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Uwe Habenicht

Draussen abtauchen

In der Natur dem Göttlichen und uns selbst auf die Spur zu kommen, ist für nicht wenige existenziell Suchende eine Möglichkeit spiritueller Erdung. Pfarrer und Theologe Uwe Habenicht skizziert offene Lichtungen im Wald und anderswo.

Dieser Artikel wurde erstmals im aufbruch am 23. November 2022 veröffentlicht.

Samstagmorgen kurz vor 9.00 Uhr. Die Strassen sind noch ruhig, der Tag noch frisch. Nur wenige Studierende der St.Galler Hochschule für Wirtschaft sind auf dem Weg ins neue gläserne Square, dem neuen Learning Center. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite fällt eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe von Menschen auf, die sich hier trifft. Die meisten tragen Wanderschuhe und Outdoorkleidung. Viermal im Jahr, jeweils einmal zu jeder Jahreszeit, wird zum Waldgwunder eingeladen. »Waldgwunder« heisst die St. Galler Waldkirche, die ich vor rund fünf Jahren ins Leben gerufen habe und seit drei Jahren mit dem katholischen Seelsorger Matthias Wenk begleite.

Die St.Galler Waldkirche ist Teil des englischen «Forest Church Movement». Unter den sehr unterschiedlichen Waldkirchen, die es inzwischen weltweit gibt, herrscht allerdings wenig Einigkeit darüber, was denn eine Waldkirche eigentlich ausmacht. Der kleinste gemeinsame Nenner dürfte wohl eine Beschreibung dessen sein, was Waldkirche nicht ist: «Forest Church isn’t just normal church happening outside»: «Waldkirche ist nicht einfach normale Kirche, die draussen stattfindet».

Damit deutet sich an, dass die Waldkirchen-Bewegung mehr und anderes will, als einfach nur den normalen Gottesdienst nach draussen zu verlegen. Vielmehr versuchen Waldkirchen, die Natur als erlebbaren Ort der Gottesbegegnung neu zu erschliessen. Denn was sich spirituell in der Natur erleben lässt, erschliesst ganz andere Zugänge zum Göttlichen, als geschützte Innenräume es jemals könnten.

Wo erlebte Siddhartha Gautama seine Erleuchtung? Draussen unter einem Feigenbaum.

Machen wir ein kurzes Experiment: Lesen Sie die folgende Frage, schliessen Sie Ihre Augen und nehmen sich einen Moment Zeit, um Bilder vor Ihrem inneren Auge entstehen zu lassen. Hier die Frage: Was sehen Sie vor sich, wenn Sie das Wort «Religion» hören? Die meisten, mit denen ich dieses Experiment durchgeführt habe, sahen vor ihrem inneren Auge religiös geprägte Innenräume oder Gotteshäuser: eine in mystisches Licht getauchte Krypta, eine brennende Kerze auf einem Altar, ein Zen-Dojo mit Matten und Sitzkissen, eine Kirche oder einen Tempel.

Natur ist Ort der Präsenz Gottes

Wir verbinden Religion fast immer mit eigens für die religiöse Praxis geschaffenen Räumen. Nur sehr wenige assoziieren mit Religion Orte in der Natur. Und dies obwohl viele religiöse Urszenen in der Natur verortet werden: Wo erlebte Siddhartha Gautama seine Erleuchtung? Draussen unter einem Feigenbaum. An welchem Ort wurde Mose der Gottesname offenbart? Durch einen brennenden Dornbusch in der Wüste. Wo öffnete sich für Jesus der Himmel? Am Jordan bei seiner Taufe durch Johannes den Täufer. Ganz gleich, wie wir die Historizität dieser Ereignisse einschätzen, für unseren Zusammenhang ist interessant, wo die unterschiedlichen Religionen solche Erfahrungen verortet haben: in der Natur.

Wenn ich in einem zweiten kurzen Experiment danach fragen würde, was Sie vor Ihrem inneren Auge sehen, wenn Sie das Wort «Spiritualität» hören, dann fielen die Antworten sehr wahrscheinlich völlig anders aus: Anders als Religion verorten wir spirituelle Erlebnisse viel häufiger in der Natur. So kann das Miterleben eines Sonnenaufgangs auf einem Berggipfel oder am Meer zu einer tiefen spirituellen Erfahrung werden.

