Anne Beutter

Religiöse Diversität und ihre Darstellung

Diversität ist in aller Munde. Und so beschäftigt sich auch die Religionswissenschaft mit religiöser Vielfalt. Dies hat weitreichende Konsequenzen: was und wie als vielfältig beschrieben wird, beeinflusst auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Vielfalt.

Wie stellt man religiöse Diversität dar? Ritualgegenstände und religiöser Zierrat der Weltreligionen pittoresk und friedlich nebeneinander drapiert oder bunte Icons, die als kleine Stecknadeln die heiligen Stätten und religiösen Orte auf einem Stadtplan verorten – das wären vielleicht die Klassiker, die einem dazu als erstes einfallen.

Warum wollen wir Religionsvielfalt überhaupt sichtbar machen? Welche Konsequenzen hat das – Wer profitiert, wer kommt zu Schaden?

In den vergangenen Jahren sind nicht nur die religiöse Diversität in der Gesellschaft selbst, sondern auch die Formen, religiöse Vielfalt darzustellen auf den Schirm der Religionswissenschaft gekommen, die sich kritisch und selbstkritisch fragt: Was machen wir da eigentlich, wenn wir «religiöse Vielfalt» darstellen? Wo sehen wir Vielfalt, wo Religion, warum genau da und wo ziehen wir Grenzen? Wen und was sehen wir – machen wir sichtbar? Wen und was nicht? Warum wollen wir Religionsvielfalt überhaupt sichtbar machen? Welche Konsequenzen hat das – wer profitiert, wer kommt zu Schaden? Und ganz praktisch die Frage: Wenn wir uns denn entscheiden, religiöse Vielfalt darzustellen, wie machen wir das konkret – und vielleicht anders, im Idealfall besser, als die Formen, die wir nun mit diesen kritischen Fragen sachgerecht zergliedert haben?

Dieser Aufgabe haben wir uns in einem Projektseminar am Religionswissenschaftlichen Seminar der Uni Luzern gestellt und geschaut, wohin uns der Versuch führt. Entstanden sind fünf Viedeoreportagen, die hier auf religion.ch und im Rahmen der Dokumentation Religionsvielfalt im Kanton Luzern in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen veröffentlicht wurden. Die Voraussetzung dafür war, erst einmal zu fragen: Was alles kann zum Gegenstand werden, wenn wir religiöse Diversität betrachten wollen? Und welche wiederkehrenden Muster fallen uns dabei auf?

Verortung religiöser Vielfalt – oder wo (überall) lässt sich Diversität finden?

Auffallend ist, dass viele Darstellungen religiöser Diversität bei den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften ansetzen, das heisst auf der Meso-Ebene der Organisationen, und anhand dieser Gemeinschaften die unterschiedlichen religiösen Traditionen festmachen und dokumentieren, die z.B. eine Stadt oder Region religiös vielfältig machen. Aber das ist nur eine mögliche Art, religiöse Diversität zu verorten. Darüber und darunter gibt es auch etwas und die Vielfalt zwischen Religionen ist keineswegs die einzige Form religiöser Vielfalt. 

Um aufzufächern, was alles unter dem Schlagwort «religiöse Vielfalt» zum Gegenstand der Betrachtung werden kann, lassen sich erstens verschiedene Arten der Vielfalt und zweitens unterschiedliche Tiefenschärfen unterscheiden.

Bei den Arten der Vielfalt lässt sich schematisch unterscheiden, ob es um Vielfalt innerhalb von Religionen geht (inner-religiöse Diversität), um die Vielfalt zwischen verschiedenen Religionen (inter-religiöse Diversität) oder um die Vielfalt, die sich zwischen Religiösem und Säkularem aufspannt (säkular-religiöse Diversität).

Alle drei Arten der Vielfalt lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft thematisieren: Schaut man sich die Vorstellungen, Praktiken oder Biographien von Individuen an (Mikro-Ebene), sind die religiösen Organisationen die Referenzgrösse (Meso-Ebene) oder geht es um gesamtgesellschaftliche oder gar globale Strukturen und Diskurse, wie z.B. Bevölkerungs-Statistiken oder globale Kommunikationsströme (Makro-Ebene).

