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Christian Rossi

Die Zeugen Jehovas: Eine religiöse Gemeinschaft im Spannungsfeld der Stigmatisierung

Das Christentum ist unglaublich divers. Im Laufe der Zeit entwickelten sich Strömungen und Konfessionen, die sich etablieren konnten. Andere kleinere Gemeinschaften hatten mehr Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. Einige werden als Abgrenzung zu den «Etablierten» als «Sekten» bezeichnet. So zum Beispiel die Zeugen Jehovas. Christian Rossi, Religionswissenschaftler an der Universität Zürich, erklärt, wie diese Gruppierung im Gesamtbild des Christentums verortet werden kann.

Die Bezeichnung «Sekte» wird im Volksmund oft verwendet, um verschiedene religiöse Gemeinschaften (z.B. die Zeugen Jehovas) zu beschreiben und ihre Unterschiedlichkeit und Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft zu verdeutlichen. Dies geschieht oft im Zusammenhang mit Gruppen, die als «abweichend» oder «aussergewöhnlich» angesehen werden, sei es aufgrund ihrer Lehren, ihrer Praktiken oder ihres sozialen Verhaltens. 

Die genaue Definition dessen, was eine «Sekte» ist, variiert jedoch je nach kulturellem und historischem Kontext. In einigen Fällen kann der Begriff neutral verwendet werden, um einfach eine religiöse Gruppe zu beschreiben, die sich von etablierten Hauptströmungen abgrenzt. In anderen Fällen wird er jedoch abwertend verwendet, um Gruppen zu kennzeichnen, die als gefährlich oder manipulativ bewertet werden. 

«Sekte»: Ein religionswissenschaftlich umstrittener Begriff

Die Verwendung dieses Begriffs ist in der Religionswissenschaft umstritten, da er häufig mit negativen Konnotationen behaftet ist und oft zu Vorurteilen und Stigmatisierung führt. Es wird daher zunehmend empfohlen, darauf zu verzichten. Statt den Begriff «Sekte» zu verwenden, können andere Begriffe wie «neue religiöse Bewegung» oder «religiöse Minderheit» benutzt werden, um die Vielfalt und Komplexität religiöser Landschaften besser widerzuspiegeln. 

Nicht selten dient dieser Begriff dazu, religiöse Praktiken oder Überzeugungen zu diskreditieren und als unorthodox oder sogar gefährlich darzustellen.

Trotzdem ist es wichtig anzumerken, dass die Verwendung des Begriffs «Sekte» auch kontextabhängig ist. In einigen Fällen kann er (ausserhalb der Religionswissenschaft) gerechtfertigt sein, um Gruppen zu beschreiben, die durch Manipulation, Ausbeutung oder andere problematische Praktiken gekennzeichnet sind. In solchen Fällen kann der Begriff helfen, auf potenziell schädliche Strukturen hinzuweisen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Es ist jedoch wichtig, vorsichtig zu sein. Oft ist es besser, von «sektenhaften Merkmalen» einer religiösen Gemeinschaft zu sprechen. Auf diese Weise bleibt die Achtung der Religionsfreiheit stets gewahrt, während man gleichzeitig kritische Diskussionen über fragwürdige Praktiken und Strukturen innerhalb religiöser Gemeinschaften führen kann. 

Christliche «Sekten» 

Die Verwendung des Begriffs «Sekte» geht im christlichen Kulturraum oft mit einer Abgrenzung gegenüber bestimmten religiösen Gruppierungen einher. In der Regel bezeichnet die Mehrheitsgesellschaft damit christliche Gemeinschaften, die sie als «abweichend» von den etablierten Hauptströmungen des Christentums betrachtet. 

Nicht selten dient dieser Begriff dazu, religiöse Praktiken oder Überzeugungen zu diskreditieren und als unorthodox oder sogar gefährlich darzustellen. Die Intentionen hinter dieser Bezeichnung können vielfältig sein: von Vorurteilen und Ignoranz bis hin zu einem Versuch, bestimmte Gruppen, die als gefährlich eingestuft werden, zu kontrollieren. 

Die innerchristliche Diversität ist jedoch ein Merkmal des Christentums, das oft übersehen wird. Die Vielfalt des Christentums spiegelt die verschiedenen historischen, kulturellen und theologischen Strömungen wider, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind. Es gibt zahlreiche Konfessionen, Glaubensrichtungen und theologische Interpretationen, die unterschiedliche Überzeugungen und Praktiken umfassen. 

