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Tara Semple

Die Flügel der Menschheit

Bahá’u’lláh lehrt, dass jedes menschliche Wesen eine Seele hat und dass diese Seele weder Geschlecht, Ethnizität noch Klasse hat. Dann ist Gleichberechtigung nicht ein Zustand, der erreicht werden muss, sondern vielmehr eine Gegebenheit. Die Gemeinschaft der Bahá’í setzt sich in diesem Sinne für Gleichberechtigung ein.

«Von Anfang an möchten wir unsere Überzeugung deutlich machen, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter eine Facette der menschlichen Realität ist und nicht nur ein Zustand, der für das Allgemeinwohl erreicht werden muss. Das, was uns menschliche Wesen menschlich macht – der uns innewohnende Würde und Adel – ist weder männlich noch weiblich. Die Suche nach Bedeutung, Sinn, Gemeinschaft; die Fähigkeit zu lieben, zu kreieren, durchzuhalten, hat kein Geschlecht. Eine solche Aussage hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Organisation aller Aspekte der menschlichen Gesellschaft.» 

Diese im Jahr 2015 entstandene Aussage der Bahá’í Gemeinde hebt den jedem Mensch innewohnenden Adel hervor: Seine geistige Natur. 

Der Mensch: ein geistiges Wesen

Bahá’u’lláh lehrt, dass jedes menschliche Wesen eine Seele hat und dass diese Seele weder Geschlecht, Ethnizität noch Klasse hat. Eines der grössten Hindernisse für den Fortschritt der Menschheit sind die Vorurteile, die sie mit diesen Eigenschaften verbindet. Aber wenn die Seele über diese Eigenschaften erhaben ist, wird die Irrationalität dieser Vorurteile deutlich. Jedoch sind einige der schädlichsten Vorurteile geschlechtsbezogen. Sie halten Frauen öfters davon ab, ihr Potential auszuschöpfen und sich in verschiedenen Bereichen Schulter an Schulter mit Männern zu engagieren. Das ist ein Verlust, nicht nur für Frauen, sondern für die ganze Menschheit. In den Bahá’í-Schriften steht die Metapher eines Vogels mit zwei Schwingen. Nur wenn beide Schwingen, die Geschlechter, gleich stark sind, kann der Vogel fliegen.

… dann ist Gleichberechtigung nicht ein Zustand, der erreicht werden muss, sondern vielmehr eine Gegebenheit.

Die Bahá’í glauben fest daran, dass jedes Mitglied der menschlichen Familie, unabhängig vom Geschlecht, Liebe, Respekt, Vertrauen und ein Leben ohne Vorurteile verdient. 

Wenn man von diesem Prinzip Bahá’u’lláhs ausgeht, nämlich, dass die primäre Identität die Seele ist, die geschlechtlos ist, dann ist Gleichberechtigung nicht ein Zustand, der erreicht werden muss, sondern vielmehr eine Gegebenheit. Die Qualitäten der Seele, Liebe, Mitgefühl, Aufrichtigkeit, die Suche nach Bedeutung, Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit – all diese wichtigen Qualitäten sind geschlechtsunabhängig und wichtiger als die physischen Aspekte des Lebens. 

Damit eine Diskussion über diese Themen stattfinden kann, müssen die Annahmen und Vorstellungen über die Natur des Menschen explizit gemacht und in Frage gestellt werden. Wir müssen sehen, wie wir diese Vorurteile, die keine Grundlage in der Realität haben, überwinden können.

Der Weg von der Kenntnisnahme zur Umsetzung ist ein langer

Heutzutage gibt es nur wenige, die die Notwendigkeit der Gleichberechtigung der Geschlechter anzweifeln. Viele stimmen zu, dass es mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern braucht. Aber es ist eines, ein Prinzip zur Kenntnis zu nehmen. Sie von ganzem Herzen anzunehmen und nach ihren Werten zu leben, ist etwas anderes. Ausserdem ist es schwierig, die Gesellschaft und ihre Strukturen und Institutionen so zu formen, dass sie dieses Prinzip widerspiegeln. 

