Religionspolitik  ·  Staat und Religion
Lorenz Engi

Der Staat braucht ein Gegenüber

Religion ist auch in einem liberalen, modernen Staat keine Privatsache, was nicht bedeutet, dass sie Staatssache ist. Sie ist öffentlich präsent. Und doch wird das Religiöse in unserer Zeit immer mehr als sperrig und irgendwie unangebracht empfunden. Religion wird immer stärker aus dem öffentlichen Raum herausgedrängt, womit jedoch gleichzeitig eine Tendenz verknüpft ist, die staatliche Sphäre quasi-religiös aufzuladen.

Am 15. April 2019 brannte in Paris die Notre-Dame. Während die Feuerwehr den Brand einzudämmen versuchte und die Welt um das historische Gebäude bangte, spielten sich im Umfeld der Kathedrale eindrückliche Szenen ab. Gruppen von Menschen, darunter viele junge, versammelten sich und sprachen öffentlich Gebete oder sangen religiöse Lieder. Manche Aufnahmen davon sind noch heute auf Youtube zu sehen. Während im Hintergrund die Sirenen heulen, stehen Menschengruppen andächtig versammelt und singen Ave Maria.

Wie passt das zu einem Land, das angeblich durch und durch säkular und von einer besonders strengen Trennung von Staat und Religion geprägt ist? Wie können wir solche Phänomene einordnen in unsere Vorstellungen von Staat, Religion und Öffentlichkeit? 

Wir müssen, um darüber ins Nachdenken zu geraten, keineswegs nach Paris schauen, sondern können schon vor unserer Haustür beginnen. Das übliche Schweizer Dorf ist so strukturiert, dass im Zentrum und in der Regel als höchstes Gebäude nach wie vor eine Kirche steht. Das irritiert uns wahrscheinlich nur deshalb nicht besonders, weil wir dieses Bauwerk in erster Linie kulturhistorisch betrachten. Aber es ist ein religiöses Gebäude, das alle anderen überstrahlt und den Kern des Ortes markiert. 

Religion ist auch eine öffentliche Sache

Es ist offensichtlich, dass man mit Blick auf solche Phänomene mit dem Dogma Religion ist Privatsache nicht besonders weit kommt. Religion ist auch eine öffentliche Sache. Das war sie immer, und das wird sie immer sein. Zwar hat gerade das Christentum durchaus einen Zug ins Private. Es distanziert sich vom Äusserlich-Kultischen vor allem dadurch, dass es einen Glauben und damit etwas «Innerliches» ins Zentrum stellt. Auch auf der Ebene des konkreten Handelns empfiehlt Jesus bekanntlich, beim Beten ins stille Kämmerchen zu gehen und sich dabei nicht sehen zu lassen (Mat 6,6). Das alles ist aber nicht mit einer strikten Privatheit des Christlichen gleichzusetzen; und eine solche Annahme träfe bei anderen Religionen noch viel weniger zu.

Im Zentrum unserer Dörfer und Städte stehen Gebäude mit Kreuzen, und diese sind beim besten Willen nicht religiös neutral zu verstehen.

Allein schon die Kirchengebäude markieren eine öffentliche Präsenz des Religiösen und namentlich des Christentums. Im Zentrum unserer Dörfer und Städte stehen Gebäude mit Kreuzen, und diese sind beim besten Willen nicht religiös neutral zu verstehen. In unserem Fernsehen sprechen Pfarrerinnen und Pfarrer ein Wort zum Sonntag, in den Buchläden liegen religiöse Bücher, in der Weihnachtszeit singt in den Strassen die Heilsarmee, und die Gottesdienste am Sonntag sind auch keine privaten Veranstaltungen, sondern öffentlich in dem Sinn, dass alle Interessierten Zugang haben. Viele weitere Phänomene dieser Art liessen sich nennen. Die Aussage «Religion ist Privatsache» ist nicht ganz falsch, denn sie kann die Bedeutung haben: Es ist meine persönliche Angelegenheit, ob ich glaube oder nicht glaube. Aber wenn der Satz in dem Sinn verstanden wird, dass das Phänomen Religion nur im privaten Raum stattfände oder stattzufinden hätte, wäre er sicherlich unzutreffend.

