Rafaela Estermann

Glaubensvielfalt im Wohnzimmer – Familienchronik und Mikro-Ethnographie

Diversität stellt uns vor Herausforderungen im Umgang miteinander – und sie nimmt zu. Meine Familie bildet in einem Mikrokosmos viele der gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ab. Unsere weltanschauliche Vielfalt bietet immer wieder Reibungsfläche untereinander, aber sie hat mich auch gelehrt, meine Identität als flexibel und gestaltbar zu erfahren und «das Andere» nicht als Bedrohung, sondern als Potenzial für die persönliche Weiterentwicklung wahrzunehmen.

«Du bist doch ein Pharisäer!», warf es meine Mutter meiner Grossmutter vor. Das ist zwar hübsch biblisch ausgedrückt, aber nichtsdestotrotz als harsche Kritik an der Religiosität meiner Grossmutter zu verstehen. Uneinigkeiten aufgrund weltanschaulicher Differenzen sind nach den letzten Jahren der Pandemie für uns alle nicht mehr fremd. Und doch sind sie wahrscheinlich für viele kein Alltagsthema, denn Menschen tendieren dazu, sich mit ähnlich Denkenden und Lebenden zu umgeben. Anderssein löst Irritation aus, denn es konfrontiert einen automatisch mit dem Eigenen und stellt dieses infrage. Sich des eigenen Handelns und Denkens bewusst zu sein, kann einen anstrengenden Reflexionsprozess in Gang bringen, dem sich nur wenige aktiv widmen wollen. Es ist einfacher und ressourcensparender, die eigene Identität nicht zu hinterfragen. 

Das geht so lange gut, wie man sich in homogenen Gruppen bewegen kann. Verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen haben hier aber einiges durcheinandergewirbelt. Dass die Gesellschaft weltanschaulich pluraler wird, bedeutet nun entweder, dass man sich in seine eigene Komfortzone zurückzieht und die Linie um die eigene Gruppe immer klarer und energischer zieht – oder dass man sich darin übt, sich mit sich und dem «Anderen» auseinanderzusetzen. 

Es geht nicht ums Gewinnen, sondern darum, Gedanken weiterzuentwickeln

Mir ist an meiner Familie schon als Kind aufgefallen, dass wir einen etwas anderen Umgang miteinander hatten als die Familien meiner Freunde. Wir diskutierten viel, reflektierten, gingen auseinander und kamen wieder zurück. Wir hatten und haben eine Diskussionskultur. Dabei geht es nicht ums Gewinnen, sondern darum, Gedanken weiterzuentwickeln. Das ist dann ein Prozess, den man in sich, aber auch in der Gruppe erlebt, und der nie abgeschlossen ist. 

Diese Diskussions- und Reflexionskultur hat mein Leben genauso stark geprägt wie die weltanschauliche Vielfalt meiner Familie. Denn meine Familie bildet viele der gesellschaftlichen Entwicklungen in einem Mikrokosmos ab. Vom Leben im Kloster bis zum Atheismus bieten wir alles. Diese Diversität führt manchmal zu Spannungen und Reibungen, sie ist aber auch interessant, dynamisch und fordert uns in unseren zwischenmenschlichen Fähigkeiten immer wieder heraus.

Meine Grossmutter und die 40-tägige Nacht

Meine Mutter erzählte mir als Kind immer wieder, wie sie in ihrer Jugend mit meiner Grossmutter über ihre «schwarzkatholischen» Einstellungen debattierte. Meine Grossmutter hatte Angst. Die 40-tägige Nacht und der jüngste Tag waren für sie reale Bedrohungen. Den nun ehemaligen Churer Bischof Haas fand sie toll – er ist bekannt für seine erzkonservativen und provokativen Aussagen. 

Ich muss dazu sagen, dass ich diese Seite meiner Grossmutter nie selbst erlebt habe. Für mich war sie eine äusserst liebenswürdige und liebevolle Frau, die für jeden Spass ihrer Kinder und Grosskinder zu haben war.

Vom Kloster bis zum Atheismus

Die fünf Kinder meiner Grossmutter gingen dann jedoch Wege, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Meine Tanten traten Anfang zwanzig in ein Kloster im Kanton Jura ein. Die älteste Schwester meiner Mutter erzählte mir, dass sie sich von Gott berufen gefühlt habe. Sie habe einfach gewusst, dass das der richtige Weg für sie sei. Denselben Weg wählte die Zweitälteste der fünf Kinder.

