Martin Baumann

Religionspluralität als Herausforderung für den Staat

Eine sich verändernde Religionslandschaft in der Schweiz stellt die Kantone vor neue Herausforderungen. Während sich einige daran machen, weitere Gemeinschaften anzuerkennen, befinden sich andere noch in der Sondierungsphase und prüfen, welche Möglichkeiten für eine zukünftige Zusammenarbeit mit bisher nicht anerkannten Religionsgemeinschaften bestehen. Dabei ergaben sich interessante Erkenntnisse. 

Die Religionslandschaft der Schweiz hat sich in den fünf zurückliegenden Jahrzehnten dramatisch verändert. Das Duopol in Sachen Religion, das die evangelisch-reformierte und die römisch-katholische Kirche 1970 bei knapp 96 Prozent der Bevölkerung noch inne hatten, ist zerbrochen. 2019 vereinten die zwei Konfessionen noch gerade 58 Prozent der Bevölkerung (ab 15 Jahren), mit weiterhin abnehmender Tendenz (Bundesamt für Statistik 2021). Der Anteil von Personen, die keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören, stieg von einem Prozent 1970 auf knapp 28 Prozent 2019 an. Gerade in Grossstädten wie Basel mit 53 Prozent und Genf mit 46 Prozent zeigt sich die Entwicklung überdeutlich. Im Gegenzug entwickelte sich das 1970 erst in Ansätzen erkennbare Spektrum der ‹übrigen› Religionen zur greifbaren Pluralität bei knapp 13 Prozent der Bevölkerung. Christlich-orthodoxe Kirchen, evangelikale Gemeinden und weitere kommen auf knapp 6 Prozent, muslimische Gemeinschaften stellen 5,4 Prozent und jüdische, buddhistische, hinduistische und weitere Religionen umfassen 1,4 Prozent. 

Neue Herausforderungen für die Kantone

Diese Veränderungen der Religionslandschaft stellen den Staat und damit die Kantone, die gemäss Bundesverfassung für die «Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat» zuständig sind (Artikel 72,1), vor neue Herausforderungen. Denn anders, als der Text der Bundesverfassung von 1999 noch festhält, ist das Gegenüber des Staates nicht mehr nur eine oder mehrere ‹Landeskirchen› und in einzelnen Kantonen die jüdische Gemeinschaft, sondern eine Pluralität unterschiedlicher Religionen. Die Neutralitätsverpflichtung des Staates in Sachen Religion, das Gebot der Nichtdiskriminierung und die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte lassen es nicht mehr zu, dass Kantone wie bisher alleinig mit den höchstens vier anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften (reformiert, römisch-katholisch, christkatholisch, jüdisch) Beziehungen pflegen, zu weiteren jedoch allenfalls lose Kontakte unterhalten. Wie haben Kantone auf die veränderte Situation reagiert und welche Kriterien legten sie für die anstehende Neujustierung ihres Verhältnisses zu weiteren Religionsgemeinschaften zugrunde?

Der Kanton Basel-Stadt war Vorreiter und ermöglicht es Religionsgemeinschaften mit der neuen Kantonsverfassung seit 2005, die kantonale Anerkennung beim Grossen Rat zu beantragen. Als Kriterien für solch eine umgangssprachlich ‹kleine Anerkennung› verlangt Artikel 133 von antragstellenden privatrechtlich organisierten Gemeinschaften, dass sie eine «gesellschaftliche Bedeutung haben, den Religionsfrieden und die Rechtsordnung respektieren, über eine transparente Finanzverwaltung verfügen und den jederzeitigen Austritt zulassen» (Kanton Basel Stadt 2005, Art. 133, 1.a-d). Die kantonale Anerkennung erhielten bisher die Christengemeinschaft, die Neuapostolische Kirche, die Alevitische Gemeinde Regio Basel sowie die Evangelisch-lutherische Kirche.

Andere Kantone sind in ihren Anpassungen der Verfassungen noch nicht so weit, leisteten jedoch wichtige Vorarbeiten, indem sie im Rahmen von Mandatsstudien die existierende Religionspluralität erheben und die Strukturen der Religionsgemeinschaften erfassen liessen. Berichte liegen vor für die Kantone Fribourg (2012), Bern (2018), Zürich (2019) und jüngst Solothurn (2020) (zu Übersicht siehe hier). Am Beispiel des Berichts zur Situation im Kanton Zürich (Baumann, Schmid et al. 2019) lässt sich aufzeigen, welche Massstäbe der Staat anlegte, um im Blick auf künftige Zusammenarbeit und Partnerschaft Genaueres über die Strukturen, Bedingungen und Wünsche der nicht anerkannten Religionsgemeinschaft zu erfahren. Fünf Themenbereiche waren dem Kanton zentral und sie sollen anhand konkreter Beispiele illustriert werden.