© joey333/iStock

Als drittes kommt in diesem Koordinatensystem der Vielfalt noch die zeitliche Dimension dazu: Betrachtet man die «Vielfalt» zu einem bestimmten Zeitpunkt aus einem gleichzeitigen Nebeneinander (synchron) oder wie sie sich durch Veränderungen über die Zeit hinweg ergibt und sich entwickelt (diachron). Ersteres wäre z.B. auf der individuellen, der Mirko Ebene, der Fall, wenn eine Person Elemente aus unterschiedlichen religiösen Traditionen in ihrer religiösen Praxis kombiniert. Diachrone Vielfalt auf der Mikro-Ebene wäre hingegen, wenn eine Person im Laufe ihres Lebens ihre religiöse Zugehörigkeit wechselt. Obwohl sie sich deutlich unterscheiden, wären beides religiöse Biographien, die insgesamt von religiöser Vielfalt geprägt sind. 

Oder um es genauer zu sagen: Beides sind Biographien, die man als Beobachterin als religiös vielfältig beschreiben könnte, wobei das nicht unbedingt mit der Selbstwahrnehmung der betreffenden Personen übereinstimmen muss: Die erste Person kann die Praktiken und Vorstellungen genauso gut als eine integrierte Einheit erfahren, und die zweite Person könnte die letzte Station ihres Wegs als die eine umfassende verstehen, die alle anderen ersetzt.

Mächtige Motive – oder wie wir uns Diversität vorstellen?

Die heterogenen Erscheinungen im Leben der Menschen sind nämlich nicht das gleiche wie die mentalen Modelle, mit denen wir uns das abstrakte Wort «Vielfalt» vorstellen – sei es im Alltag, in der Wissenschaft oder in der Politik. Unter den Modellen und Metaphern dafür, wie «religiöse Vielfalt» funktioniert, gibt es zwei, die die kollektive Imagination derzeit besonders prägen.

Vergleichbarkeit und die fein säuberliche Unterteilung machen dieses Modell zu einer eingängigen Krücke.

Die eine ist das sogenannte «Weltreligionen-Paradigma». Es ist überall – sogar am Anfang dieses Texts. Fünf, sieben, neun, bisweilen auch ein paar mehr oder weniger «grosse» «Religionen» werden unterschieden, um die religiöse Vielfalt auf der Welt oder in einer Stadt zu beschreiben, in einem Kinderbuch zu erklären, oder die wichtigsten Religions-Vertreter:innen bei einem Anlass dabei zu haben. In diesem Modell sind Religionen einigermassen klar abgegrenzte Einheiten, die jeweils aus einem Katalog von typischen Elementen wie religiösen Vorstellungen und Weltbildern, heiligen Schriften, Ritualspezialisten, Feiertagen, heilige Stätten und religiösen Organisationen bestehen. In den Darstellungen und Statistiken begegnen wir diesem Modell auch oft in Form eines meist farblich codierten Kategorien-Systems.

Vergleichbarkeit und die fein säuberliche Unterteilung machen dieses Modell zu einer eingängigen Krücke. Sie bedeutet aber auch sehr viel Reduktion – oft zu viel, um das Funktionieren der Vielfalt zu verstehen. So praktisch es für die schematische und leicht verständliche Darstellung sein mag, so sehr schränkt es den Blick ein.

Hier bieten religiöse Anbieter nach kompetitiven Logiken des Marktes, Heilsgüter aller Art zum individualisierten Konsum feil.

Gerade weil unter Bedingungen wie verdichteten globalen Austausch- und Kommunikationsströmen die unterschiedlichen Ausprägungen religiöser Traditionen und Praktiken und die fliessenden Übergänge in den Grenzbereichen des religiösen Feldes, immer deutlicher geworden sind, ist in den vergangenen Jahrzehnten eine neue Metapher aufgetaucht: jene des religiösen Marktes. In diesem Bild haben wir es nicht mehr mit einer fein säuberlich nebeneinander gereihten Sammlung von «grossen» und manchmal «kleineren» «Religionen» zu tun, sondern mit einem dichten unübersichtlichen Marktgeschehen. Hier bieten religiöse Anbieter nach kompetitiven Logiken des Marktes Heilsgüter aller Art zum individualisierten Konsum feil. Es gibt Marktführer und Nischenprodukte, und jede Zielgruppe findet das Richtige für die eigenen religiösen Bedürfnisse – die durchaus auch bei unterschiedlichen Anbietern gleichzeitig gestillt werden können.

