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Gregor Emmenegger

Jungfräuliche Reinheit: Maria Muttergottes

Maria galt lange Zeit für viele katholische und orthodoxe Christinnen und Christen als der Inbegriff von Reinheit. Zahlreiche Hymnen, Gebete und Predigten drehen sich um die «unbefleckte Jungfrau» Maria. Aber weshalb eigentlich? Weshalb wird Jungfräulichkeit mit Reinheit verbunden? Weshalb soll eine sexuell aktive oder eine menstruierende Frau nicht mehr rein sein? Das Marienbild ist facettenreich und einem steten Wandel unterzogen. 

Die ersten christlichen Gemeinden zeichneten sich dadurch aus, dass sie die Reinheitsgebote ihrer Umwelt nicht übernahmen. Im Evangelium des Markus sagt Jesus einmal (Mk 7,15): «Nichts, was von aussen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein.» Damit ordnete er das Reinheitsdenken einer ethischen Gesinnung unter: Man befleckt sich mit seinem Denken und Handeln, nicht mit Körpersäften oder Dreck. Folglich assen die Gläubigen nicht mehr koscher, Frauen nahmen selbstverständlich am Gottesdienst teil, und man begrub Tote nicht mehr ausserhalb der Stadt, sondern um die und manchmal mitten in den Kirchen. Woher kommt dann die Vorstellung von der reinen Maria?

Die «reine» Maria: Resultat spätantiker Normen

Hier verbinden sich zwei erklärende Faktoren. Erstens war Jesu Fokussierung auf eine rein ethische Betrachtungsweise für diese Zeit sehr radikal – und ist es heute noch. Spätantike Gesellschaften waren strikt hierarchisch organisiert und hatten einen starken Zug zu asketischem und weltverneinendem Denken. Heidnische Philosophen und Mediziner verkündeten gleichermassen, wie schlimm sexuelle Kontakte beziehungsweise die Abgabe von Sperma und Blut seien. Und da sollen enthaltsame freie Männer nicht reiner sein als Sklavinnen in Freudenhäusern? 

Kirchenregeln halten fest, dass ehemalige Prostituierte oder Stricher zur Taufe zugelassen und als volle Mitglieder aufgenommen werden müssen. Ihre Existenz zeugt aber auch davon, dass in den Kirchen über diese Frage debattiert wurde und es nicht selbstverständlich war. Dieselbe Diskussion findet auch hinsichtlich menstruierender Frauen statt: Während einige vehement gegen jegliche Restriktionen eintraten, plädierten andere dafür, dass Frauen zur Zeit ihrer Tage keine Kirche betreten sollen – nicht weil sie unrein seien, sondern aus «Ehrfurcht», wie oft angefügt wird.

Der zweite Faktor hängt mit der sich ändernden theologischen Stellung von Maria zusammen. Die Bewegung um Jesus hatte sich zunächst im Judentum entwickelt, doch die gute Nachricht richtete sich an alle Menschen. Die christliche Botschaft sollte deshalb nicht nur von Juden verstanden werden, sondern auch von Griechinnen, Römern, von Eingeweihten der Isis, des Mithras, von Verehrerinnen der göttlichen Kaiser und was es sonst noch an religiösen Gruppen im Reich gab. Die Aussage, dass Jesus von der Jungfrau Maria geboren worden war, nachdem Gottes Geist über sie gekommen war, machte heidnischen Gesprächspartnern sofort klar, was es sich mit diesem Jesus auf sich hatte: Wie Herkules, Kaiser Augustus oder der Philosoph Platon ist dieser ein Sohn Gottes, ein Retter, der Grosses vollbringt. 

Von der Mutterschaft zur jungfräulichen Askese

Das Besondere an diesem Messias war, dass er sich den kleinen, einfachen Menschen besonders zuwandte, ein Gottessohn der Viehställe, nicht der Paläste. Im dritten Jahrhundert unterstrich der Christ Tertullian, dass Christus als Sohn Gottes ganz Mensch wurde: Er sei blutverschmiert geboren worden, trank Muttermilch und füllte die Windeln – wie alle anderen Menschen auch. Er hatte Brüder und Schwestern – leibliche Kinder von Maria und Josef. Er musste erzogen werden und war in der Pubertät schwierig – wie viele andere auch. Und doch hat er die Welt gerettet – als Gottmensch. Maria hatte nach Tertullian zwar als Jungfrau empfangen, wurde mit der Geburt Jesu aber zur Mutter. Dass sie eine ganz normale Frau war, die unter Schmerzen gebar, garantiert für ihn, dass Gott das Heil zu allen Menschen brachte. 