Die religiösen Gebäude symbolisieren eher die stillgestellten und mehr oder weniger festgefügten Lehrgebäude der Religionen, sozusagen die geronnenen und von offizieller Seite kanonisierten religiösen Erfahrungen. Die wechselhaften Zustände in der Natur hingegen – das Jagen der Wolken über den Himmel, das Rauschen des Windes in den Pappeln – entsprechen sehr viel mehr den unverfügbaren und flüchtigen spirituellen Erfahrungen, die sich wie einzelne Sonnenstrahlen einstellen und sofort wieder verschwinden. Kurz: Wenn Religion wieder als etwas Lebendiges erlebt werden soll, müssen wir die geschützten (Traditions-)Räume verlassen und raus in die Natur. Wir müssen uns erst den natürlichen Urgewalten wieder aussetzen, damit auch die Kräfte, die über die Natur hinausgehen, wieder für uns erfahrbar werden. Erleuchtung geschieht, wo es vorher dunkel war. Ereignet sich «Übernatürliches» vielleicht auch eher im Natürlichen?

Buch der Natur

Augustinus von Hippo (354 – 430 n.Chr.), einer der bedeutendsten afrikanischen Kirchenväter, sprach vom «Buch der Natur» und stellte damit die Natur neben die Bibel als zweites Buch, durch das das Göttliche erfahrbar wird. Offenbar haben wir nur verlernt, dieses zweite Buch Gottes zu lesen. Höchste Zeit also, mit dem Nachbuchstabieren wieder zu beginnen und Baum und Strauch wieder zum Sprechen zu bringen.

Die Gruppe, die an diesem Samstagmorgen zum Waldgwunder aufbricht, versucht sich in diesem Lesen im Buch der Natur. Nach kurzer Vorstellung macht sich die Gruppe auf in Richtung Wald. Am Waldrand bleiben wir stehen. Die munteren Gespräche verstummen. Wir laden die Teilnehmenden ein, den Weg durch den Wald bis zum Lagerplatz mit offenen Sinnen schweigend zu gehen und unterwegs etwas zu suchen, was zum Thema des Tages, «Fülle», passt. Schon nach wenigen Metern vereinzeln sich die Teilnehmenden, bleiben stehen, beugen sich hinunter zum Waldboden. Einige haben offenbar etwas jenseits des Weges entdeckt und gehen ein Stück querwaldein. Schliesslich erreicht die Gruppe den lichten Lagerplatz mit Feuerstelle. Ein weisses Tuch in der Kreismitte lädt zum Ablegen des Gefundenen ein: Brombeeren, Blätter, Pilze, Tannenzapfen und vieles mehr wird in die Mitte gelegt. Ein Lied und die Worte des Eingangsportals schliessen die erste Phase des Ankommens im Wald ab:

Am Anfang dieses Tages erzählt der Himmel murmelt der Bach
flüstert der Wind –
sie alle erzählen
von Gottes unscheinbarer Gegenwart in allem, was lebt.

Der Himmel, der Bach, der Wind, die Bäume sie alle murmeln und flüstern, wispern und singen auf ihre Weise von dem, der da ist. Leuchtend sanft
spürbar verborgen

Ins Hier und Jetzt treten wir ein
in seine Gegenwart

Natur tut gut. In vielen psychologischen und medizinischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass der Aufenthalt in Naturräumen uns Menschen guttut und entspannt. Es ist, als würde in der Natur der ganze gesellschaftliche Druck von uns abfallen. In der Natur können wir einfach nur sein, ohne etwas vorspielen, darstellen oder leisten zu müssen. Wir verlassen das Zentrum, in dem sich alles um unser Ich dreht, und treten in eine Welt ein, in der wir Teil eines Ganzen sein dürfen, das unsere Kräfte bei weitem übersteigt. Hier in der Natur hängt nicht alles von unserem Tun und Denken ab.

Die Ameise findet ihren Weg auch ohne unser Zutun, der Specht findet ohne unser Mittun einen Baumstamm zum Klopfen. In der Natur weitet sich spürbar das Herz. Durch und mit unserem Leib spüren wir eine Verbundenheit mit allem, was uns umgibt. Wir atmen die gleiche Luft wie der Haselnussstrauch vor uns und die Libelle, die an uns vorbei surrt.

