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Eliane Bollag

Die Mikwa – Ein Bad, das nicht nur sauber macht

Spirituelle Reinheit oder Unreinheit werden häufig missverstanden. Insbesondere in Verbindung mit den Geschlechtern führen diese Begriffe zu oft zu falschen Schlüssen und Vorstellungen von unterdrückten Frauen. Das Beispiel der Mikwa zeigt, wie Reinheitsrituale das irdische dem spirituellen Leben näherbringen können.

In der jüdischen Tradition begegnet man dem Wasser als spirituelles Element auf Schritt und Tritt. Das Wasser begleitet die praktizierenden Juden und Jüdinnen durch den Alltag. So werden vor dem Verzehr von Brot die Hände dreimal rituell übergossen, ebenso nach jedem Toilettengang oder als erste Handlung nach dem Aufstehen am Morgen. Auch dem Kohen (dem jüdischen Priester, dem der Dienst im Tempel zukam), werden heute noch, bevor er die Gemeinde segnet, vom Leviten (dem Abkömmling des Stammes Levi, der den Hilfsdienst im Tempel stellte) dreimal die Hände übergossen.

Von besonderer Bedeutung ist die Mikwa, das jüdische Tauchbad, welche allmonatlich von der verheirateten praktizierenden Frau aufgesucht wird, nachdem ihre Menstruation abgeklungen ist und sie sieben zusätzliche Tage gewartet hat. Auch Männer besuchen die Mikwa, nämlich dann, wenn sie sich spirituell auf einen besonderen Moment oder eine besondere Handlung vorbereiten möchten, zum Beispiel auf die Hochzeit oder spezielle Feiertage.

Das Wasser hat stets die Bedeutung einer Reinigung, aber nicht nur: Es stellt immer auch die Trennung von «tame» und «tahor» dar. Diese zwei Begriffe werden in der Regel als spirituell «unrein» und «rein» übersetzt, was oft zur ungenauen Vorstellung führt, dass die Person, die tame, also unrein ist, mit einem Makel behaftet ist. Ebenso wäre eine Übersetzung mit schmutzig und sauber falsch, denn auch saubere Hände werden vor den oben genannten Handlungen dreimal übergossen. Was also hat es auf sich mit tame und tahor?

Die Zahl 40 und das Erlangen eines neuen Status

Die Mikwa, das Tauchbad, kann uns als Ausgangspunkt dienen. Die Mikwa besteht aus einem Becken, das mit Regen- oder Quellwasser gefüllt ist. Das Mindestmass an Wasser, welches im Becken vorhanden sein muss, beträgt 40 Se’ah (1 Se’ah ist ein antikes Mass und entspricht 7,3 Liter). Geht eine Frau in die Mikwa, so muss sie ihren Körper inklusive Haare vollständig untertauchen. Sie soll keine Kleidung tragen und nichts soll an ihrem Körper haften. Es geht darum, dass ihr Körper vollständig von Wasser umgeben ist und sie nichts vom Wasser trennt.

Wir sehen hier also zwei wichtige Elemente: ein Mindestmass von 40 Se’ah und das vollständige Umgebensein vom Wasser. Interessanterweise kommt die Zahl 40 in der jüdischen Tradition sehr häufig vor. Hier einige Beispiele:

  • Bei der Sintflut regnete es 40 Tage lang.
  • Moses war (beide Male) 40 Tage und 40 Nächte auf dem Berg Sinai als er die Tora erhielt.
  • Nach dem Auszug aus Ägypten wanderte das Volk während 40 Jahren in der Wüste.
  • Die Zeit der Besinnung und der Rückkehr beträgt 40 Tage, vom ersten Elul (letzter Monat im jüdischen Kalender) bis zum 10. Tischri (erster Monat im jüdischen Kalender), welcher auch bekannt ist als Jom Kippur (Versöhnungstag).
  • Dem werdenden Menschen kommt nach 40 Tagen Schwangerschaft der Status eines Babys zu.

Es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele, die mit der Zahl 40 in Zusammenhang stehen. Obwohl es sich bei diesen Beispielen dem Anschein nach um völlig unterschiedliche Begebenheiten handelt, haben sie alles eines gemeinsam: Der Mensch tritt von einem Status in einen anderen Status über.

