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Cemile Ivedi

Werkzeug zum Frieden: Diversität aus einer muslimischen Perspektive

Die Diversität unter den Muslim:innen in der Schweiz ist gross. Sie gehören verschiedenen islamischen Strömungen an, leben unterschiedliche Traditionen und haben verschiedene Lebensstile und Denkweisen. Doch wie erleben Muslim:innen in der Schweiz diese Diversität selbst? Cemile Ivedi erzählt aus ihrem Leben.

Ich sitze auf dem weichen Teppichboden einer Moschee und bin fasziniert von den verschiedenen Sprachen, die hier gleichzeitig gesprochen werden; Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Türkisch, Arabisch. Um mich herum sehe ich fröhliche Gesichter, die freudige Stimmung verbreiten. Ich fühle mich willkommen. Es wird die Geburt eines Kindes gefeiert; ja, es ist ein Willkommensfest. Und genauso fühle ich mich, willkommen in der Gemeinschaft, willkommen in der Moschee. 

Das ist eine der ersten Erinnerungen, die ich an einen Moscheebesuch habe. Ich war damals noch im Kindergartenalter. In Zürich gab es Anfang der 1980er-Jahre noch kaum Moscheen, was zur Folge hatte, dass die Besuchenden dieser Moschee sehr divers zusammengesetzt waren. Gerade diese Diversität faszinierte und berührte mich. Die Herkunft, das Geschlecht, das Alter, die Hautfarbe spielten keine Rolle, alle waren willkommen. Dass dort Unterschiede nebensächlich waren, fiel mir auf und beeindruckte mich sehr.

Offensichtlich waren auch in der Heiligen Moschee in Mekka alle Menschen willkommen. Alle waren gleich.

Genauso ging es mir zwei, drei Jahre später als meine Eltern von ihrer Pilgerreise nach Mekka zurückgekehrt waren und von ihren Eindrücken und Erlebnissen erzählten. Sie erzählten von Menschenmassen, die so gewaltig waren, dass meine Eltern zwischendurch befürchteten, erdrückt zu werden. Sie erzählten aber auch von vielen schönen Begegnungen mit Unbekannten. Hunderttausende von Menschen waren zusammengekommen, um gemeinsam zu beten. Die Bilder, die in meinem Kopf entstanden, erwärmten mein Herz. Offensichtlich waren auch in der Heiligen Moschee in Mekka alle Menschen willkommen. Alle waren gleich. Diese Erinnerungen haben in mir tiefe Spuren hinterlassen.

Mit Jeans und Kopftuch: gehöre ich dazu?

Nicht alle Erinnerungen an Moscheebesuche sind jedoch so positiv. Meine Kindheit war geprägt von der unterschiedlichen Herkunft meiner Eltern. Immerzu und überall wurde die Herkunft thematisiert. Immerzu mussten sich meine Eltern erklären. Meine Schwestern und ich lernten früh, dass die Herkunft unwichtig war. Wichtig war für uns der Glaube an Gott. «Vor Gott sind alle gleich», hiess es immer wieder. Wir lernten, dass Gleichheit nicht durch Attribute wie die Herkunft, das Aussehen, das Geschlecht oder das Alter definiert wird.

In den 1980er-Jahren entstanden immer mehr Moscheen in Zürich, deren Besuchende häufig aufgrund sprachlicher und ethnischer Gemeinsamkeiten zusammengesetzt waren. Aus meiner Perspektive nahm deshalb die Diversität ab. Wenn meine Mutter mit meinen Schwestern und mir den Raum betrat, hörten wir oft ein Getuschel: «Das ist eine Schweizerin.» Obwohl ich noch ein Kind war, war mir bewusst, dass ich als Fremde, als nichtzugehörig wahrgenommen wurde. 

Später war es mein Kleidungsstil, der als andersartig empfunden wurde. Als ich im Teenagealter war, sagte mir eine Frau, dass sie mich von der Moschee kenne. Ich sei sehr aufgefallen, weil ich mit Jeans und Kopftuch in die Moschee ging. Was heute vermutlich nicht mehr erwähnenswert ist, sorgte damals in den 1990er-Jahren offensichtlich für Diskussionsstoff. Durch solche Erlebnisse wurden meine Moscheebesuche weniger. Ich fühlte mich nicht mehr so wohl und willkommen. Der Begriff «unmosqued» von Asmaa Dehbi beschreibt diesen Zustand treffend.[1]

Türkin oder Schweizerin

Natürlich wurde mir nicht nur unter muslimischen Menschen vermittelt, andersartig zu sein. Im Alltag wurde ich ständig mit einem auf orientalistischen Vorstellungen basierenden stereotypen Bild von verschleierten Musliminnen konfrontiert.