Es ist notwendig, sich über Gleichberechtigung auf verschiedenen Ebenen Gedanken zu machen. Die Bahá’í Gemeinde tut dies, indem sie sich der Verantwortung bewusst wird, vor der sie steht, und begreift, dass es die Zusammenarbeit vieler Akteure für dieses Unterfangen braucht. 

Das Konzept der Gleichberechtigung ist die Grundlage vieler Diskussionen und Aktionen und verdient einige Reflexion. Was ist unser gemeinsames Verständnis von Gleichberechtigung? Das Bild der Menschheit als Vogel, der beide Flügel braucht, kann uns hier inspirieren. Es kann uns damit helfen, zu erforschen, was alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Ethnizität oder ihrem Hintergrund brauchen, um ihr volles Potential entfalten zu können – auch wenn es nicht immer das gleich ist, was gebraucht wird. Aber wie wird dieses Prinzip in die Realität umgewandelt? Wie kann ich durch meine Taten und Worte Gleichberechtigung ausdrücken? Was bedeutet es, Gleichberechtigung in der Familie zu haben? Und schliesslich, wie sieht eine Kultur und Gesellschaft aus, die das Prinzip der Gleichberechtigung in ihren Mittelpunkt stellt?

Foto von Joey Huang auf Unsplash

Viele kämpfen in der Schweiz für Gleichberechtigung 

In der Schweiz gibt es diesbezüglich viele Gründe zu feiern. Es gibt so viele, die sich den Kampf um Gleichberechtigung zu eigen gemacht haben und sich dafür einsetzen. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür: Der Frauenstreik im Juni 2019 und die vor- und nachwirkenden Handlungen; die Bestrebungen, dass der Arbeitsplatz beider Eltern unterstützt, dass sie die ersten Tage ihres Kindes miterleben dürfen; die Arbeit, die von Sozialämtern geleistet wurde, um Familien zu unterstützen; die vermehrte Ermutigung junger Frauen zu einem Studium ihrer Wahl, welche von Hochschulen unterstützt wird; und so weiter.

Frauen sind immer noch unverhältnismässig die Opfer von Gewalt und werden in verschiedenen Bereichen diskriminiert.

In der Schweiz stehen die Frauen jedoch vor zahlreichen Herausforderungen, um ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen überfordern die Frauen und unterstützen sie nicht ausreichend, um Beruf und Familie zu vereinbaren. Dies bringt oft auch einen teuren Preis für Männer in Familien mit sich, die häufig die Position des Hauptverdieners einnehmen müssen. In der Schweiz herrscht immer noch eine starke Lohnungleichheit. Frauen sind immer noch unverhältnismässig die Opfer von Gewalt und werden in verschiedenen Bereichen diskriminiert.

Annahmen über die menschliche Natur: Ein grosses Hindernis

In vielen Fällen ist der Grund für diese Ungerechtigkeit, dass Annahmen über die menschliche Natur zugrundeliegen, die nicht ausdrücklich gemacht werden. Es gibt Vorstellungen davon, welche Entscheidungen eine Frau in ihrem Leben treffen wird, was ihre Stärken und ihre Schwächen sind. Das gleiche gilt für Männer, mit einer ganzen Reihe an Regeln darüber, was maskulin ist und was nicht. Diese Vorstellungen und Annahmen formen die Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen. Die Struktur wird beeinflusst. Zum Beispiel beinhalten viele Gesetze und Institutionen diese grundlegenden Annahmen über Frauen. Auch kulturell werden Familien und Gemeinden von diesen Annahmen beeinflusst. Zuletzt ist auch die Politik stark davon beeinflusst. 

Eine parteiische Sprache und starke Gegensätze im Diskurs schwächen die eigentliche Kraft, die der menschliche Geist hat, um die Probleme der Ungleichheit zu überwinden.

