Rafael Walthert

Was ist Religion? Einblicke in die Religionswissenschaft

Wir alle meinen zu wissen, was Religion ist. «Der Glaube an Götter, Geister oder Energien», möchte man antworten. Die genaue Betrachtung zeigt jedoch: es ist gar nicht so einfach Religion zu definieren. Rafael Walthert, Professor der Religionswissenschaft, erklärt weshalb.

Wer das Wort «Spiel» hört oder selbst verwendet, weiss jeweils ungefähr, was unter einem «Spiel» zu verstehen ist. Will man «Spiel» definieren, dann fällt es jedoch schwer: Es ist kaum möglich, den vielfältigen Gebrauch des Wortes «Spiel» in eine Formel zu packen, mit der für jedes Beispiel einleuchtend zwischen Spielen und Nicht-Spielen unterschieden werde könnte. Es würde sich zeigen, dass das, was für manche Leute ein Spiel ist, andere beispielsweise eher als Sport oder Kampf bezeichnen würden. Ähnlich ist es beim Wort «Religion»: Meist weiss man, was gemeint ist, eine genaue Definition fällt jedoch schwer.

Religion: Definitionen sind abhängig von den Menschen

Von Bedeutung ist, wer und mit welchen Interessen überhaupt eine Definition formuliert und anwendet. Welche Vorbilder mögen ihm/ihr vorgeschwebt sein, als er/sie die Definition verfasste? Ein:e Hobby-Fussballspieler:in würde wahrscheinlich zu einer anderen Definition von Spiel kommen – vielleicht würde der Ball darin eine Rolle spielen – als der/die professionelle Pokerspieler:in, der/die nach Merkmalen von Spielen gefragt eher auf Karten, Glück oder Spielrunden verweisen würde.

Dasselbe trifft auf die Religionsdefinition zu. Auch hier ist zu fragen, wer mit welchen Interessen und mit welchen Gegenständen definiert. So erstaunt es nicht, dass die Diskussionen um Religionsdefinition in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen schon lange andauern. Von einer allgemein akzeptierten Definition kann nicht die Rede sein. Wenn einige prominente Definitionen beziehungsweise Definitionsstrategien erläutert werden, folgt die daran geübte Kritik auf dem Fusse.

Die Definition über den Inhalt: Glauben an spirituelle Wesenheiten

Religion kann beispielsweise als Glaube an spirituelle Wesenheiten identifiziert werden, als «belief in spiritual beings.» So lautete zumindest der Vorschlag des englischen Ethnologen Edward Burnett Tylor von 1871. Bereits Tylor präsentierte dies als eine «Minimaldefinition». Trotz ihres Alters und ihrer Kürze ist diese auf den ersten Blick nützlich.

Das, was gemeinhin als Religion bezeichnet wird, scheint tatsächlich in der Regel mit Wesenheiten zu tun zu haben. Diese unterscheiden sich von denjenigen aus Fleisch und Blut und sind eher spirituell als materiell unterwegs, also Götter, Engel, Totemtiere und Seelen. Der Glaube an politische Führer hat dagegen menschliche, keine spirituelle Wesenheit als Gegenstand: Der Bahaismus ist mit seinem Gottesglauben eine Religion, der Kommunismus keine. 

Die Kritik an inhaltlichen Religionsdefinitionen

Dennoch folgt die Kritik an dieser Definition augenblicklich. Erstens: Was genau ein «spiritual being» ist und was nicht, spezifiziert Tylor nicht. Er scheint jedoch von einem Gegensatz zwischen geistlichen und materiellen Dingen ausgegangen zu sein – so etwas wie Götterfiguren (z.B. aus Ton), also gleichzeitig geistige und materielle Wesen, können nicht einfach der einen oder anderen Seite der Unterscheidung zugeordnet werden. Vielleicht, so liesse sich mutmassen, verdankte Tylor seine Auffassung einer klaren Unterscheidung zwischen geistig und materiell seiner religiösen Erziehung als Quäker, in der materielle Götter nicht vorgesehen sind.