Als Jugendliche verbrachte ich ein halbes Jahr im Kloster bei meinen Tanten und arbeitete in der Schulküche des Internats, das sie betrieben. Ich nutzte auch die Chance, mit der jüngeren meiner Tanten eine Reise nach Lourdes zu unternehmen. Wir begleiteten einen Krankentransport zu dieser für gläubige Katholik:innen wichtigen Pilgerstätte. Damals auf dieser Reise führte ich mit ihr ein Gespräch über meinen eigenen Glauben. Sie meinte, dass es ihr schwerfalle zu akzeptieren, dass Gott für mich keine grosse Rolle spielte und ich sogar an seiner Existenz zweifelte. Als ich jedoch sagte, dass ich dafür an die Liebe glaube und mich dafür einsetzen möchte, konnte sie damit leben. Sie fand, das sei ja am Ende fast dasselbe.

Meine Mutter suchte ihren eigenen Weg in und später aus der katholischen Kirche. Sie war lange Zeit Katechetin und auch sonst in der Kirche engagiert. Sie wie auch mein Vater, der als Seelsorgender und Religionslehrer tätig war, wollten verändern. Sie waren überzeugt, um dieses Ziel erreichen zu können, im «Verein» dabeibleiben zu müssen. Ihre liberalen Ansichten stiessen jedoch immer wieder auf Widerstand. Sie und die vielen Mitstreiter:innen an ihrer Seite zogen sich mit der Zeit, gezeichnet von ihren Misserfolgen und voller Resignation, zurück. Heute besucht meine Mutter die Kirche nicht mehr und wenn sie sich aus irgendeinem Anlass doch mal wieder zwischen ihren hohen Säulen und grauen Wänden wiederfindet, verlässt sie sie meist mit hochrotem Kopf. Die geballte Männlichkeit auf der Bühne dieses Weltengerichts der Kirchenkanzel wurde ihr nicht nur fremd, sondern auch zuwider.

Meine Mutter suchte ihren eigenen Weg in und später aus der katholischen Kirche.

Mein Onkel, das zweitjüngste Kind meiner Grossmutter, ist bekennender Atheist, promovierter Philosoph und Dozent für Logik. Als ich ihm von meinem Studium der Religionswissenschaft erzählte, war er skeptisch. Er fragte, ob das denn nicht ganz ähnlich wie die Theologie sei – und für die Theologie hat er nicht viel übrig. Er zweifelt an ihrer Wissenschaftlichkeit. Nach meinen Erklärungen meinte er, mich im Gegensatz zur Theologie in der Wissenschaft verorten zu können. Die Kombination von Wissenschaft und Religion übersetzte er in seine eigenen Worte: Sie bringt Licht ins Dunkle!

Der jüngste Sohn meiner Grossmutter ist und bleibt mit der Kirche verbunden. Lange arbeitete er freiwillig im Firmplanungsteam mit, also in der kirchlichen Jugendarbeit. Über seine Verbundenheit mit der Kirche und seinen Glauben habe ich mit ihm nie wirklich gesprochen. Im Gegensatz zu meiner Mutter habe ich bei ihm aber auch nie Widerstand wahrgenommen. Für mich war er immer ein «klassischer» Katholik, im Normspektrum ziemlich genau in der Mitte. Einigermassen wertkonservativ und doch weit weg von den Vorstellungen meiner Grossmutter.

Eine Generation weiter

Die Geschichte meiner Familie lässt sich nun genau so weitererzählen. Ich bin die jüngste von drei Schwestern. Meine älteste Schwester hat eigentlich einen ähnlichen Weg wie meine Mutter hinter sich – nur in der Kurzversion. Sie war eine Zeit lang sehr in der Kirche engagiert, half bei den Ministrant:innen und war in einem Bibelkreis. Doch auch sie fand die Mauern der Kirchen für ihre Ideen zu eng. Suchend, in der Hoffnung irgendwie dieses Bedürfnis nach Spiritualität zu befriedigen, begab sie sich in ihre eigene Gedankenwelt. Gott hat sie in der Zwischenzeit aufgegeben. Eine höhere Macht, eine Energie, die uns vielleicht noch in der Natur zugänglich ist, sind Elemente einer Spiritualität, die sie sich erhalten konnte.