Aber: Religion ist keine Staatssache

Die Öffentlichkeit des Religiösen darf aber nicht damit gleichgesetzt werden, dass Religion eine Staatssache bilde. Denn das ist sie in der westlichen Welt tatsächlich nicht, und es gibt kaum einen wichtigeren Grundsatz als diesen. «Staat» ist ein vielschichtiger, schillernder Begriff. Wir verstehen darunter die staatlichen Institutionen (Regierung, Parlament, Verwaltung, Gerichte) und das staatliche Recht. Diese haben im modernen Staat keine religiöse Färbung, sie sind religiös neutral. Das ist die Voraussetzung dafür, dass jeder Mensch seine religiösen Überzeugungen frei ausleben kann. Verträte die Regierung selbst eine religiöse Überzeugung, wäre der Einzelne nicht mehr frei, sich diesbezüglich unbefangen zu entscheiden und zu äussern. Genauso wie die Aussage gilt: «Religion ist keine reine Privatsache», so gilt daher im modernen liberalen Staat die Aussage: «Religion ist keine Staatssache».

Heute sind diese Relationen, wie ich denke, auf zwei Arten herausgefordert: Zum einen dadurch, dass Religion immer stärker aus dem öffentlichen Raum herausgedrängt wird, und zum anderen durch eine Tendenz, die staatliche Sphäre quasi-religiös aufzuladen. Ich wende mich zuerst dem ersten und anschliessend dem zweiten Phänomen zu.

Verdrängung der Religion

Es ist nicht zu verkennen, dass das Religiöse in unserer Zeit immer mehr als sperrig und irgendwie unangebracht empfunden wird. Das hängt unter anderem wahrscheinlich einfach damit zusammen, dass man sich an die Religion als öffentliches Phänomen nicht mehr so gewohnt ist. Bis vor wenigen Jahrzehnten waren zum Beispiel Nonnen im Strassenbild etwas nicht so Ungewöhnliches, heute lässt uns eine Frau im Ordensgewand aufschauen. Mit dem Bedeutungsverlust der Religion verliert sich die Vertrautheit damit und wächst eine Fremdheit. Aber es ist sicherlich auch die Dynamik einer technisch-ökonomisch bestimmten Weltzivilisation, die Religion tendenziell aus dem öffentlichen Raum heraustreibt. Sie wird bestenfalls als sekundäres Phänomen geduldet, als etwas, was der Einzelne in seinem persönlichen Bereich pflegt, aber nicht als etwas, was die Gesellschaft insgesamt bestimmen könnte und sollte. Dabei spielt sicherlich eine Rolle, dass sich Religion immer wieder als sehr konfliktträchtig erwiesen hat und erweist. Um den Frieden zu sichern, muss man sie scheinbar eher zurückdrängen.

Am Jesus-Marsch durch Zürich forderten diese Christen ihren Platz in der Öffentlichkeit ein. An einer solchen Präsenz entzünden sich die Diskussionen über Religion in der Öffentlichkeit immer wieder. © Vera Rüttimann

Die Grundsatzfrage ist nicht die nach dem Islam in der Öffentlichkeit, sondern die nach der Religion in der Öffentlichkeit.

In der Schweiz manifestiert sich die Verdrängung des Religiösen aus der Öffentlichkeit auch politisch. Bestimmte Symbole einer Religion wurden per Volksabstimmung aus dem öffentlichen Raum verbannt (Minarette 2009, Burkas 2021). Falls die Aktivisten des Egerkinger Komitees, die diese Verdrängung betreiben, glauben, damit dem Christentum einen Dienst zu erweisen, wären sie über einen fatalen Denkfehler aufzuklären: Ihre Aktivitäten liegen voll und ganz auf der Linie einer Dynamik, die das Religiöse an sich – und damit letztlich auch das Christentum – aus dem öffentlichen Raum verbannen will. Die Burka- und Minarett-Initianten betreiben das Geschäft einer seelenlosen Weltzivilisation, die für Religion keinen Sinn mehr hat und sie aus dem öffentlichen Raum möglichst entfernt sehen möchte. Die Entwicklung, die damit in Gang gesetzt und befeuert wird, wird schliesslich auch das Christentum betreffen. Die Grundsatzfrage ist nicht die nach dem Islam in der Öffentlichkeit, sondern die nach der Religion in der Öffentlichkeit.