Betroffen sein vom Göttlichen

Das Gedankenkarussell, das sonst unseren Alltag durch Grübeln über Zukunft und Wühlen in der Vergangenheit bestimmt, kommt langsam zum Stehen. Wir kommen vom Kopf auf die Füsse und spüren, dass wir mehr sind als reine Denkwesen. Jenseits unseres mühsam konstruierten Ichs wird unser leibhaftiges Selbst greifbar. Jenes Selbst, das wir sind und das uns doch nicht gehört, weil es uns übersteigt und durch uns hindurch geht. Damit stehen wir an der Grenze der derzeit so beliebten Achtsamkeitspraxis.

Im spirituellen Zugang zur Natur spielen die Erkenntnisse der Achtsamkeitspraxis eine wichtige Rolle. Michael Huppertz etwa, Achtsamkeitslehrer und Psychiater, kämpft seit Jahren für ein Achtsamkeitsverständnis, in dem Achtsamkeit nicht bis zur Unkenntlichkeit überfordert und überdehnt wird. Achtsamkeit ist für Huppertz das Wahrnehmen der Fülle all dessen, was da ist. Gerade deshalb lässt sich Achtsamkeit als Vorhof und Vorbereitung des Spirituellen verstehen. In der Achtsamkeitspraxis steigt der Einzelne aus dem üblichen Reiz-Reaktionsschema aus und wird zum aufmerksamen Beobachtenden all dessen, was gerade geschieht. Der Schritt ins Spirituelle ereignet sich allerdings erst in dem Moment, in dem ich aus der Beobachterhaltung herausgerissen werde, weil – wie der Philosoph Hermann Schmitz es formuliert hat – mich etwas mit der Autorität unbedingten Ernstes ergreift. Denn nach Schmitz ist Religion Betroffensein vom Göttlichen.

Leiblich anwesend

Für die Gruppe des Waldgwunders werden nun die Biotope vorgestellt, von denen zwei nacheinander in der folgenden Stunde besucht werden können. Für die Angebote, die jetzt zur Wahl stehen, haben wir die Bezeichnung Biotop gewählt, weil unterschiedliche Aktivitäten und Zugangsweisen zum Thema des Tages gewählt werden können. Jedes Biotop hat seinen eigenen Charakter und in ihm gedeiht jeweils Unterschiedliches. Den eigenen Bedürfnissen entsprechend können die Teilnehmenden eher aktiv-experimentelle, kreative, einzel- oder gruppenbezogene oder auch still beobachtende Zugänge zum Thema wählen. Und natürlich darf man auch sein eigenes Biotop gestalten und mit eigenen Ideen allein unterwegs sein.

© Uwe Habenicht

Das erste Grüppchen, in dem anhand einer Geschichte über das Thema Fülle nachgedacht wird, macht sich schon auf den Weg zu einem kleinen Hügel. Andere zögern noch: Soll ich eher mit anderen etwas gestalten, das für mich Fülle zeigt, oder wäre es an der Zeit, zuerst ein Naturphänomen zu betrachten und dazu etwas zu schreiben? Nach wenigen Minuten haben alle das für sie Richtige gefunden und wenden sich ihrer Aktivität zu.

Wer am Waldgwunder teilnimmt, schätzt diese Mischung von Impulsen und der Freiheit, wählen zu kön- nen, allein sein zu können und doch mit anderen unterwegs zu sein.

Das Göttliche begegnet uns in Atmosphären als das, was uns unbedingt und bedingungslos ergreift.

Und alle, die kommen, so meine Erfahrung aus den letzten Jahren, suchen nach spirituellen Erfahrungen, die in den traditionellen Gottesdiensten viel schwerer zu machen sind. Denn mit dem bewussten Eintreten in die Natur ereignet sich etwas, das uns im Alltag verloren gegangen ist: Wir werden anwesend. Leiblich anwesend. Wenn Hermann Schmitz Religion als Betroffensein vom Göttlichen beschreibt, hat er den Menschen in seiner ganzen Leiblichkeit vor Augen. Leiblich treten wir in Atmosphären ein, die – bei hinreichender Sensibilität – auf uns wirken und körperliche Reaktionen auslösen: Ein dunkler feuchter Wald lässt starr werden und veranlasst mich, eine weniger aufrechte Haltung einzunehmen, ich krieche sprichwörtlich in mich hinein. Der herrliche Ausblick von einem Berg hingegen macht das Herz weit und den Atem frei. In der Natur ergreifen uns Atmosphären, die auch den Charakter einer Autorität mit unbedingtem Ernst annehmen können.