Doch Rituale, um diese Spiritualität in ihr Leben einbinden zu können, fehlen. Für das Kind, das sie mit ihrem reformierten, aber kirchlich distanzierten Mann bekommen hat, wünscht sie sich Rituale, vielleicht zum Wechsel der Jahreszeiten – es sind nur vage Ideen. Auch eine Taufe ziehen sie in Betracht, aber dann doch lieber in der reformierten Kirche, wo diese Rituale auch von Frauen ausgeführt werden dürfen. Sie ist vorläufig zwar noch Mitglied der katholischen Kirche, von Missbrauchsfall zu Missbrauchsfall steigt jedoch der Druck, den administrativen Aufwand für den Austritt auch wirklich in die Hand zu nehmen.

Foto: CHBD/iStock

Meine mittlere Schwester war als Jugendliche äusserst skeptisch. Fasziniert von Geschichte, machte sie sich viele Gedanken über die Gräueltaten der Kirchen und die Religionskriege, die die Chroniken Europas gezeichnet haben. An einem Sonntagmorgen, bei einer unserer regelmässigen Brunchdiskussionen, sagte sie zu meinem Vater, sie könnte ebenso auch das grosse WC anbeten. Das würde für sie keinen Unterschied machen. Gott sei einfach eine lächerliche Geschichte. Heute ist sie verheiratet mit einem Mann, der sich ausserhalb jeglicher Institutionen sehr mit Gott verbunden fühlt.

An einem Sonntagmorgen bei einer unserer regelmässigen Brunchdiskussionen sagte sie zu meinem Vater, sie könnte ebenso auch das grosse WC anbeten.

Als er das erste Mal vom «Ewigen» sprach, war meine Familie, geprägt durch eine Gesellschaft, in der Religion etwas Privates ist, von der Deutlichkeit seiner Worte und der durch sie offenkundigen Religiosität, überrumpelt. In der Zwischenzeit konnten sich alle daran gewöhnen und die Hemmungen, die wie Mauern um das Innere errichtet sind, werden langsam abgebaut. Bei einigen sind Fenster oder gar Türen entstanden, an deren Schwelle gerne mal das eine oder andere Gespräch über den «Ewigen» geführt wird. Bei anderen sind es vielleicht eher kleine Schiessscharten, durch die man vorsichtig nach aussen linst. Meine Schwester hat ihren eigenen Weg zu Gott und zu Jesus zurückgefunden. Auch wenn sie einige Ansichten ihres Mannes nicht teilt, stellt das nicht ihre Beziehung zu ihm in Frage. Ihren gemeinsamen Sohn erziehen sie im Glauben an den «Ewigen».

Ich bin spirituell – und kann das kognitiv einfach nicht nachvollziehen

Als Kind war ich mir sicher, dass es Gott gibt. Ich habe seine Liebe gespürt und fühlte mich immer geleitet. Je älter ich wurde, desto schwerer fiel es mir, zu glauben. Ich trat in die Fussstapfen meines Onkels und begann Philosophie zu studieren. Die Welt um mich verdunkelte sich, alles wurde ungewiss und wahnsinnig kompliziert. Die Religionswissenschaft, mein Nebenfach, schien mir ein Fenster zu einer Welt offen zu behalten, zu der ich überzeugt war, den Zugang verloren zu haben. Die Wissenschaft war der einzige Zugang, den ich zunächst noch fand und zulassen wollte. Ich sehnte mich nach dieser Welt und entschied mich bald, Religionswissenschaft im Hauptfach zu studieren.

Ich bemerkte, dass meine Kognition und meine Emotionen auf zwei komplett unterschiedlichen Saiten spielen.

Mein Studium veranlasste mich, mein Umfeld und mich selbst genau zu beobachten. Ich bemerkte, dass meine Kognition und meine Emotionen auf zwei komplett unterschiedlichen Saiten spielen. Heute lebe ich damit, dass mir emotional ein spiritueller Zugang zu dieser Welt erhalten geblieben ist. Ich kann es kognitiv einfach nicht nachvollziehen. Diese Spannung ist in mir, aber ich empfinde sie in der Zwischenzeit nicht mehr wirklich als Spannung. Ich kann das so stehenlassen und schaue mit Interesse zu, was da in mir passiert. Auch mein atheistisch aufgewachsener Partner hat gelernt, mit meinen spirituellen Anwandlungen umzugehen, sogar ein bisschen nachvollziehen kann er sie in der Zwischenzeit, wo er am Anfang nur Unverständnis empfand. Ich bin mir sicher, aufgrund zahlreicher Erzählungen, dass es noch vielen anderen wie mir geht.