Die Zeugen Jehovas: Eine christliche «Sekte»?

Die Zeugen Jehovas sind nur eine von vielen Gemeinschaften, die sich selbst als christlich betrachten, aber auch spezifische Lehren und Praktiken haben, die sie von anderen christlichen Gruppen unterscheiden. Ihre Schwerpunkte liegen auf der intensiven missionarischen Tätigkeit und dem Glauben an die baldige Zerstörung der gegenwärtigen Weltordnung durch Gottes Königreich, das die Erde in ein Paradies verwandeln wird. 

Die Zeugen Jehovas sind auch bekannt für ihre Neutralität in politischen Angelegenheiten und ihre Ablehnung von Bluttransfusionen, Militärdienst und Waffengewalt. Sie feiern keine Geburtstage und andere (religiöse) Feiertage und meiden jeglichen Kontakt mit ehemaligen Mitgliedern, die sie als «Abtrünnige» betrachten. 

Bild: iStock/AndreyPopov

Stigmatisierung von «Sekten»-Mitgliedern

Die Stigmatisierung von religiösen Gemeinschaften als «Sekten» kann schwerwiegende Auswirkungen auf ihre Mitglieder haben. Sie führt manchmal zu Vorurteilen, Diskriminierung und sozialer Isolation. Ihre Mitglieder sind häufig mit Misstrauen, Ablehnung und Ausgrenzung konfrontiert, was ihre Lebensqualität und das allgemeine Wohlbefinden beeinträchtigen kann. 

Während einige die Gemeinschaft als positiv und unterstützend erleben, sehen andere darin eine bedenkliche Organisation mit fragwürdigen Praktiken. 

Die Zeugen Jehovas werden nicht nur als «Sekte» bezeichnet. Sie sind auch oft Gegenstand von Kritik und Ablehnung. Kritiker werfen ihnen vor, eine Gemeinschaft zu sein, die autoritäre Strukturen hat und strenge Kontrolle über ihre Mitglieder ausübt. Es gibt Berichte über soziale Isolation, Druck zur Konformität und den Ausschluss von andersdenkenden Mitgliedern. Es gibt auch Zeugenaussagen über Fälle von sexuellem Missbrauch innerhalb der Gemeinschaft. Die Betroffenen werfen der Leitung diesbezüglich vor, dass sie diese nicht angemessen behandelt hätten. 

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die verschiedenen Perspektiven zu berücksichtigen und die Vielschichtigkeit der Debatte um die Zeugen Jehovas anzuerkennen. Während einige die Gemeinschaft als positiv und unterstützend erleben, sehen andere darin eine bedenkliche Organisation mit fragwürdigen Praktiken. 

Trotz dieser Herausforderungen zeigen die Zeugen Jehovas eine bemerkenswerte Fähigkeit, mit Kritik umzugehen. Sie betonen die Bedeutung der Einheit in ihrem Glauben und fördern eine starke Gemeinschaft, in der sie sich gegenseitig unterstützen. Sie unterstreichen die Wichtigkeit von familiären Beziehungen und ermutigen ihre Mitglieder, sich aktiv in die Gemeinschaft einzubringen. Dieser Zusammenhalt kann den Mitgliedern helfen, mit der Stigmatisierung umzugehen und ein positives Gruppengefühl zu entwickeln. 

Was denken Zeugen Jevohas über andere Christen?

Die Zeugen Jehovas haben ihre eigenen Strategien entwickelt, um mit der Vielfalt innerhalb des Christentums umzugehen: Sie betonen die Bedeutung ihrer eigenen Lehren und Praktiken und sehen sich als die einzig wahre Form des Christentums, die die alleinige Wahrheit besitzt. In Bezug auf andere christliche Gemeinschaften nehmen sie eine sehr ablehnende Haltung ein und sehen diese als Abweichungen vom biblischen Glauben. Dies kann zu Spannungen und Konflikten führen. 

