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Simon Erlanger

Corona und antijüdische Verschwörungstheorien

«Die Juden» waren im Laufe der Geschichte immer wieder Verleumdungen und Verfolgungen ausgeliefert. Corona gibt dem einen neuen Schub. Antisemitische Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur und dies nicht nur in der Schweiz. 

Antijüdische Verschwörungstheorien sind nie verschwunden. Seit Jahrhunderten sind sie in Europa Teil der tradierten Judenfeindschaft. Gewissermassen ein Klassiker ist dabei die Verschwörungstheorie der «Protokolle der Weisen von Zion»: Diese von der zaristisch-russischen Geheimpolizei in die Welt gestellte absurde Unterstellung besagt, dass sich Juden weltweit im Untergrund organisieren, um das Zarentum zu stürzen, die Demokratie durchzusetzen und die Weltherrschaft zu erlangen. Gerade in der Schweiz haben Berner Gerichte in den 1930er Jahren die Protokolle als Fälschung und Machwerk entlarvt. Trotzdem sind Geist und Inhalt dieser Verschwörungstheorie, auf die sich auch die Nazis stützten, nach wie vor virulent. 

Immerhin könnte man meinen, dass antisemitische Verschwörungstheorien seit 1945 im Gefolge der Schoah etwas in den Hintergrund getreten wären. Weit gefehlt: Arabische und islamistische Regimes und Organisationen sowie die Sowjetunion hielten sie im Kontext des Nahostkonfliktes und des Kalten Krieges am Leben. Und nun wird wieder darauf zurückgegriffen. Antijüdische Verschwörungstheorien haben in Zeiten von Corona Hochkonjunktur. 

Grosse Besorgnis

Schon 2020 drückte Herbert Winter, Präsident des Schweizerisch-Israelitischen Gemeindebundes (SIG) seine Besorgnis über die Zunahme antisemitischer Verschwörungstheorien im Internet und in den sozialen Medien aus. Sein Nachfolger Ralph Lewin gab rund ein Jahr später ebenfalls seiner Sorge Ausdruck. Die diesbezüglichen Befunde der Antisemitismusberichte 2019 und 2020 des SIG und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) sind eindeutig, für 2021 sieht es nicht besser aus: Verschwörungstheorien nehmen zu und werden in den sozialen Medien offensiv verbreitet. Es tauchen absurdeste Theorien auf, die auf eine angebliche jüdische Weltverschwörung hinweisen. Welches Gefahrenpotenzial dies darstelle, hätten die gewalttätigen Anschläge der letzten Jahre gezeigt, so der SIG und die GRA. Die Attentäter waren Anhänger von Verschwörungstheorien. 

Mittlerweile kam es auch in der Schweiz zu Übergriffen gegen Synagogen.

Mittlerweile kam es auch in der Schweiz zu Übergriffen gegen Synagogen. So wurden anfangs 2021 in die Tür der Bieler Synagoge «Sieg Heil», «Juden Pack» und Hakenkreuze eingeritzt. Dies war kein Einzelfall: Zu Beginn des Jahres wurden drei weitere Angriffe auf jüdische Institutionen registriert. Die eh schon allgegenwärtigen Sicherheitsmassnahmen vor Schweizer Synagogen, jüdischen Schulen und Gemeindezentren wurden verschärft. 

«Social Media» als Verstärker

Verbreitet werden die judenfeindlichen Verschwörungstheorien vor allem auf Twitter, Facebook und Telegram. Da heisst es dann etwa, dass die Juden das Virus absichtlich in die Welt gesetzt hätten. Oder aber, es gebe das Virus gar nicht, und reiche jüdische Familien wie die Rothschilds würden hinter der Pandemie stecken und mittels Impfungen die Menschen sterilisieren oder gar umbringen wollen. 

Ein erster Höhepunkt derart kruder Verleumdungen war Ende Jahr 2020 festzustellen. Seither hat sich alles nochmals verschärft. Der Antisemitismusbericht 2020 unterscheidet aber noch klar zwischen Antisemiten und einfachen Corona-Skeptikern. Zwar würden auch im Umfeld der Letzteren judenfeindliche Verschwörungstheorien zirkulieren, doch im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern und den USA würden in der Schweiz der Bundesrat, Microsoft-Gründer Bill Gates oder WEF-Gründer Klaus Schwab weitaus häufiger angegangen, als «die Juden».

Europäisches Phänomen

Trotz dieser Besonderheit, entspricht die Schweizer Situation dem europäischen Trend. Nahm der Antisemitismus fast überall schon vor der Corona-Krise zu, hat sich die Lage mittlerweile massiv verschärft. So wird etwa aus Grossbritannien von einer regelrechten «Explosion» antisemitischer Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit dem Coronavirus berichtet. Laut dem «Community Security Trust», einer britischen Stiftung, die sich mit der Sicherheit jüdischer Gemeinden befasst, werde behauptet, Juden würden den Virus vorsätzlich verbreiteten. Letztlich ginge es bei der Corona-Krise um die Errichtung einer neuen Weltordnung. 