Was den Staat interessiert – Erwartungen der Religionsgemeinschaften

Der erste Bereich fragt nach der Organisationsform der Religionsgemeinschaft: Bei den meisten Moscheen, christlich-orthodoxen Kirchen, Hindu-Tempeln oder buddhistischen Zentren handelt es sich um privatrechtliche Vereine, in wenigen Fällen auch um Stiftungen. Die Vereinsstruktur ermöglicht es, in organisatorisch flexibler und pragmatischer Weise, Räume zu mieten und Personal anzustellen, ohne dass die Vorstandsmitglieder persönlich für Risiken haften. Andererseits führt die Organisation als Verein auch zu unbeabsichtigten Konsequenzen, da vielen immigrierten Mitgliedern von Religionsgemeinschaften aus dem Herkunftsland eine Mitgliedschaft und ein demokratisches Wahlprinzip der Leitung nicht vertraut sind. Mitunter zählt ein Verein nur die wenigen Gründungsmitglieder, oder es sind formal nur die Haushaltsvorstände Mitglied, die aber durchschnittlich für drei weitere Personen stehen. Typischerweise führen Männer die Vereinsgeschäfte, Frauen und junge Erwachsene finden sich erst in jüngerer Zeit und vorerst noch selten in leitenden Positionen. Es bestehen jedoch beispielsweise bei vielen Moscheen eigene Frauenabteilungen und Jugendgruppen, die ihr eigenes Programm gestalten. Organisatorisch sind viele der Vereine in übergeordnete nationale religiöse oder sprachlich-kulturelle Strukturen und diese wiederum in internationale Netzwerke eingebunden. Hier zeigt sich ein Spektrum von hoher lokaler Handlungsautonomie bis hin zu straffer Einbindung in eine hierarchische transnationale Struktur. Dies kann wie etwa bei einigen christlich-orthodoxen Kirchen zu Spannungen zwischen Erwartungen der lokalen Gemeinde und der kirchenrechtlichen Macht des internationalen Bischofsamtes führen.

Da Abschlusszertifikate etwa für einen Hindu-Priester oder alevitischen dede nicht existieren, haben Gemeinschaften mitunter Probleme, eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für ihre Priester, Mönche oder Imame zu erhalten.

Der zweite Bereich befasste sich in der Zürcher wie auch der Solothurner Studie mit den Schlüssel- und Betreuungspersonen. Zu nennen sind einerseits die ehrenamtlich tätigen Vorstandsmitglieder, die sich in ihrer Freizeit für den religiösen Verein als Präsident, Kassierer oder Schriftführer engagieren. Bei den religiösen Betreuungspersonen geht es um Imame, christlich-orthodoxe oder hinduistische Priester, buddhistische Mönche und Nonnen und weitere. Da für sie bisher religiöse Ausbildungsstrukturen in der Schweiz nicht existieren, holen die durch Immigration entstandenen Gemeinschaften ihre Betreuungspersonen aus dem Herkunftsland. Die Ausbildungswege gestalten sich hier zumeist anders als bei den standardisierten Ausbildungsgängen christlicher Pfarrerinnen, Pfarrer und Priester. Da Abschlusszertifikate etwa für einen Hindu-Priester oder alevitischen dede nicht existieren haben Gemeinschaften mitunter Probleme, eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für ihre Priester, Mönche oder Imame zu erhalten. Entsprechend war ein wichtiger Wunsch von Religionsgemeinschaften, dass Behörden sich flexibler und offener zeigen, um die Einreise und den Aufenthalt von religiösem Betreuungspersonal zu ermöglichen. Es zeigte sich zudem, dass viele der nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften finanziell Schwierigkeiten haben, einen Imam oder Priester hauptamtlich anzustellen. Oft arbeiten diese lediglich zu einem kleinen Pensum in der Moschee und dem Tempel und sind für den weiteren Lohnerwerb in einem weltlichen Beruf tätig. Dies schränkt wiederum ihre Verfügbarkeit und die Öffnungszeiten von Moscheen und Tempeln ein.