Es hiess, ich müsse mich entscheiden, ob ich Türkin oder Schweizerin sein möchte.

Sowohl meine Kleidung als auch meine Herkunft wurden regelmässig zum Thema gemacht. Es hiess, ich müsse mich entscheiden, ob ich Türkin oder Schweizerin sein möchte. So verfestigt waren diese Kategorien in den Köpfen, dass es offenbar nur ein Entweder-oder gab. Für mich war es so, als wollte man mich in ein Korsett stecken, das mich kaum atmen liess. Ich entschied mich schon als Jugendliche ganz bewusst dagegen, indem ich sagte: «Ich bin ich.»

«Ein Stereotyp ist wie ein Panzer»

Heute wird meine Herkunft weniger thematisiert, im Vordergrund steht meine Religionszugehörigkeit, die durch meine Kleidung sichtbar ist. Das Ergebnis ist jedoch dasselbe. Insbesondere in den Momenten, in denen es um mich als Frau geht, wird mein Muslimisch-sein besonders hinterfragt. Wenn ich den stereotypen Vorstellungen einer Muslimin widerspreche, entstehen bei meinem Gegenüber Fragezeichen und ich muss mich erklären, manchmal fast rechtfertigen. Sogar an Vorstellungsgesprächen wurde ich immer wieder auf meine Religionszugehörigkeit und auf mein Kopftuch angesprochen. Ich wurde gefragt, wie ich denn als Muslimin mit Kopftuch Feministin sein könne, nachdem ich erklärt hatte, dass für mich als Feministin Selbstbestimmung zentral ist. 

Foto: monkeybusinessimages/iStock

Ich hatte von meinen Eltern mit auf den Weg bekommen, dass jeder Mensch von Gott einen freien Willen erhalten hat und für sich selbst verantwortlich ist. Ohne diese Vorstellung hätte ich mich vielleicht stereotypen Erwartungen hingegeben und mich in ein Korsett oder, wie es Kübra Gümüşay beschreibt, in einen Panzer stecken lassen: «Ein Stereotyp ist wie ein Panzer. Doch er schützt nicht diejenigen, die ihn tragen, sondern die Ignoranz der Aussenstehenden. Stereotype sind Panzer der Ignoranz, die die Ignorierten zu tragen haben. Sie wiegen schwer, sie belasten die Träger*innen und zwingen sie in schwachen, menschlichen Momenten in die Knie.»[2]

«Vor Gott sind alle gleich»

Obwohl zu allen möglichen Themen eine Vielfalt an islamischen Lehrmeinungen existiert, wird Islam meistens nicht mit Diversität assoziiert. Aber gerade durch die verschiedenen islamischen Rechtsschulen und diese Vielfalt an Lehrmeinungen fühlte ich mich nie eingeengt von meiner Religion. Ich fühlte mich nicht in ein eng geschnürtes Korsett oder in einen Panzer gesteckt, sondern mein Glaube war und ist wie ein schützender, elastischer Mantel, der mich atmen und mich frei bewegen lässt.

In diesem Moment waren die Herkunft, das Aussehen, die Hautfarbe, das Alter, der soziale Status unwichtig.

Rund 25 Jahre nachdem meine Eltern in Mekka waren, stand ich selbst dort und durfte es selbst erleben. Das war eine Vielfalt an Menschen, die ich nirgends sonst gesehen habe. Manchmal war es nur eine sich bewegende Masse, manchmal waren es die Blicke einzelner Menschen, die sich mit meinem Blick kreuzten, ein Lächeln wurde ausgetauscht. Diese Vielfalt faszinierte mich genauso in der Realität, wie sie mich auch in meiner Vorstellung fasziniert hatte. Menschen aus aller Welt trafen sich dort. In diesem Moment waren die Herkunft, das Aussehen, die Hautfarbe, das Alter, der soziale Status unwichtig. 