Die weitgehende Verbannung, die zunehmende Fremdheit gegenüber Religion ist das eine Phänomen, das unsere Zeit bestimmt. Parallel dazu vollzieht sich aber etwas anderes: quasi-religiöse Motive werden in anderen Bereichen, vor allem im politischen, wirksamer. Ich möchte mich dem im nächsten Abschnitt zuwenden und am Schluss des Beitrages überlegen, wie die beiden Phänomene allenfalls zusammenhängen könnten.

Der Staat der Werte

In seiner Anfangszeit als CVP-Präsident, es war 2016, versuchte Gerhard Pfister, eine Wertedebatte zu lancieren. Das Ganze kam jedoch nie richtig in Fahrt und scheiterte schliesslich eher kläglich. Das lag nicht etwa daran, dass das Thema nicht wichtig oder rhetorisch nicht richtig «verkauft» worden wäre. Doch litt die Diskussion von Beginn weg an einem solchen begrifflichen Wirrwarr, dass sie im Grunde zu gar nichts führen konnte.

Es sind zwei Begriffe, die zuverlässig fallen, wenn Politiker über Religion sprechen wollen, sich aber scheuen, das Christentum allzu direkt zu adressieren: «Prägung» und «Werte». Die Schweiz sei christlich geprägt, heisst es, und die christlichen Werte seien von grosser Bedeutung. Was das Erste betrifft, so ist die Feststellung so banal wie richtig. Selbstverständlich ist die gesamte westliche Kultur – und mit ihr die Schweizerische Eidgenossenschaft – vom Christentum wesentlich mitbestimmt, wie auch von anderen prägenden Kulturfaktoren, wie etwa der griechischen Philosophie oder dem Rechtssystem der Römer. Spannend wird es bei der Frage, worin diese christliche Prägung eigentlich besteht. Und da wird man zum Ergebnis kommen, dass die christliche Prägung des Westens unter anderem genau bedeutet, dass Staat und Religion getrennte Sphären sind. Genau das hat das Christentum ja dem Westen vermittelt: dass es einen Bereich des himmlischen Heils und einen Bereich der irdischen Herrschaft gibt, und dass diese Sphären verschieden sind. Also: Christliche Prägung ja, aber sie bedeutet nicht, dass der Staat einen religiösen Auftrag hätte, im Gegenteil.

Was die «Werte» betrifft, so ist klar, dass jede Politikerin und jeder Politiker – wie überhaupt jeder Mensch – von moralischen Überzeugungen geleitet wird, und dass diese Überzeugungen auch politisch zum Tragen kommen, indem sie das individuelle Handeln der politischen Akteure leiten. Zu diesen Überzeugungen, die auf einer individuellen Ebene wichtig sind, gehören auch religiöse Überzeugungen. Ein Fehler passiert jedoch dann, wenn dem Staat in irgendeiner Weise angesonnen wird, er sei für die Werte der Bürgerinnen und Bürger zuständig, müsse diese fördern, verwalten, verbessern oder ähnliches. Denn die Werte sind, wenn wir diesen wenig klaren Begriff im Sinn moralischer Überzeugungen verstehen, innere Einstellungen, und es ist für den modernen liberalen Staat wesentlich, dass er auf diese nicht zugreift. Er verfügt auch gar nicht über das Instrumentarium, die Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger erfolgreich zu lenken – höchstens ansatzweise über das Bildungssystem. Moderne liberale Staatlichkeit setzt einen rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen die einzelne Person ihre persönlichen Werthaltungen und Grundüberzeugungen frei entwickelt und bestimmt. Den Staat mit «Werten» aufzuladen, führt tendenziell von dieser modernen Staatsauffassung weg.