Ambivalente Effekte – oder warum es drauf ankommt

Spannend ist nun, dass Religionswissenschaftler:innen zeigen konnten, dass die Bilder, die wir uns von religiöser Vielfalt machen und wo wir diese diagnostizieren, ganz deutlich vom Zeitgeist mitgeprägt sind. Die Modelle verändern sich, wenn sich die gesamtgesellschaftlichen Diskurse und Befindlichkeiten verändern. Das gilt sowohl für die Erfahrungen religiöser Vielfalt auf der individuellen Mikroebene wie für die Makroebene. Das heisst, was jeweils als religiöse Vielfalt beschrieben wird und wie das geschieht, hängt auch stark mit dem zusammen, worüber in einer Gesellschaft insgesamt gerade gesprochen wird, und nicht nur – oder vielleicht nicht einmal primär damit, wie «Religion» in der Lebenswelt tatsächlich stattfindet. Das zu bedenken kann hilfreich sein, wenn man medial oder sonst wie «religiöse Vielfalt» thematisieren will.

In gewisser Weise stellen Repräsentationen religiöser Vielfalt diese Vielfalt her, indem sie die heterogenen Erscheinungen im Leben der Menschen und der Gesellschaft als «Religion» und «religiöse Vielfalt» identifizieren.

In gewisser Weise stellen Repräsentationen religiöser Vielfalt diese Vielfalt her, indem sie die heterogenen Erscheinungen im Leben der Menschen und der Gesellschaft als «Religion» und «religiöse Vielfalt» identifizieren. Was passiert, wenn wir Religionsvielfalt darstellen, ist also keine triviale Frage. Denn was man als «vielfältig» thematisiert und wie man das tut, hat einen Einfluss darauf, wo Unterschiede und Zugehörigkeiten gesehen werden. Das kann weitreichende Konsequenzen haben, denn es beeinflusst und kann verändern, wie Menschen sich selbst, ihre eigene Religion sehen, vor allem aber, wie sie andere wahrnehmen – im Positiven wie im Negativen.


Der Beitrag bezieht sich auf folgende Literatur:

Burchardt, Marian (2017): Diversity as neoliberal governmentality. Towards a new sociological genealogy of religion. In: Social Compass 64 (2), S. 180–193.

Gauthier, François (2020): Religion, modernity, globalisation. Nation-state to market. New York u.a.: Routledge.

Klinkhammer, Gritt; Neumaier, Anna (2020): Religiöse Pluralitäten – Umbrüche in der Wahrnehmung religiöser Vielfalt in Deutschland. Bielefeld: transcript.

Koch, Anne (2020): Vom Umgang mit religiöser Vielfalt in Kinderbüchern zu ‚Weltreligionen‘. In: Karsten Lehmann und Anne Koch (Hg.): Die gesellschaftliche Erzeugung von religiös-weltanschaulicher Vielfalt. Pädagogische Horizonte 4 (1), S. 55–68.

Kühle, Lene, Borup, Jørn und William Hoverd (Hg.): The critical analysis of religious diversity. Leiden, u.a.: Brill, S. 1–13.

Lehmann, Karsten und Anne Koch (Hg.): Die gesellschaftliche Erzeugung von religiös-weltanschaulicher Vielfalt. Pädagogische Horizonte 4 (1), S. 1–11.

Spies, Eva (2013): Coping with Religious Diversity. Incommensurability and Other Perspectives. In: Janice Boddy und Michael Lambek (Hg.): A Companion to the Anthropology of Religion. Hoboken: Wiley, S. 118–136.

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Autor

  • Anne Beutter

    Wissenschaftliche Oberassistentin und Dozentin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern ||| Dr. des. Anne Beutter ist wissenschaftliche Oberassistentin und Dozentin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Ihr aktuelles Forschungsprojekt befasst sich mit der Darstellung religiöser Vielfalt in der Religionswissenschaft.

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