiblichkeit und insbesondere der Frauenkörper mit Unreinheit assoziiert werden?

Keine soziale Gleichstellung in buddhistischen Gesellschaften

Seit jeher wurden und werden Frauen auch im Buddhismus als unrein, triebhaft und leichtsinnig abgewertet und aus buddhistischen Räumen und Ritualen ausgeschlossen. Auch sind frühbuddhistische Meditationspraktiken für Mönche überliefert, in denen Frauenkörper als unrein imaginiert wurden, um Verlangen und sexuelles Begehren aufzugeben. Zwar haben sich dann historisch auch positivere Frauenbilder ergeben. Weiblichkeit wird im Buddhismus auch mit Weisheit assoziiert und insbesondere im Vajrayāna-Buddhismus gibt es zahlreiche weibliche Buddhas und Bodhisattvas. Nichtsdestotrotz sind Frauen in den meisten buddhistischen Gesellschaften und Gemeinschaften und insbesondere in den Ordenstraditionen sozial, finanziell und in Bezug auf Bildung nach wie vor schlechter gestellt. 

Heute wird zwar kaum mehr jemand öffentlich propagieren, dass Frauen nicht Buddhaschaft – auch Befreiung, Erwachen oder Erleuchtung genannt – erlangen könnten, wie es das lange Zeit noch hiess. Doch es gibt viele Beispiele dafür, dass (Vor-)Urteile über Frauen, die mit Unreinheit, Sexualisierung und dem weiblichen Körper zu tun haben, nach wie vor zu Ausschlüssen von Frauen führen.

Zum Beispiel unterstützen tibetische, männliche Autoritäten die volle Ordination für tibetisch-buddhistische Nonnen trotz jahrzehntelangen Bemühungen nicht vorbehaltlos. Auch werden Mütter mit Säuglingen manchmal temporär aus «Westlichen» buddhistischen Gemeinschaften ausgeschlossen, weil diese mit ihrem starken Fokus auf Meditation ihre Ruhe und Ungestörtheit vor die Reproduktions- und Care-Arbeit der Mütter stellen. Und schliesslich werden menstruierende Frauen in manchen buddhistischen Kontexten nach wie vor als unrein stigmatisiert und dürfen beispielsweise Vesakh, das wichtigste Fest von Buddha Shakyamunis Geburt, Erleuchtung und Ableben, nicht im Tempel mitfeiern.

Foto: Goodboy Picture Company/iStock

Strategien der Selbstbestimmung

Als feministische Religionswissenschaftlerin finde ich es spannend, dass Frauen seit jeher Strategien gefunden haben, mit der ihnen nachgesagten Unreinheit und den daraus folgenden Ausschlüssen subversiv umzugehen. Die «Verse der Älteren Nonnen» (Therīgāthā) sind eines der ältesten religionsgeschichtlichen Textzeugnisse von Frauen überhaupt (sie reichen teilweise bis ins späte 6. Jh. v.u.Z. zurück). Sie zeigen deutlich, dass Frauen damals spezifisch weibliche Erfahrungen wie häusliche Pflichten, sexualisierte Gewalt oder sexuelles Begehren zum Anlass genommen haben, sich dem Buddhadharma zu widmen und in Frauengemeinschaft zu leben. Ja, sie setzten diese spezifisch weiblichen Erfahrungen sogar für ihre spirituelle Entwicklung ein. 

Das Motiv der weiblichen Unterlegenheit als bessere Ausgangslage für die Erleuchtung findet sich auch im tibetischen Buddhismus. Die tibetische Tantrikerin Sönam Peldren beispielsweise, die im 13. oder 14. Jahrhundert in Osttibet lebte, nutzte die normativen Vorstellungen von Weiblichkeit, um die traditionellen Geschlechterhierarchien auf den Kopf zu stellen. Sie wandelte die angebliche Unreinheit ihres weiblichen Körpers in der tantrischen Praxis um und gelangte so zu absoluter Erkenntnis der Leerheit aller Phänomene. Auch die nepalesische Nonne und Einsiedlerin Orgyen Chökyi (1675–1729) sah den weiblichen Körper als Ursache für spezifische Schwierigkeiten, die Frauen ihres Erachtens nutzen können für die spirituelle Entwicklung. 

«Schmutzige Mädchen»? Na und!