Die Rede von der Jungfrau Maria wurde nicht mehr nur als theologische Aussage verstanden, sondern auch als asketische.

Hundert Jahre später, als das Christentum sich anschickte, Reichsreligion zu werden und der Zustrom neuer Mitglieder gross war, nahmen auch die asketischen Tendenzen zu. So sollten nun Priester keinen Verkehr mit ihren Ehefrauen haben, und am besten gleich gar nicht heiraten. Die Rede von der Jungfrau Maria wurde nicht mehr nur als theologische Aussage verstanden, sondern auch als asketische. Ein enthaltsames Leben sei in jedem Fall das Beste, meinte der Kirchenvater Hieronymus, und folglich habe Gott auch Maria eine solche Lebensweise ermöglicht: Immer sei sie Jungfrau geblieben. 

Einer seiner Bekannten wagte es, an die in der Bibel erwähnten Brüder und Schwestern Jesu zu erinnern, die doch die sexuellen Kontakte zwischen Maria und Josef bewiesen. Folglich sei die Ehe eine gleichwertig gute Option. Diese traditionelle Sichtweise war für Hieronymus unerträglich geworden. Wutentbrannt schrieb er ein ganzes Buch dagegen. Für Hieronymus und seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen war Jungfräulichkeit eine Lebensweise und kein körperliches Merkmal. Maria galt ihnen als ein Vorbild für asketische Lebensweise, denn sie hatte immer als Jungfrau gelebt. Der Ausdruck «jungfräuliche Gottesmutter» wurde folglich nicht als Widerspruch wahrgenommen, sondern sie bedingten einander vielmehr.

Sexuelle Besudelung oder unbefleckte Himmelskönigin

Dies änderte sich in der Zeit der Völkerwanderung. Das Christentum hatte sich unter Stämmen verbreitet, die vielfach ältere Vorstellungen pflegten: Für sie war Sünde eine Befleckung. Nicht nur schlechtes Handeln, auch der unachtsame Kontakt mit Unreinem konnte jemanden dreckig respektive schuldig werden lassen. Diese Befleckung musste jemand aufwischen, egal wer. Besonders iroschottische Mönche verbreiteten diese Vorstellungen. Im Unterschied zu den Reinheitsgeboten, von denen Jesus sich deutlich distanziert hatte, fokussierten sie jedoch primär auf sexuelle Besudlungen: Jede Form von ausserehelichem Geschlechtsverkehr sowie Kontakt mit Samen und Menstruationsblut würde schuldig und unrein machen. Besudelte dürften keine Kirchen besuchen. 

Foto: Marc Dufresne/iStock

Dass sie sich mit ihrer Sichtweise nicht durchsetzten, hängt wiederum an Mk 7,15 – und einem theologischen Argument: Wenn ein Mann einen nächtlichen Samenerguss hatte oder eine Frau menstruierte – wer war schuldig? Beide Prozesse geschahen doch unwillentlich. Müsste man dann nicht Gott die Verantwortung zuschieben, der die Schöpfung so eingerichtet hatte? Das konnte nicht sein, also konnte auch eine unbewusste Befleckung mit Blut oder Samen nicht schuldig machen. Dennoch wandelte sich die Gottesmutter nun zur unbefleckten Himmelskönigin, die nicht nur jungfräulich lebte, sondern selbst während der Geburt ihres Sohnes alle körperlichen Merkmale einer Jungfrau aufgewiesen habe. 

Quelle der Gnade – trotz Menotoxin

Ab dem 16. Jahrhundert begann der Aufschwung der Naturwissenschaften. Antike Autoritäten wie Aristoteles und Hippokrates wurden nach und nach durch neue Köpfe ersetzt, wie auch das antike Menschen- und Weltbild, das bis dahin unter dem Deckmantel des Christentums überdauert hatte. Körperliche Unterschiede zwischen Menschen begann man biologisch zu erklären – und moralisch zu werten. Frauen haben im Durchschnitt kleinere und leichtere Gehirne, also mussten sie dümmer sein. 