Eine weitere Herausforderung, die angegangen werden muss, ist die Art und Weise, wie das Thema Gleichstellung diskutiert wird. Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind manchmal auf eine Perspektive beschränkt, was Gespräche erschwert.  Eine parteiische Sprache und starke Gegensätze im Diskurs schwächen die eigentliche Kraft, die der menschliche Geist hat, um die Probleme der Ungleichheit zu überwinden. Die Bahá’í-Schriften betonen, dass der menschliche Geist einen starken Willen hat, Wissen erlangen möchte, und lieben kann. Wenn wir uns von parteiischen und spaltenden Ansichten lösen, können wir offene und konstruktive Gespräche über dieses Thema führen, das für viele so wichtig ist.

Protagonisten für Gleichberechtigung

Um Dinge voranzubringen, brauchen wir sowohl Individuen, die daran arbeiten, als auch die Gemeinde, die dieses Prinzip verkörpert. Darüber hinaus müssen die Institutionen das Prinzip der Gleichberechtigung in den Mittelpunkt ihrer Diskussionen und Bemühungen stellen. Die Bahá’í-Gemeinde trägt dazu bei, dieses Prinzip in der Schweiz zu verwirklichen. Dies benötigt noch viele Bemühungen auf verschiedenen Ebenen.

Sie ist bestrebt, starke, diverse und lebendige Gemeinschaften aufzubauen, in denen offene und liebevolle Gespräche geführt werden, die den geistigen und materiellen Fortschritt thematisieren. Das Bild des Vogels mit den zwei Flügeln wird häufig im Diskurs verwendet, um zu erkunden, wie die Seele des Menschen unabhängig von seinem Geschlecht gestärkt werden kann. Damit der Vogel der Menschheit fliegen kann. 

Die Gemeinden stellen sich die Frage, wie sie Kinder und Jugendliche über das Thema Gleichstellung aufklären können, wie sie in Gesprächen erkunden können, was auf nachbarschaftlicher Ebene getan werden kann, und wie sie die Stigmatisierung auf eine Weise angehen können, die nicht paternalistisch ist. Sie nimmt auch an Gesprächen in offiziellen Räumen teil, in denen Geschlechterfragen diskutiert werden. Und schliesslicht untersucht sie auch, wie diese Gespräche vorangebracht werden können. 

Darüber hinaus zeigt die Zusammensetzung der Bahá’í-Institutionen in der Schweiz, dass Gleichberechtigung eine Selbstverständlichkeit ist. Denn sie setzen sich historisch gesehen aus einer gleichen Vertretung von Frauen und Männern zusammen. Die Schweizer Bahá’í-Gemeinde freut sich darauf, an vielen Gesprächen über Gleichberechtigung teilzunehmen, ihr Engagement in diesem Bereich fortzusetzen und nach weiteren Wegen der Zusammenarbeit zu suchen, um auf den bisher erzielten Ergebnissen aufzubauen.

Wenn die Gemeinden stark, lebendig und vielfältig sind und der Diskurs von einer gemeinsamen Vision der Wichtigkeit der Gleichberechtigung angetrieben wird, können Fortschritte erzielt werden.


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Autor

  • Tara Semple

    Soziologin, regionale Koordinatorin für das Bahá’í Trainingsinstitut ||| Dr. Tara Semple ist eine promovierte Soziologin, die in Deutschland an der Justus Liebig Universität am kultursoziologischen Institut studiert und gelehrt hat. Ihre Arbeit ist eine Gegenwartsanalyse westlicher, kapitalistischer Gesellschaften und stellt die Frage nach Wandel und Fortschritt, wie er durch junge Menschen in urbanen Zentren vorangetrieben wird. Das Interesse für Kultur und Gesellschaft begleitete sie auch nach Zürich, wo sie vor einigen Jahren aus familiären Gründen hinzog. Zurzeit arbeitet Tara Semple als regionale Koordinatorin für das Bahá’í Trainingsinstitut. In ihrer Freizeit engagiert Sie sich in Zürich-Seebach mit ihren Nachbar:innen, um an der Graswurzel diverse und lebenssprühende Gemeinschaften aufzubauen.

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