Glaubensvielfalt im Wohnzimmer

In meiner Familie findet sich die ganze Diversität an Beziehungen zum Christentum, wie man sie auch sonst in der Bevölkerung vorfindet – nur auf sehr kleinem Raum. Eine Familie verfügt bestenfalls über tiefe Bindungen, die man nicht einfach aufgibt. Aufgrund dieser tiefen Bindungen kann man lernen, den Menschen in seiner Gänze wahrzunehmen. Sie bieten die stabile Hülle, die auch Differenzen und Uneinigkeiten nicht zum Platzen bringen. Sie motivieren mich, auf mein Gegenüber zuzugehen und ihm nicht mit Härte, sondern mit Interesse zu begegnen.

Eine Familie verfügt bestenfalls über tiefe Bindungen, die man nicht einfach aufgibt. Sie motivieren mich, auf mein Gegenüber zuzugehen und ihm nicht mit Härte, sondern mit Interesse zu begegnen.

Dadurch habe ich gelernt, dass meine Grundfesten flexibel sind, überarbeitet und neugedacht werden dürfen, ohne dies als Bedrohung meiner Identität zu empfinden. Wächst man so auf, beginnt Homogenität einen zu langweilen. Man sucht nach Wegen, sich weiterzuentwickeln, und bekommt auch ein wenig Spass an Irritation und Menschen, die einen selbst infrage stellen, weil das Erlebnis der Weiterentwicklung so spannend ist. Es ist vielleicht ein bisschen wie beim Gleitschirmfliegen. Den Weg nach oben muss man gehen und er ist anstrengend. Aber das ist kein Grund, diesen Weg nicht auf sich zu nehmen. Sich selbst zu spüren und zu erleben kann nämlich auch Freude bereiten und der Flug danach macht süchtig. 

Neue Wege für Weihnachten 

Diese Diversität kann, wie zwischen meiner Mutter und meiner Grossmutter, aber auch zu Reibungen führen. In unserer Familie sind die Bindungen tief und stark. Vielleicht auch deshalb konnten wir einander auch mit und in den Differenzen annehmen. Trotzdem fällt es nicht allen leicht, gerade an Festen wie Weihnachten einen gemeinsamen Weg zu finden. Alle müssen einen Schritt aufeinander zugehen. Einige alte Traditionen werden übernommen, anderes wird weggelassen, aber auch Neues wird versucht.

Die Weihnachtsbaladen von Olivia Molina sind unverzichtbar, genauso wie lustige, moderne Weihnachtsgeschichten, die jemand von uns vorliest. Neu singen wir religiöse Lieder, die der Mann meiner mittleren Schwester eingebracht hat. Im letzten Jahr traten wir in einem Bibelquiz in Gruppen gegeneinander an. Wir waren alle überrascht, dass nicht unsere kirchlich gut gebildeten Eltern gewonnen haben, sondern ich im Team mit meinem kirchlich distanzierten Schwager. Er schaut die Simpsons, was seine religiöse Allgemeinbildung erstaunlicherweise auf Vordermann gebracht hat.

Diskussionskultur kommt nicht aus dem Nichts

Es ist klar, dass sich viele nicht freiwillig auf diesen Weg begeben. Und auf einer gesellschaftlichen Ebene sind es wahrscheinlich nicht die tiefen Bindungen, die motivierend wirken, sondern das ständige Erleben von Konflikten. Ich wünsche mir, dass wir uns als Gesellschaft in diesem Augenblick nicht dafür entscheiden, die Linien zwischen uns klarer und energischer zu ziehen, sondern an unserem Zusammenhalt und unseren Bindungen zueinander zu arbeiten, damit wir dafür gerüstet sind, auch grössere Differenzen zu bearbeiten und neues daraus entstehen zu lassen.

Die weltanschauliche Diversität in unserer Gesellschaft lässt uns keine andere Wahl, als einen der beiden Wege zu beschreiten. Einen Weg zurück in die Homogenität gibt es nicht und ist auch nicht wünschenswert. Doch ein solcher Umgang und eine solche Diskussionskultur kommen nicht aus dem Nichts. Man muss in sie investieren und dafür Räume schaffen, wo man lernen kann, die eigenen Irritationen nicht in Wut und Ablehnung umzuwandeln, sondern sie als Potentiale für die Weiterentwicklung zu verstehen.


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Autor

  • Rafaela Estermann

    Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch ||| Rafaela Estermann ist Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch. Ihre Schwerpunkte sind Nicht-Religion, Säkularität und der Diskurs über Religion und den Islam in der Schweiz. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Zürich in einem Forschungsprojekt (MORE) zum Religionsunterricht über den Islam in verschiedenen Religionsunterrichtsmodellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.

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