Ausserdem spielen Glaubensvorstellungen nicht in allen religiösen Traditionen die zentrale Rolle …

Aber auch der zweite Teil der Definition, die Idee, dass Religion aus «belief» besteht, ist nicht unproblematisch. Religion besteht gemäss dieser Definition aus Glaubensvorstellungen, das heisst, es handelt sich um eine Angelegenheit, die mit Verstand zu tun hat. Rituale bleiben beispielsweise aussen vor. Ausserdem spielen Glaubensvorstellungen nicht in allen religiösen Traditionen die zentrale Rolle – oft wissen die Teilnehmenden eines Rituals nicht genauer über allenfalls damit verbundene Vorstellungen Bescheid. Vielleicht glauben sie auch nicht besonders, sondern führen die Rituale durch, weil es sich einfach gut und richtig anfühlt und man das einfach so macht. Absolut zentral ist der Glaube jedoch im Protestantismus und damit sind wir wieder beim Quäkertum von Tylor.

Der Verdacht erhärtet sich damit, Tylor stülpe seinem Religionsbegriff seine eigene, vom Protestantismus geprägte Perspektive über. Für Zusammenhänge, in denen beispielsweise die Trennung spirituell/nicht-spirituell nicht so klar ist, oder Religion vorwiegend in Form von Ritualen ausgeübt wird, ist dieser Religionsbegriff nicht so passend.

Inhalt vs. Funktion von Religion

Definitionen von Religion wie diejenige von Tylor, die bei den Inhalten von Religion ansetzen, werden «substantivistisch» genannt. Sie seien immer durch den Kontext geprägt und könnten deshalb nicht auf andere Kontexte angewandt werden – so lautet der Vorwurf zusammengefasst. 

Noch deutlicher wird das in Religionsverständnissen, wie sie in der an der Schnittstelle von Religionswissenschaft und Theologie angesiedelten sogenannten «Religionsphänomenologie» vertreten wurden. Religion galt bei Autoren wie Rudolf Otto oder Friedrich Heiler als das Wirken des Heiligen auf das menschliche Erleben. Unverkennbar ist die Betonung auf das Individuum, das Erlebnis und den Glauben – allesamt Betonungen, die sich dem Protestantismus verdanken.

Verschiedene Autor:innen argumentieren, man solle, statt auf Inhalte zu schauen, Religion darüber definieren, welche Funktion sie für Menschen erfülle. Damit löse man sich von der normativen Ausgangslage, immer eine Religion als Massstab für die anderen zu setzen. Der Ausgangspunkt der Definition über Funktionen sind die Lebensbedingungen von Menschen und nicht bestimmte Formen von Religion. Da der Mensch immer nach denselben Regeln funktioniert, sei auch eine am Menschen und seinen Lebensbedingungen ansetzende Definition universal. 

Funktion für die Gesellschaft: Der soziale Kitt

Einigkeit, welche Funktion das grundlegende Kriterium für Religion darstellt, gibt es nicht. Einige Verständnisse sehen die Funktion von Religion eher auf der Ebene der Gesellschaft. Religion sei in der Gesellschaft notwendig, um Solidarität und sozialen Zusammenhalt zu erzeugen – so der Soziologe Émile Durkheim. Alle Praktiken und Institutionen, die Solidarität zwischen den Menschen und Zusammenhalt in der Gruppe sicherstellen, können in diesem Sinne als Religion verstanden werden.

Funktion für das Individuum: Von existenziellen Fragen bis zur Sinngebung überhaupt

Andere Verständnisse setzen bei der Funktion für das Individuum an. Religion wird in diesem Rahmen als das verstanden, was dem Menschen hilft, mit Grundproblemen seiner Existenz umzugehen, z.B. gemäss dem Ethnologen Clifford Geertz mit Fragen nach dem Tod, dem richtigen Handeln und dem Sinn der Welt und der Existenz überhaupt. Oder Religion soll dem Menschen bei der Bewältigung der sogenannten «Kontingenz» helfen, also der Unterbestimmtheit dessen, was gedacht und getan werden soll. Noch breiter wird die Funktion von Religion darin gesehen, dass sie dem Menschen überhaupt erst erlaubt, sich, den Dingen und der Welt Sinn zu verleihen.