Neben der Umkehrung ihrer angeblichen spirituellen Unterordnung gingen buddhistische Frauen auch seit jeher kreativ mit der Stigmatisierung der Menstruation um. Die US-amerikanische Anthropologin Carol McGranahan schildert beispielsweise, dass tibetische Frauen in Nepal zwar öffentlich scherzten, sie seien «schmutzige Mädchen», wenn sie menstruierten. Doch im Alltag schien sie die Menstruation kaum zu behindern.

Diese Beispiele zeigen, dass weibliche Unreinheit im Alltag nicht immer so streng reguliert wurde und wird, wie in den Schriften oder von buddhistischen männlichen Autoritäten propagiert.

Und die tibetische Anthropologin Losang Rabgey berichtet, dass Frauen in Tibet vor 1960 nicht als schmutzig gegolten und keine strengen Verbote im Zusammenhang mit der Menstruation bestanden hätten. Rabgeys Mutter habe vermeintliche kulturelle Tabus im Zusammenhang mit der Menstruation rundweg abgelehnt. 

Diese Beispiele zeigen, dass weibliche Unreinheit im Alltag nicht immer so streng reguliert wurde und wird, wie in den Schriften oder von buddhistischen männlichen Autoritäten propagiert. Je nach lokal spezifischen sozialen, politischen, religiösen und natürlich auch hygienischen Kontexten spielte und spielt die Un-/reinheit der Frauen in buddhistischen Kulturen eine über- oder untergeordnete Rolle.

Und in der Schweiz …

Für die sehr vielfältige buddhistische Szene in der Schweiz gibt es bisher keine Forschung zu Un-/reinheit und Geschlechterbildern. So kann ich mit dem US-amerikanischen Religionswissenschaftler José Ignacio Cabezón nur vermuten, dass es ganz unterschiedliche Haltungen gibt in Bezug auf stereotype Geschlechterbilder und die restriktive sexuelle Ethik in gewissen buddhistischen Texten und Lehrmeinungen. Manche Buddhist:innen werden sie als richtig anerkennen und nicht in Frage stellen. Andere nehmen wohl eine Haltung der «widerwilligen Resignation» ein und akzeptieren widerstrebend die normativen Aussagen zu Un-/reinheit der Geschlechter. Andere kümmern sich wohl gar nicht um die überlieferten Vorstellungen und riskieren damit, sie unreflektiert doch zu übernehmen. Manche Buddhist:innen wiederum werden die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen für selbstverständlich halten und buddhistische Aussagen über die Unreinheit der Frauen als veraltet zurückweisen. Und wieder andere, wie Cabezón selbst, machen sich daran, buddhistische Vorstellungen der Un-/reinheit der Geschlechter zu überdenken und aktiv zu adaptieren. 

Mit einem Blick auf die buddhistische Frauengeschichte wird deutlich, dass innovative Praktiken rund um die Un-/reinheit der Geschlechter keine Neuerfindungen sind, sondern die Betroffenen solche Strategien seit Jahrtausenden verfolgen. Es ist darum in keinster Weise gegen die Tradition, aus buddhistischer wie religionswissenschaftlicher Perspektive neue Blicke auf Geschlechterbilder und Praktiken rund um Un-/reinheit zu werfen – auch auf die Darstellung von Vajrasattva. Denn tradierte Lehren, historische und soziale Kontexte sowie kulturelle Differenzen sollten ebenso berücksichtigt werden wie der zeitgemässe Wunsch, sich von stereotypen Geschlechterbildern und Stigmatisierungen freizumachen. So kann das für den Buddhismus zentrale Konzept der Befreiung nicht nur erlösungstheoretisch, sondern auch lebensweltlich und alltagspraktisch in die Tat umgesetzt werden.


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Autor

  • Dolores Zoé Bertschinger

    Religionswissenschaftlerin, Forschung zu Buddhismus und Visualität sowie zu Gender und Religion ||| Dolores Zoé Bertschinger, MA (*1988) promoviert an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Religionswissenschaft und forscht zu Buddhismus und Visualität sowie zu Gender und Religion. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe Medien&Religion, lebt mit Tochter und Partner in Zürich und engagiert sich im Frauen*Zentrum/der fraum*, im Labyrinthplatz und in der Gemeinschaft Tibetische Sans Papiers Schweiz.

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