All diese Menschen nahmen eine Reise auf sich, um dort zusammen zu beten. Die einen reisten mit dem Flugzeug an, die anderen legten Hunderte oder gar Tausende von Kilometern zu Fuss zurück, andere wiederum wurden mit privatem Fahrdienst kutschiert. Die einen übernachteten in Mehrbettenherbergen, andere verbrachten die Nacht im weichen Bett im Luxushotel, andere wiederum schliefen auf dem harten Betonboden vor der Moschee. Aber hier vor der Kaaba beteten alle Schulter an Schulter. Millionen von Menschen vereinten sich am selben Ort und beteten gemeinsam zu Gott. Alle waren gleich. Diese Gleichheit war und ist für mich der Inbegriff meines Glaubens, der Inbegriff des Muslimisch-seins.

Die Grenzen der Andersartigkeit verblassen

Diese Vielfalt an Menschen war für mich faszinierend, berührend und anstrengend zugleich. Ja, Diversität ist anstrengend. Für Untrainierte ist die erste Joggingstrecke auch anstrengend. Sie kann jedoch durch stetiges Trainieren vereinfacht werden, so dass sogar ein Marathonlauf zum Ziel gemacht werden kann. 

Diversität und auch Religion, insbesondere der Islam wird oft als Problem wahrgenommen. Für mich hingegen bedeutet Diversität Freiheit, Akzeptanz und Respekt. Obwohl alle Menschen anders sind, sind sie doch gleich. Dies bedeutet, dass Andersartigkeit unproblematisch ist, solange sie als gleichwertig betrachtet wird. Wird Diversität zugelassen, verblassen die Grenzen der Andersartigkeit. Dies kann vor allem durch stetigen Dialog erreicht werden. Dadurch wird «Veranderung» (othering) gemindert und Teilhabe gefördert. 

Dabei ist Diversität lediglich eine Beschreibung, Diversität ist ein deskriptives Konzept. Inklusion und Gleichstellung aller Menschen hingegen sind als normative Konzepte zu verstehen. Diversität ist somit ein Werkzeug, um den stereotypen Panzer aufzubrechen und zur individuellen Freiheit zu gelangen. Freiheit wiederum ebnet den Weg zum friedlichen Zusammenleben. Frieden zu stiften, gehört genauso wie Gleichheit zu meinem Verständnis des Islams. Islam und das arabische Wort für Frieden, silm, haben sogar dieselbe semitische Wurzel s-l-m سلم. In diesem Sinne: «As-salamu ‘aleykum – Friede über euch!»


[1] Dehbi, Asmaa (2023): Unmosqued. Warum sich Frauen aus Moscheen zurückziehen, in: Fama 3/23, S. 10ff.

[2] Gümüşay, Kübra (2020): Sprache und Sein, S. 69

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Autor

  • Cemile Ivedi

    Ethnologin, Mitarbeiterin Zürcher Forum der Religionen ||| Cemile Ivedi verfügt über einen Master-Abschluss in Ethnologie und Völkerrecht mit einem Forschungsschwerpunkt auf Diskriminierung im Erwerbsleben. Ihr fundiertes Fachwissen in Antidiskriminierungsarbeit wurde durch ein CAS in Diversity- und Gleichstellungskompetenz weiter vertieft, wobei sie erneut den Schwerpunkt auf Erwerbsleben legte. Sie arbeitet seit mehr als 10 Jahren als Beraterin im sozialen Bereich. In den letzten 3 Jahren hat sie im interreligiösen Dialog gearbeitet und sich parallel dazu ehrenamtlich in der Antirassismusarbeit engagiert. Schon seit ihrem Teenageralter ist sie eine überzeugte Feministin und setzt sich leidenschaftlich für die Gleichstellung aller Menschen ein.

Ein Gedanke zu „Werkzeug zum Frieden: Diversität aus einer muslimischen Perspektive

  • Monika Roncuzzi sagt:

    Liebe Cemile, danke für diesen Beitrag! In unserer Familie ist Diskriminierung und Rassismus ja auch immer wieder ein Thema. Deine Gedanken sind anregend und dein Engagement berührend, du beweist viel Mut und Durchhaltewillen, und resignierst nicht, das ist bewundernswert…

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