Kritik an funktionalen Definitionen: Ethnozentrisch und zu breit

Solche funktionalen Definitionsstrategien sind offensichtlich breiter und auf den ersten Blick weniger von der Perspektive des Definierenden beeinflusst. Tatsächlich ist es aber auch hier nicht schwierig, einen versteckten Ethnozentrismus aufzudecken. Möglicherweise ist es aus der Warte eines modernen, gebildeten Westeuropäers verständlich, die Funktion von Religion beim «Stillen des menschlichen Sinndurstes» anzusiedeln. Aus der Perspektive eines mit materiellen Sorgen beschäftigten Stammesmitgliedes in Australien, das sich den Luxus von Sinnfragen nicht leisten kann, scheint es abwegig.

Denn gilt jegliche Sinngebung als religiös, sind Bedienungsanleitungen und Kochbücher ebenso religiöse Literatur wie der Koran.

Neben solchen Bedenken, dass auch funktionale Religionsverständnisse letztlich ethnozentrisch sind, gibt es eine weitere kritische Anfrage an diese Definitionsstrategie. Definitionen über «Sinnverleihung» oder «Kontingenzbewältigung» versuchen dem Problem mit grosser Breite zu begegnen. Sie verlieren dabei aber den Nutzen, religiöse von anderen Phänomenen zu trennen. Denn gilt jegliche Sinngebung als religiös, sind Bedienungsanleitungen und Kochbücher ebenso religiöse Literatur wie der Koran: Auch sie geben Anweisungen, was zu tun ist, bewältigen also Kontingenz, und auch sie versehen Handlungen mit Sinn. Mit einem derart breiten Religionsverständnis entfällt also die Chance, mit dem Religionsbegriff die Welt differenziert zu betrachten.

Wissenschaft als westliche Perspektive

Während auf der einen Seite zu breite Religionsdefinitionen wenig sinnvoll sind, scheint auf der anderen Seite die Perspektivität von Definitionen unumgänglich. Und so wird in jüngeren Diskussionen aus Positionen, die sich als «poststrukturalistisch» zusammenfassen lassen, nicht nur auf den Ethnozentrismus der Religionsdefinitionen hingewiesen, sondern auch darauf, dass alle diese wissenschaftlichen Traditionen Teil eines christlich-westlich dominierten Zugriffes auf den Rest der Welt und ihrer Vergangenheit darstellen.

Beides kann nicht abgestritten werden: Wissenschaft ist eine sehr spezifische Perspektive auf die Welt. Der Blick auf die Fachgeschichte von Kultur- und Sozialwissenschaften zeigt, dass Wissenschaft und die damit einhergehenden Religionsbegriffe europäisch bzw. nordamerikanisch geprägt sind. Daher sind solche wissenschaftlichen Zugänge auf Religion immer auch von der entsprechenden religiösen Tradition, dem Christentum in seiner okzidentalen Ausprägung, beeinflusst.

Versuche, Funktion und Inhalt zusammen zu denken

Dem kann mit einer Definitionsstrategie Rechnung getragen werden, die Religion nicht als eine universale Dimension des menschlichen Lebens und auch nicht als das Wirken des Göttlichen auf die Menschen, sondern als ein historisches Phänomen wie die Nationalstaaten oder den Pyramidenbau versteht. Religion ist dann etwas, was unter bestimmten Umständen von Menschen geschaffen wird und sich möglicherweise auch wieder verändert oder auflöst.

Welt oder Schöpfung: Immanenz und Transzendenz

Der deutsche Soziologie Niklas Luhmann charakterisierte einer solchen Logik folgend Religion als das Resultat eines Jahrhunderte dauernden Vorganges der «Ausdifferenzierung», in dessen Verlauf sich letztlich das Religionssystem entpuppte. Religion habe sich als gesonderter Bereich der Gesellschaft ausdifferenziert und stelle heute ein System neben anderen, ihrerseits ausdifferenzierten Systemen in der Gesellschaft dar, wie beispielsweise der Wirtschaft oder der Politik.