Dies ist die Schlüsselfrage: Welche Rolle, welche Bedeutung hat das Christentum in der Gegenwartsgesellschaft?

Die Diskussion, die Gerhard Pfister anzustossen versuchte, wäre wichtig, aber wenn sie zu etwas führen sollte, wäre es eine andere. Es ginge dann nicht um «Werte» oder eine historische «Prägung», sondern um das Christentum in der Gesellschaft. Dies ist die Schlüsselfrage: Welche Rolle, welche Bedeutung hat das Christentum in der Gegenwartsgesellschaft? Damit ist auch schon gesagt, dass damit im Kern keine politische Aufgabe bezeichnet ist, sondern eine gesellschaftliche Frage gestellt ist. Das Christentum kann sich nie vom Staat her revitalisieren, sondern nur vom Bereich der freien Entscheidungen und individuellen Überzeugungen her, von dem Bereich her also, den wir mit Begriffen wie «Gesellschaft» oder «Zivilgesellschaft» bezeichnen.

Notwendige Balance

Hängen die beiden Phänomene zusammen? Auf der einen Seite verliert das Christentum als öffentliche Grösse, als gesellschaftlicher Faktor an Bedeutung. Auf der anderen Seite nimmt in der Politik eine Tendenz zu, Kategorien wie die der Werte zu bemühen und den Staat moralischer zu verstehen.

Wenn das Religiöse als Kategorie ausfällt, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass religiöse und moralische Ambitionen sich auf den Staat beziehen.

Ich denke, es gibt einen Zusammenhang, und würde diesen knapp etwa folgendermassen beschreiben: Wenn das Religiöse als Kategorie ausfällt, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass religiöse und moralische Ambitionen sich auf den Staat beziehen. Solange Religion als relevante Grösse da ist, haben bestimmte Energien und Hoffnungen bei ihr ihren Ort. Es gibt dann einen Bereich des Heils, der Rettung, der tiefsten Hoffnungen und Ängste, der eben in erster Linie religiös ist. Fällt dieser Bereich ganz oder teilweise aus, so verschwinden diese Hoffnungen und Befürchtungen nicht. Sie suchen sich dann aber andere Bezugspunkte, und als ein solcher bietet sich vor allem die Politik an.

Solange Religion da ist, ist Politik nicht alles.

Politik wird, wenn keine Religion mehr da ist, zu einer Projektionsfläche für die tiefsten seelischen Bedürfnisse. Sie wird damit jedoch überlastet, sie bekommt Aufgaben übertragen, die sie zumindest in einer modernen, liberalen Form nicht erfüllen kann. Die Politik mutiert, wenn das Christentum und die Kirchen als relevante Faktoren ausfallen, quasi selbst zu einer Kirche. Sie muss den Menschen dann das Heil verschaffen, die Ängste nehmen. Das aber kann sie nicht, so lange sie eine liberale, moderne Art der Politik sein will. So ist das (Ver-)Schwinden der Religion also nicht nur für diese fatal, sondern ebenso für Staat und Politik. Diese erleiden eine Hypertrophie, eine ungesunde Wucherung, wenn die Religion als ihr Gegenüber ausfällt. Die Religion gibt mit anderen Worten auch der Politik erst ihre richtige Dimension. Solange Religion da ist, ist Politik nicht alles.

Beide Ordnungen ergänzen sich, sie balancieren sich aus, keine kann ohne die andere auf Dauer gelingend existieren. Aus diesen Gründen ist Religion, ist namentlich das Christentum auch ein politisches Thema ersten Ranges. Aber es ist dies nicht in der Weise, dass die Politik im Bereich der Religion etwas herstellen oder garantieren könnte, sondern in dem Sinn, dass die Religion als gesellschaftliche Grösse ihre Rolle spielen muss, damit die politische Herrschaft nicht entgleist.


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Autor

  • Lorenz Engi

    Privatdozent für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität St. Gallen ||| Lorenz Engi studierte Rechtswissenschaft und Philosophie (Dr. iur., M.A.). Er ist Dozent an der Universität St. Gallen und Delegierter für Religionsfragen in der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich.

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