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Miryam Eser-Davolio

Verschwörungstheorien und Religion – ein fruchtbarer Boden? Das Beispiel dschihadistischer Verschwörungsmythen

Sie schüren Hass, Spaltungen und legitimieren Gewalt: Verschwörungstheorien. Auch in verschiedenen muslimischen Milieus bilden sie einen fruchtbaren Boden für Radikalisierungsprozesse. Es wird von westlichen Mächten gesprochen, die systematisch islamische Länder angreifen. So entsteht eine lineare Erzählung von Unterdrückung, die sich einer differenzierten und kritischen Analyse verschliesst.

Statt von Verschwörungstheorien müsste man von dschihadistischen Verschwörungmythen sprechen, auch wenn ersterer Begriff weitverbreitet ist. Denn Erzählungen respektive Narrative angeblicher Verschwörungen können nicht als Theorien bezeichnet werden, da sie weder bewiesen noch falsifiziert werden können. Bei solchen Verschwörungsmythen geht es um Erklärungen und Deutungen von Ereignissen und Entwicklungen, welche von der geheimen Planung einer Gruppe mit bösen Absichten ausgehen sollen. Denn Verschwörungserzählungen bedienen sich bewusst einzelner belegter Fakten, wählen jedoch nur diejenigen aus, welche das eigene Weltbild stützen und somit plausibel erscheinen lassen. 

Verschwörungsmythen und Krisenzeiten

Verschwörungsmythen haben gerade in Krisenzeiten, wie auch die aktuelle Pandemie eine darstellt, Hochkonjunktur, da die komplexen Zusammenhänge und die damit verbundenen Ängste durch simple Schuldzuweisungen einfacher zu erklären sind. Insbesondere wenig gebildete Menschen empfinden Verschwörungsnarrative aufgrund ihrer anscheinenden Stimmigkeit als überzeugend. Denn die Zustimmung zu Verschwörungsmythen erfolgt nicht rational sondern affektiv. Deshalb können Verschwörungsmythen auch nicht einfach durch Argumente entkräftet werden, denn es handelt sich um persönliche Überzeugungen und ist eine «Glaubensache». 

Gesellschaftlich gefährlich werden solche Verschwörungsmythen vor allem dann, wenn sie über Schuldzuweisungen die Gewaltanwendung gegenüber gewissen Gruppen rechtfertigen, indem sie sie «als letztes Mittel und Notwehrmassnahme» zur Abwendung des Unheils sehen (AJC, 2021, S.11). Und wenn sie eine grosse Reichweite oder gar ein länderüberspannendes verschwörungsideologisches Netzwerk entwickeln, indem sie über Social Media, Websites, Videobeiträge, Demonstrationen etc. Botschaften und Falschmeldungen verbreiten, um das Verschwörungsnarrativ zu untermauern. 

Linearität der Unterdrückung

Betrachten wir nun Verschwörungstheorien in Zusammenhang mit der muslimischen Bevölkerung, so haben wir auf der einen Seite in westlichen Gesellschaften bei rechtspopulistischen Kreisen die These des «grossen Austauschs», wonach die verstärkte Einwanderung von muslimischen Personen und ihr «Kinderreichtum» dazu führen, dass christlich-westliche Gesellschaften aufgrund ihrer geringen Reproduktionsrate zahlenmässig über kurz oder lang unterliegen werden und dass es einen geheimen Plan für diesen «Bevölkerungsaustausch» gebe. 

Demnach würden westliche Mächte systematisch muslimische Länder militärisch angreifen, um ihren Einflussbereich zu vergrössern, sich ihrer Ressourcen zu bemächtigen und die dortige muslimische Bevölkerung zu unterdrücken.

Auf der anderen Seite sind Verschwörungsmythen auf muslimischer Seite (online-Nachrichtenportale, Social Media) verbreitet, wonach Israel und jüdische Kreise die USA gegen die arabische Welt aufhetzen und der Westen einen eigentlichen Vernichtungskrieg gegen den Islam führe. Demnach würden westliche Mächte systematisch muslimische Länder militärisch angreifen, um ihren Einflussbereich zu vergrössern, sich ihrer Ressourcen zu bemächtigen und die dortige muslimische Bevölkerung zu unterdrücken. Diese These wird meist durch aktuelle Hinweise auf westliche Militärinterventionen in arabischen Ländern wie Irak, Libyen oder Afghanistan unterlegt. Gegenläufige Beispiele, wie etwa der Eingriff der NATO gegen Serbien in der Kosovokrise werden dabei nicht erwähnt. Denn die Absicht hinter Verschwörungsmythen besteht darin, durch gleichlautende oder konsonante Informationen Emotionen zu erzeugen, die zu Empörung, Wut und Hass führen. 