Die Sintflut überflutete das ganze Land und Noah gründete danach eine neue, bessere Gesellschaft. Das Volk verliess Ägypten als Sklaven. Es befreite sich aus der physischen Unterdrückung und legte seine Sklavenmentalität ab. In den 40 Jahren der Wüstenwanderung wandelte es sich zu einem organisierten Volk mit einem detaillierten Gesetz, strukturierten Richtergremien und hierarchisch aufgebauten Stämmen. Das dritte Beispiel beschreibt den Prozess, den jeder jüdische Mensch einmal jährlich durchgehen soll. Er soll in sich gehen, seine Sünden bekennen, seine Stärken erkennen und Vorsätze fassen fürs nächste Jahr. Nach diesem Prozess ist er im Grunde genommen nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor. Er erreicht einen neuen, höheren Status. Ebenso zeigt das Beispiel des werdenden Menschen auf, wie aus unabhängigen Teilen etwas Neues entsteht. Es zeigt die Urform eines neuen Status’ auf, der schliesslich den Status als Mensch erhält.

Jeder Zyklus trägt das Potential eines neuen Lebens

Genauso verhält es sich auch mit dem Gang in die Mikwa. Eine Frau, die menstruiert, erhält den Status einer «Nidda», welcher in diesem Zusammenhang dem Status von «tame» gleichkommt. Hintergrund dieses Status’ ist der Verlust eines potentiellen Lebens. Jeder Zyklus trägt das Potential, neues Leben entstehen zu lassen, in sich. Geht dieser Zyklus ungenutzt vorbei, so ist auch diese Möglichkeit verloren. Eine spirituelle Leere entsteht, ähnlich einer Trauer. Geht die Frau in die Mikwa, taucht vollständig in Wasser ein, so erhält sie den neuen Status «tahor» (bzw. «tehora» in der weiblichen Form) wieder. Ein neuer Zyklus beginnt.

Die Frau taucht in Wasser, von einer Mindestmenge 40 Se’ah, womit auf diesen neuen Status
Bezug genommen wird. Das Wasser selber symbolisiert Leben oder sogar Gott selber. Sie umgibt sich also vollständig mit dem Symbol Leben und der symbolischen Repräsentation von Gott, weshalb sie nichts zwischen sich und Gott stehen haben möchte, dass sie trennen könnte. Deshalb ist es so wichtig, dass nichts am Körper der Frau haftet.

Das Ritual im Leben

Im Alltag gibt es zahlreiche Regulierungen, die im Zusammenhang mit der Nidda-Zeit einer Frau stehen und auch den Gang in die Mikwa betreffen. In der Nidda-Zeit verzichten Mann und Frau auf jeglichen körperlichen Kontakt. Erst nachdem die Frau die Mikwa besucht hat, nehmen praktizierende Juden ihr Sexualleben wieder auf. Es findet eine eigentliche Erneuerung ihrer ehelichen Verbundenheit statt.

© halbergman/istock

Es zeigt sich, dass viele Paare diesen Moment der neuen Zweisamkeit als besonders schön und wertvoll empfinden. Es ist dies bei Weitem nicht nur wegen der physischen Abstinenz, die diesen Moment so besonders macht. Viele Paare berichten, dass sie in der Nidda-Zeit, ganz andere Themen miteinander besprechen als in der Zeit der sexuellen Aktivität. Sehr oft werden in der Nidda-Zeit Lebensfragen oder Beziehungsfragen diskutiert, die sonst zu kurz kommen. Die Paare nutzen diese Zeit für die Auseinandersetzung auf spiritueller Ebene, während in der Zeit nach der Mikwa, welche auf die fruchtbare Phase des weiblichen Zyklus fällt, Romantik, physische Intimität und Sexualität priorisiert werden.

Nicht immer wird der Gang in die Mikwa als Spa-Erlebnis wahrgenommen. Es kann auch vorkommen, dass eine Frau nach dem Tauchgang nicht nach Hause gehen möchte.