Was zuerst nur ein System von Ritualen zu besonderen Gelegenheiten wie Geburten und Bestattungen war, wurde durch das Herausbilden einer Priesterschaft zunehmend unabhängiger und entwickelte letztlich eine bestimmte Art und Weise der Kommunikation, mittels derer sich Religion von anderen Arten und Weisen des Kommunizierens unterscheidet. Religiöse Kommunikation erkenne man daran, dass sie das «Immanente» unter dem Aspekt des «Transzendenten» betrachte. Das Immanente ist bei Luhmann die anfassbare, gegebene Welt. Ihm gegenüber steht das Transzendente, das Luhmann auf einer höheren Seinsebene sieht. Beispielsweise wird die immanente, das heisst gegebene und «anfassbare» Welt, als Resultat der Schöpfung eines transzendenten, spirituellen Wesens gesehen.

Dabei wird die Schöpfung als grundlegend für das Bestehen der Welt verstanden und damit, wie in der Definition wiedergegeben, nicht nur eine Unterscheidung zwischen einer immanenten und einer transzendenten Ebene gezogen, sondern das Immanente (die Welt) auch noch über das Transzendente (die Schöpfung) und als dadurch überhaupt erst hervorgebracht, verstanden. 

Dieses Verständnis vereint substanzielle («Was?») auch mit funktionalen («Wozu?») Aspekten. Die verschiedenen Teilsysteme der Gesellschaft widmen sich nämlich unterschiedlichen Funktionen. Für kollektiv bindendes Entscheiden ist Politik zuständig, für Güterversorgung angesichts von Knappheit die Wirtschaft und Religion dafür, Unfassbares fassbar zu machen. Sie bietet Wege wie beispielsweise Rituale oder theologische Erklärungen an, mit denen mit anderweitig nicht lösbaren Problemen umgegangen werden könne.

Eine Kette der Erinnerung

Eine weitere Definition, die nicht einfach substantivistisch oder funktional ist, ist diejenige der französischen Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger. Kennzeichnend für Religion sei die Referenz auf einen authentischen Ursprung. Religionsangehörige sähen sich selbst als Glied in einer Kette der Erinnerung (mémoire), die von diesem Ursprung ausgehe. 

Mohammed und der Koran, die Bibel und das Leben Jesu, die Leben und Lehren Buddhas – all dies sind Beispiele für solche Bezugspunkte, die als unhinterfragt gegeben gesehen werden und zu denen die Menschen der jeweiligen Tradition sich in eine Kontinuität stellen. Die Interpretationen der Bezüge sind dabei höchst gegenwärtig und oft variabel, aber mit der Verortung in der Kette der Erinnerung sind sie traditionell und religiös legitimiert.

Unterschiedliche Perspektiven aufnehmen

Die Vielfalt von Religionsverständnissen ist offenkundig. Die Vielfalt kann als verwirrend gesehen werden, da sie nicht die Eindeutigkeit bietet, die von der Wissenschaft erhofft werden könnte. Gleichzeitig bietet diese Vielfalt auch die Chance, Religion aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Jede Definition ermöglicht einen jeweils spezifischen Blick auf die interessierenden Phänomene. Das Erkenntnisinteresse dürfte damit massgeblich dafür sein, welche Perspektive man einnehmen möchte. Damit ist jedoch keineswegs Beliebigkeit verbunden. Die Diskussionen um die Definitionsfragen machen sensibel für blinde Flecken und Einseitigkeiten von Religionsverständnissen, die immer mitbedacht werden sollten.

Für Menschen, die sich ausserhalb der Forschung mit Religion beschäftigen, ist die Vielzahl von Verständnissen ein Beleg dafür, dass Religion kein einheitliches Phänomen mit einem eigenen «Wesen», einer ein für alle Mal identifizierbaren Essenz ist. Religionen und die Dinge, die sie ausmachen, wandeln sich. Angesichts dieses Wandels und der Vielzahl von Traditionen, die im Laufe der Zeit als religiös diskutiert wurden, ist es auf jeden Fall angebracht, sie aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, um ihrer Komplexität gerecht zu werden.


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Autor

  • Rafael Walthert

    Professor für Religionswissenschaft ||| Rafael Walthert ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Ritualtheorien, Religion in der westlichen Welt der Gegenwart und Religion in Indien.

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