Diese grollerzeugenden Narrative, auch Grievances genannt, richten sich insbesondere gegen westliche Staaten, welche als Kolonisatoren im arabischen Raum wirtschaftliche und militärische Interessen verfolgt und damit zusammenhängende Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Solche Grievances fussen somit auf einer Tradierung von Opfererfahrung und Demütigung – wobei diese Verletzungen nicht in Abrede gestellt werden, im Gegenteil sie bedürfen einer tiefreichenden Aufarbeitung, offiziellem Schuldbekenntnis und Wiedergutmachung auf «Täterseite». Zu problematisieren gilt es hingegen die Linearität der Unterdrückung, welche durch solche Grievances mit dem Ziel der Verstärkung von Hassgefühlen und Feindbilddenken transportiert werden bei gleichzeitiger Abwehr differenzierter und kritischer Analysen. 

© Vera Rütimann

Fruchtbarer Boden für dschihadistische Radikalisierungsprozesse

Grievances, Feindbilddenken und diskriminierende Erfahrungen in westlichen Gesellschaften bilden den Boden für dschihadistische Radikalisierungsprozesse. Dazu, dass es über das Teilen solcher Überzeugungen bei Individuen zu einer effektiven Radikalisierung und Befürwortung von Gewaltanwendung kommt, tragen sowohl Faktoren der persönlichen Situation als auch Radikalisierungsgelegenheiten, wie z.B. Peers oder Kontakte über Social Media, bei. Bei radikalisierten Personen zeigt sich meist, dass diese nicht in einem religiös geprägten Milieu aufgewachsen sind und lediglich über Halbwissen bezüglich des Islams verfügen. Wir haben es folglich mit einer Vermischung von politischen Motivationen und religiösen Begründungen zu tun, welche mit zur Ausprägung von Wut und Hass auf den Westen sowie auf «Ungläubige» beitragen.

Gerade junge Menschen sind sich oft nicht bewusst, wie sie durch Angebote im Internet, Verschwörungstheorien, gewaltdarstellende Videos, die auf dem Handy weitergereicht werden, oder über Freunde und Prediger beeinflusst und auch manipuliert werden.

Gerade junge Menschen sind sich oft nicht bewusst, wie sie durch Angebote im Internet, Verschwörungstheorien, gewaltdarstellende Videos, die auf dem Handy weitergereicht werden, oder über Freunde und Prediger beeinflusst und auch manipuliert werden. Hier greifen die Mechanismen der ideologischen Einbindung, der Manipulation der Emotionen und der sozialen Einbindung bis hin zum Anschluss an die politische Bewegung und das eigene Engagement ineinander.

Ignorieren, Distanzieren, Zuhören oder Auseinandersetzen?

Wie soll man Verschwörungsmythen entgegenwirken? Hierzu gibt es verschiedene Strategien, welche von Ignorieren, Distanzieren, Zuhören und Auseinandersetzen bis hin zum Entlarven der «Theorien» durch Fakten, dem sogenannten Debunking, reichen. Letzteres führt allerdings häufig zu endlosen Diskussionen oder Streitgesprächen, welche die Positionen des Gegenübers verstärken können. Debunking funktioniert folglich kaum, wenn bereits geschlossene Weltbilder entwickelt wurden und Fakten einfach ignoriert oder selbst zu einem Teil der Verschwörung erklärt werden. Dabei wird die Beweislast, dass es sich um keine Verschwörung handelt, dem Gegenüber zugewiesen. 

Es stellt somit eine grosse Herausforderung dar, Anhänger:innen von Verschwörungsmythen von ihren Überzeugungen abzubringen. Umso wichtiger ist es folglich, möglichst früh mit der Prävention einzusetzen, bevor sich die Einstellungen verfestigen. Gleichzeitig gilt es den gesellschaftlichen und politischen Polarisierungen, seien dies nun antiwestliche, antisemitische oder islamophobe Haltungen, entgegenzuwirken und Aufklärung zu betreiben, damit Verschwörungsmythen keinen fruchtbaren Boden finden.


Literatur

AJC Berlin Ramer Institute (2021). Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie. Das Beispiel QANON. Berlin. Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie (002).pdf

Eser Davolio, Miryam (2019). Verschwörungstheorien als Trigger jihadistischer Radikalisierung. In: Metzenthin, Christian (Hg.). Phänomen Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektiven. Zürich: Theologischer Verlag Zürich, S.19-38.

Eser Davolio, Miryam; Schneuwly Purdie, Mallory; Merz, Fabian; Saal, Johannes & Rether, Ayesha (2019). Research report: Updated review and developments in jihadist radicalisation in Switzerland – updated version of an exploratory study on prevention and intervention. Zürich: ZHAW. https://www.zhaw.ch/no_cache/de/forschung/forschungsdatenbank/projektdetail/projektid/2895/

Weitere Artikel

Miryam Eser Davolio ist Dozentin am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe am Departement Soziale Arbeit der ZHAW. Sie forscht und lehrt zu den Schwerpunktthemen Migration, Integration und Extremismus sowie zu Sozialhilfe und Beratung. Sie hat verschiedene Studien zu Rechtsextremismus und dschihadistischem Extremismus in der Schweiz geführt, auf deren Ergebnissen dieser Artikel gründet.

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