Doch ihre Überhöhung setzte sich fort …

Antike und mittelalterliche Mediziner gingen noch davon aus, dass das Menstruationsblut als Baustoff für das werdende Kind dienen würde, das bei Nichtgebrauch monatlich abgeführt werde. So galt auch Jesus bis dahin als «Frucht von Mariens Leib», denn er war gebildet aus ihrem Menstruationsblut. Nun erkannten aber die Ärzte, dass die Regelblutung der Frauen gar keinen noblen Beitrag zur Entwicklung des Fötus leistete. Es konnte sich nur um einen toxischen Abfallstoff handeln, dem Menotoxin, der die Milch sauer werden und Blumen verwelken liess. 

Diese Entwicklungen führten in manchen Kirchen dazu, die alten Regeln für Menstruierende zu reaktivieren und eisern am Zölibat festzuhalten. Maria blieb glücklicherweise davon verschont – man(n) wäre sonst womöglich noch auf die Idee gekommen, zu behaupten, sie hätte gar nicht menstruiert. Doch ihre Überhöhung setzte sich fort. Immer mehr löste sie sich aus ihrer Bezogenheit auf Christus und wurde selbst zur «Quelle der Gnade» und Miterlöserin mit eigenen Erscheinungen und Wundern und erhielt deshalb gesonderte Kapellen, Feiertage und Riten.

Zurück zu Menschlichkeit, Weiblichkeit und Leiblichkeit

Ab 1960 wird die Kritik an diesem Marienbild immer lauter. Wie kann Jesus als Sohn Gottes ganz Mensch sein, wenn seine Mutter zur Göttin überhöht wird? Maria müsse der Menschheit zurückgegeben werden, indem ihr die Menschlichkeit, die Weiblichkeit und die Leiblichkeit zugestanden werde. Sie dürfe nicht länger als Projektionsfläche von antiquierten Stereotypen zu Reinheit, Mütterlichkeit und Jungfräulichkeit missbraucht werden. Im deutschen Sprachraum haben deshalb Christinnen das Projekt Maria 2.0 gestartet. Das Motto lautet: «2.0 heißt Neuanfang: Alles auf null stellen. Wir sind nicht mehr so!» Damit verbunden ist die Forderung nach Frauenpriestertum und einer neuen kirchlichen Sexualmoral. Das hat umgehend andere Christinnen auf den Plan gerufen, die mit Maria 1.0 kontern: «Maria braucht kein Update!»

Die Abfolge von Frauenbildern und Reinheitsvorstellungen, die in Maria greifbar werden, ist ein Spiegelbild der sich wandelnden Gesellschaft und ihrer Werte.

Die Abfolge von Frauenbildern und Reinheitsvorstellungen, die in Maria greifbar werden, ist ein Spiegelbild der sich wandelnden Gesellschaft und ihrer Werte. Dabei lässt sich eine auffallende Entsprechung zwischen dem Anfang und dem Heute feststellen: Wie bei Tertullian spielt die jungfräuliche Reinheit Mariens für zahlreiche Gläubige kaum mehr eine Rolle. Maria ist nicht übernatürlich makellos rein, sondern einfach ein Mensch. So wie Gott einst durch Maria Gestalt annehmen konnte, ganz leiblich, ganz real, so muss dies durch jede Christin, durch jeden Christen immer wieder neu geschehen.


Weitere Literatur

Gregor Emmenegger (2017), Wie die Jungfrau zum Kind kam: Zum Einfluss antiker medizinischer und naturphilosophischer Theorien auf die Entwicklung des christlichen Dogmas, Münster, Aschendorff Verlag.

Stefano De Fiores (1996), Maria in der Geschichte von Theologie und Frömmigkeit, in: Handbuch der Marienkunde Bd. 1, Regensburg,  F. Pustet Verlag, S. 99-226.

Elke Pahud de Mortanges (2022), Bodies of memory and grace: Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums. Zürich: TVZ-Verlag. 

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Autor

  • Gregor Emmenegger

    Titularprofessor für Alte Kirchengeschichte, Patristik und Dogmengeschichte ||| Gregor Emmenegger unterrichtet Alte Kirchengeschichte, Patristik und Dogmengeschichte an den Universitäten Fribourg und Luzern.

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