Ein Einblick in ihre Publikationen gibt Aufschluss über ihre Standpunkte. Die Zeugen Jehovas verwenden dort die Bezeichnung «Hure Babylon» oder «Babylon die Grosse» aus der Offenbarung des Johannes, um sie als Symbol für das «Weltreich der falschen Religionen» zu verwenden. Sie betrachten nicht nur die christlichen, sondern auch alle anderen Religionen als von Satan beeinflusst, und sehen ihren eigenen Glauben als die einzig wahre und von Gott anerkannte Religion.[1]

In ihrer Auslegung der Bibel lehnen die Zeugen Jehovas andere religiöse Systeme als «falsche Religion» ab und glauben, dass Gott diese letztendlich verurteilen wird. Sie erwarten, dass Gott eine endzeitliche Schlacht («Armageddon») führen wird, in der das «System der falschen Religion», das sie wie erwähnt mit der «Hure Babylon» oder «Babylon der Grossen» identifizieren, vernichtet wird. 

Selbstbild vs. Fremdbild 

Auf ihrer Homepage jw.org bezeichnen sich die Zeugen Jehovas als die einzig wahren Christen und weigern sich, als Mitglieder einer «Sekte» angesehen zu werden. Sie verstehen sich selbst als eine weltweite Bruderschaft, die sich auf den Glauben an Gott und Jesus Christus stützt. Dass sie die wahre Religion repräsentieren, die von Jesus Christus und den Aposteln gegründet wurde, und dass ihr Glaube auf der Bibel beruht, ist für sie eine klare Überzeugung. 

Es ist ausserdem ihr erklärtes Ziel, Jesus Christus nachzufolgen und sein Beispiel nachzuahmen. Den Vorwurf, eine «Sekte» zu sein, lehnen sie ab und betrachten sich stattdessen als eine weltweite Vereinigung von Menschen, die nach biblischen Prinzipien leben und die Wichtigkeit des Bibelstudiums und der Evangelisation betonen. Sie streben danach, eine enge Beziehung zu Gott aufzubauen und gemäss seinen Lehren zu leben. 

Ihrer Überzeugung entsprechend betrachten die Zeugen Jehovas andere Religionen als fehlerhaft oder irreführend.

Aus ihrer Sicht basieren die Lehren und Überzeugungen der Zeugen Jehovas ausschliesslich auf der Bibel und nicht auf menschlichen Traditionen oder Lehren. Sie sehen die Bibel als das inspirierte Wort Gottes an, betrachten ihre Auslegung als die einzig wahre und glauben, dass sie den Willen Gottes am besten verstehen. 

Ihrer Überzeugung entsprechend betrachten die Zeugen Jehovas andere Religionen als fehlerhaft oder irreführend. Sie haben eine missionarische Ausrichtung und sehen es als ihre Pflicht an, die Menschen von ihrer Version der biblischen Wahrheit zu überzeugen. Dabei streben sie danach, andere Menschen für ihre Glaubensgemeinschaft zu gewinnen, um sie vor der Zerstörung während «Armageddon» zu bewahren. 


[1] siehe z.B. https://www.jw.org/de/biblische-lehren/fragen/babylon-die-grosse

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Autor

  • Christian Rossi

    Religionswissenschaftler, Universität Zürich ||| Nach einer Ausbildung zum Wirtschaftsfachmann bei einer Schweizer Grossbank sowie zum Gebärdensprachdolmetscher für Gehörlose und Taubblinde studierte Christian Rossi an der Universität Zürich Religionswissenschaft, Bibelwissenschaften und Psychologie. Zurzeit ist er u.a. Doktorand an der Universität Zürich, wo er mit einem psychologischen Ansatz zum Thema "Zeugen Jehovas" forscht.

Ein Gedanke zu „Die Zeugen Jehovas: Eine religiöse Gemeinschaft im Spannungsfeld der Stigmatisierung

  • Dominique Matter sagt:

    Ihr gut recherchierter Artikel empfinde ich als langjähriger ZJ als ausgewogen und korrekt.
    Wenn tief Gläubige erfahren, dass wir ihre Konfession in die Kategorie „Babylon die Grosse“ einstufen, verstehe ich ihren Missmut. Dies erfolgt jedoch auf einer sachlichen, theologischen Ebene. Der Ausdruck stammt ja nicht von uns sondern vom Apostel Johannes unter göttlicher Eingebung.
    Der Ausdruck ‚Sekte‘ weckt jedoch negative, ausgrenzende Gefühle. Man sollte ihn schon längst in die Kategorie der nicht zu gebrauchenden Ausdrücke (wie Zigeuner, Neger, usw.) setzen. Ich empfinde das nicht nur so, sondern er IST rassistisch geprägt. Dass Sie diesen Aspekt nicht gebührend berücksichtigt haben, empfinde ich als gravierenden Mangel.

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