Eine Anerkennung bringt Rechte wie auch Pflichten. Viele Religionsgemeinschaften versprechen sich von einer staatlichen Anerkennung, das Wort ergreifen zu können und sich und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. © Vera Rüttimann

Von Interesse für die Kantone ist die Finanzierung von Religionsgemeinschaften, mutmassen doch einzelne Stimmen in den Medien gerade bei Moscheen über substantielle Finanzierung aus dem Ausland und damit angeblich verbundenen religiösen oder politischen Einfluss. Wie sich bei Moscheen, Hindu-Tempeln, buddhistischen Klöstern und christlich-orthodoxen Kirchgemeinden zeigte, stammt der weit überwiegende Anteil der Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden sowie viel ehrenamtlicher Tätigkeit. Die Mittel reichen aber oft nur für die Miete des Gebäudes und die Nebenkosten, so dass die Anstellungsprozente der religiösen Betreuungsperson vielerorts gering ausfallen. Regelmässige finanzielle Unterstützung aus dem Ausland ist die Ausnahme. Andere Gemeinschaften haben mitunter Sachspenden erhalten, christlich-orthodoxe Kirchgemeinden können Räume der Landeskirchen nutzen und erhalten bisweilen auch finanzielle Unterstützung von ihnen.

Beim Kriterium des Austausches der Religionsgemeinschaft mit der Gesellschaft zeigte sich, dass länger etablierte Gemeinschaften direkte Kontakte zu lokalen Behörden und zur Gemeinde haben. Auch bieten sie Führungen für Schulklassen an und sind teils in interreligiöse Dialogkreise eingebunden. Kontakte und Bezüge zum Kanton waren hingegen selten – dieser schien vielen ausserhalb ihres lokalen Wirkungsfeldes.

Die juristische Anerkennung wünschten sich auch verschiedene orthodoxe Kirchen, ebenso Aleviten, um dadurch den Zugang zu Spital- und Gefängnisseelsorge sowie zum Religionsunterricht an Schulen zu erleichtern.

An Wünschen und Erwartungen der Religionsgemeinschaft als letzter Teilaspekt hören Forscherinnen und Forscher in vielen islamischen Gemeinschaften den Unmut über die stereotypisierende, polarisierende Medienberichterstattung. Hier wünscht man sich eine grössere Offenheit und weniger Ausgrenzung. Auch das Thema der Anerkennung des Islams kam öfters zur Sprache – sowohl der Anerkennung in Form des Akzeptiertseins und des Respektes als auch der formalen öffentlich-rechtlichen Anerkennung. Hier blieb eine gewisse Enttäuschung über das langsame Tempo des politischen Handelns und erkennbarer Widerstände nicht verborgen. Geschätzt werden auch symbolische Akte der Anerkennung wie die Teilnahme von Politikern und Behördenvertretern bei religiösen Hauptfesten oder Einladungen zu offiziellen Anlässen – Anerkennung kennt unterschiedliche Formen und Praktiken. Die juristische Anerkennung wünschten sich auch verschiedene orthodoxe Kirchen, ebenso Aleviten, um dadurch den Zugang zu Spital- und Gefängnisseelsorge sowie zum Religionsunterricht an Schulen zu erleichtern.

Weichenstellung für die Zukunft

Wie die Erhebungen anhand dieser Kriterien zeigen, pflegen die allermeisten nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften eine nüchtern-pragmatische Haltung. Sie sorgen sich um ihre lokalen gemeinschaftlichen Bezüge, zeigen sich Anfragen von aussen offen und schätzen die gebotenen Freiheiten und Möglichkeiten in der Schweiz. Als Schwierigkeit oft genannt war die Herausforderung, geeignete Räume und qualifiziertes religiöses Personal zu tragbaren Kosten zu finden. Der Wunsch nach Anerkennung – symbolischer wie rechtlicher – war oft zu hören. Kantonen, die entsprechende Studien in Auftrag gaben, ist dieses Anliegen bewusst, und die kommenden Jahre dürften die Weichen für neue Ansätze konstruktiver Zusammenarbeits- und Partnerschaftsformen stellen.


Literatur

Baumann, Martin; Schmid, Hansjörg; Tunger-Zanetti, Andreas; Sheikhzadegan, Amir; Neubert Zurlinden, Frank; Trucco, Noemi (2019): Regelung des Verhältnisses zu nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften: Untersuchung im Auftrag der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich. Schlussbericht. Luzern, Fribourg (11.06.2021).

Bundesamt für Statistik (2021): Religionen (10.6.2021).

Kanton Basel-Stadt (2005): Kantonsverfassung (10.06.2021).

Weitere Artikel

Martin Baumann ist ordentlicher Professor für Religionswissenschaft an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Er forscht und lehrt zu den Themen Immigration, religiöse Gemeinschaften und gesellschaftliche Integration, Religionsvielfalt und hinduistische und buddhistische Traditionen im Westen.

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