Doch was, wenn das Leben nicht so spielt wie gewünscht? Was, wenn die Familiengründung auf sich warten lässt? Wenn die Beziehung nicht rund läuft? Wenn die Frau physischen oder psychischen Herausforderungen begegnet? Nicht immer wird der Gang in die Mikwa als Spa-Erlebnis wahrgenommen. Es kann auch vorkommen, dass eine Frau nach dem Tauchgang nicht nach Hause gehen möchte. Oder die Mikwa-Frau, also die Betreuungsperson in der Mikwa, stellt physische Verletzungen fest, die von häuslicher Gewalt stammen.

Ansprechpersonen für Frauen-Anliegen

In der modernen jüdischen Gesellschaft sind die Betreuungsfrauen ausgebildet, um solchen Situationen zu begegnen. Sie sind oftmals die ersten Ansprechpersonen für Frauen-Anliegen, welcher Natur auch immer. Sie wissen, wo die Frauen Hilfe holen können und leisten so im Stillen für sie einen unschätzbaren Beitrag.

Den Lehrerinnen, die junge Frauen vor der Hochzeit in die Gesetze der Nidda-Zeit und des Tauchganges einführen, kommt ebenfalls eine besondere Rolle zu. In Kreisen, in welchen vor der Ehe auf Sex verzichtet wird, findet dabei die eigentliche Aufklärung statt. Während in früheren Zeiten meistens die Mutter der Tochter alles Nötige erklärt hat, ist auch dieser Bereich in der Moderne professionalisiert worden. Die Aufklärung hält nicht beim sexuellen Verkehr, sondern umfasst sämtliche Themen, die eine junge Braut zu besprechen wünscht.

Je nach Hintergrund können ganz unterschiedliche Bedürfnisse bestehen. Angefangen bei der biologischen Aufklärung, Sexualität, Verhütungsmethoden, Sex-Praktiken, über Paar-Beratung, pathologische Situationen physischer oder psychischer Natur zu Beziehungstipps und Beratung in der Anfangszeit der Ehe. Paare, die schon längere Beziehungen pflegen oder zusammen wohnen, möchten Auskunft über Familiengründung oder erleben bereits Fertilitätsprobleme und möchten Rat.

Unser irdisches Leben ins Spirituelle erheben

Die Mikwa und ihre Gesetze regulieren die Zeit, in der eine verheiratete Frau menstruiert und sie und ihr Mann deshalb auf Sex verzichten. Von Weitem betrachtet könnte man schnell meinen, dass es sich dabei um den Ausschluss der Frau aus der Gesellschaft handelt für die Zeit, in der sie spirituell unrein ist und deshalb ihr Mann sich von ihr fern halten möchte. Dem ist aber nicht so.

Bezogen auf die Nidda-Zeit steht also nicht die Abstinenz im Vordergrund, sondern die Erneuerung und die Wiedervereinigung.

Es geht um die spirituelle und physische Erneuerung des Paares. Die Symbolik hängt eng mit dem Wunsch zusammen, unser irdisches Leben ins Spirituelle zu erheben. Wichtig ist auch, dass orthodoxe Jüdinnen und Juden Gott in jedem Bereich ihres Lebens dienen möchten. Somit erhält jede Handlung eine eigene Heiligkeit. Bezogen auf die Nidda-Zeit steht also nicht die Abstinenz im Vordergrund, sondern die Erneuerung und die Wiedervereinigung. Die von Mann und Frau gelebte physische Liebe wird auf eine spirituelle Ebene gehoben.


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Autor

  • Eliane Bollag

    Lehrerin für «Taharat haMischpacha» (Lehre der jüdischen Reinheitsgesetze), Mutter und Juristin ||| Eliane Bollag-Strauss ist in Baden aufgewachsen. Nach der Heirat zog sie nach Zürich, studierte Jura und gründete eine Familie. Heute sind all ihre fünf Kinder erwachsen, weshalb sie wieder Zeit hat, sich diversen Projekten im Immobilienbereich und im Bereich des sozialen Engagements zu widmen. Im Nebenamt ist sie Lehrerin für «Taharat haMischpacha» (Lehre der jüdischen Reinheitsgesetze) und bildet als solche junge Frauen zu diesem Thema aus.

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