Erfahrungen des Ergriffenwerdens

Der Theologe Paul Tillich nannte Gott «das, was uns unbedingt angeht». Wenn wir auf Spiritualität in der Natur blicken, könnten wir sagen: Das Göttliche begegnet uns in Atmosphären als das, «was uns unbedingt und bedingungslos ergreift». In solchen Momenten leiblich-affektiven Ergriffenwerdens verliert das rationale Ich, das sonst unsere Identität zusammenhält, die Kontrolle. Auf einmal zeigt sich, dass wir uns aus Quellen speisen, die über das rationale Selbstverständnis hinausgehen. In der Tat tauchen dann die Konturen des Selbst auf, jene Tiefen, die auf das verweisen, was uns übersteigt. Jene Schichten des Prärationalen und Präverbalen, in die wir nicht nur beim Schlafen zurücksinken. Mit dem englischen Psychoanalytiker Donald Winnicott lässt sich dieser Bereich als intermediärer Bereich beschreiben, in dem die Spaltung von Subjekt und Objekt aufgehoben ist. In der Natur betreten wir einen Bereich, in dem erfahrbar wird, dass wir als natürliche Organismen immer mehr und anderes sind als wir selbst.

Emanuele Coccia, französischer Philosoph, beschreibt es in «Metamorphosen» so: «Geboren zu sein bedeutet dies: Ich bin nicht rein, ich bin nicht ich, ich habe etwas in mir, das von anderswo herkommt, etwas Fremdes, das mich drängt, immer wieder mir selbst fremd zu werden. Wir tragen unsere Grosseltern und deren Eltern in uns, wir tragen die Fische, die Bakterien in uns, bis hin zu den kleinsten Kohlenstoff-, Wasserstoff, Sauerstoff- und Stickstoffatomen.»

Auf diese Weise erschliesst sich uns in der Natur die ureigenste Natur unseres Selbst: Immer schon sind wir mit allem, was lebt und gelebt hat, verbunden. Allein schon durch das Atmen sind wir in Austauschbeziehungen in das Ganze des Lebens eingebunden. In der Tiefe dieser Erfahrung des Ergriffenwerdens erschliesst sich das Göttliche, das Sein selbst, wie Tillich es nennt. Das Göttliche ist das Verbindende, die Kraft des Lebenslebendigen, die uns übersteigt, durchquert; es ist das Transzendente, das Überschiessende und Herausragende, das keine Form und keine Worte fassen können. Es ist das, was gleichermassen in uns und über uns ist und darum allgegenwärtig, lebensbejahend und bedingungslos liebend.

Worte und Denken hinter sich lassen

Erst wenn wir die Worte und das Denken hinter uns lassen und diese Erfahrungsschicht erreichen, eröffnet sich uns das Göttliche, der Urgrund allen Lebens. Und weil sich diese Erfahrungen ohne Leib nicht einstellen, ist die Natur der wichtigste Ort der Gotteserfahrung, die in der Selbst- und Welterfahrung durchklingt.

Nach einem kurzen liturgischen Abschluss des Waldgwunders versammeln sich die, die noch Zeit haben, am Feuer zum Reden und Austauschen. In manchen klingt das Erfahrene schweigend noch nach und wird im Alltag immer mal wieder auftauchen. Das wäre gut, denn die drängenden Fragen der Gegenwart werden wir ohne eine neue Spiritualität nicht bewältigen können.


Der aufbruch steht für einen Standpunkt, der das Religiöse als eine menschheitsgeschichtliche Konstante betrachtet, die in ihrer Vielschichtigkeit gerade heute höchste Relevanz hat. Mit 2023 ist bei aufbruch eine neue Ära angebrochen. Der Heft-Titel prägt in Zukunft eine ganze Ausgabe. Der aufbruch nimmt ungewohnte Perspektiven ein und stellt in den Themenbereichen Religion, Spiritualität, Ethik und Gesellschaft überraschende interreligiöse und gesellschaftliche Bezüge her. Unter dem aktuellen Titel «dunkhell» stehen passend zum Februar/März Reflektionen über Licht und Dunkel im Fokus, die in religiösen Erfahrungen und spirituellen Traditionen eine zentrale Rolle spielen.
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Uwe Habenicht, Jahrgang 1969, verheiratet und Vater dreier Söhne, ist reformierter Pfarrer in Straubenzell- St. Gallen West, Outdoor-Guide und Predigt-Coach. Nach seiner minimalistischen Spiritualität «Leben mit leichtem Gepäck» (2. Aufl. 2020) und «Freestyle Religion» (2020) ist «Draussen abtauchen» (2022) sein drittes Buch.

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