Viele Menschen sind verunsichert, denn in unserer vorhersehbaren, mit wissenschaftlichen Fakten abgestützten Welt sind wir es nicht mehr gewohnt, mit Ambivalenzen umzugehen.

In ähnlicher Tonalität gehalten, erreichten in Frankreich laut der Nachrichtenagentur JTA die Corona-Youtube-Videos des verurteilten Holocaust-Leugners Alain Soral eine Rekordzahl von Hits. Die Impfungen haben an der Lage vorerst nichts geändert. «Krisensituationen wie die Corona-Pandemie sind ein Nährboden für Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit», erklärt GRA-Geschäftsführerin Dina Wyler. «Viele Menschen sind verunsichert, denn in unserer vorhersehbaren, mit wissenschaftlichen Fakten abgestützten Welt sind wir es nicht mehr gewohnt, mit Ambivalenzen umzugehen. Und weil diese Situation schwer auszuhalten ist, brauchen sie einen Schuldigen und sind anfällig für Verschwörungstheorien». 

© Vera Rüttimann

Die Pest von 1348/49 als historischer Präzedenzfall

Die Assoziation von Juden mit Seuchen ist nicht neu. Klassisch zum Ausdruck kam sie etwa während des «Schwarzen Todes» 1348/49, als die Pest rund ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung tötete. Die durch ein Bakterium verursachte Seuche begann auf der Krim, gelangte auf Schiffen nach Genua und von dort über die Alpen in die Schweiz. Die Juden der damaligen savoyischen Orte Lausanne und Villeneuve am Genfersee traf es zuerst. Sie wurden im Herbst 1348 festgenommen, im Schloss Chillon inhaftiert und dann gefoltert, bis ein jüdischer Arzt unter Folter eine grosse Verschwörung der Juden zwecks Vernichtung der Christenheit zugab: Ein spanischer und ein französischer Jude hätten ein geheimes Gift zusammengebraut und an jüdische Gemeinden aller Länder versandt, um überall die dortigen Brunnen zu vergiften. Chillon übermittelte das unter Folter erpresste «Geständnis» nach Freiburg im Breisgau und Strassburg. Die Juden dort wurden festgenommen und verbrannt. Dies wurde allenthalben nachgeahmt, von Zofingen über Luzern, Solothurn, Lindau, Frankfurt, Mainz, Speyer, Augsburg bis nach Erfurt. Parallel zur Ausbreitung der Pest breitete sich so die Judenverfolgung aus. So wurden etwa in Basel 600 Juden in einer Holzhütte auf einer Sandbank im Rhein gepfercht und verbrannt. 130 Kinder wurden zwangsgetauft. Die Pogrome erfassten halb Europa. Die Zahl der Todesopfer ist unbekannt, ging aber in die vielen Tausende. 400 Gemeinden wurden zerstört. Einige Überlebende fanden Zuflucht in den Dörfern, und begründeten das süddeutsche und elsässische «Landjudentum». Die Mehrheit floh aber nach Osten, wo sie das polnisch-litauische Judentum hervorbrachten. 

Warum?

Verschwörungstheorien sind sinnstiftend. Sie erklären eine chaotische und konfuse Welt und geben Sinn dort, wo ein solcher nur schwer erkennbar ist. Mit den Juden als Sündenböcken und Brunnenvergiftern liess sich 1348/49 das Massensterben erklären. Dass es die Juden traf, hatte mit deren religiöser Sonderrolle zu tun. Darüber hinaus galten Juden wegen der Passionsgeschichte im Neuen Testament traditionell als «Gottesmörder».

Doch warum sind Jüdinnen und Juden heute, im Zeitalter der Säkularisierung, zur Zeit der Corona-Krise schon wieder im Fokus, zumindest in den Social Media? Spielen trotz Säkularisierung religiöse Motive eine Rolle? Oder verliert Europa mit dem «Ende der Schonzeit» bald drei Generationen nach der Schoa die Scham über den Völkermord? Vielleicht aber hat es bloss mit der Anonymität und der Direktheit der sozialen Medien zu tun. Der virtuelle Raum wird zum Marktplatz, wo jede und jeder ungefiltert seine schon immer gehegten Vorurteile rausbrüllen kann.


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Autor

  • Simon Erlanger

    Historiker und Journalist ||| Simon Erlanger ist Historiker und Journalist. Er ist Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern, wo er jüdische Geschichte lehrt.

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