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Johannes Beltz

Jainismus, Tiere und Veganismus in der Schweiz

Jains dürfen keine Lebewesen töten oder verletzen. Und so gehören Tierschutz und Tierrechte heute weltweit zu ihrem Selbstverständnis. Könnte der Jainismus Anstösse geben, über das Zusammenleben von Mensch und Tier neu nachzudenken?

Der Jainismus präsentiert sich als besonders friedlich und gewaltfrei. Eine junge Jaina-Frau aus Zürich erklärte vor kurzem in einem Podiumsgespräch, sie habe noch nie einer Fliege etwas zu leide getan oder gar eine Spinne weggesaugt. Was hat es mit dieser Religion auf sich, deren Mönche und Nonnen mit einem Feger kleinste Fliegen und Ameisen sanft beiseite wischen, bevor sie sich niedersetzen und einen Mundschutz nicht aus Angst vor Infektionen tragen, sondern um keine Kleinstlebewesen zu verschlucken? Woher kommt diese Achtung vor den Tieren und was bedeutet sie heute für die Jains, die in der Schweiz leben? 

Ursprung und Geschichte

Der Jainismus entstand wie der Buddhismus vermutlich im 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. in Indien. Als Stifter gilt Mahavira (Sanskrit «grosser Held»). Für seine Anhänger ist er einer der mythischen 24 Jinas, die durch die Erlösung einen spirituellen Sieg errungen haben (jina bedeutet auf Sanskrit «Sieger»). Den Gläubigen gelten die Jinas als allwissend; sie weisen als transzendente Wesen den Menschen den Weg zu einem besseren Leben und werden deshalb auch Tirthankaras (Sanskrit «Wegbereiter») genannt. 

Die jainistische Lehre lehnte die Verehrung von Göttern ebenso ab wie Opferrituale, vor allem Tieropfer. In den Mittelpunkt rückte die Idee, dass allein das Karma («Handeln») über das Leben in dieser Welt und die künftige Wiedergeburt entscheidet. Wie auch Hindus und Buddhisten glauben Jains an einen Kreislauf ewiger Wiedergeburten. Die Seelen wandern von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Tier oder von Tier zu Mensch. Dabei heftet sich das Karma als eine Art Substanz an die Seelen. Es gilt, dieses Karma zu vernichten und die Seelen davon zu reinigen. Nur so kann man eine bessere Wiedergeburt erlangen. Das tatsächliche Verlassen des Wiedergeburtskreislaufs ist jedoch nur den erlösten Jinas möglich. 

Weltweit praktizieren heute rund 5 Millionen Menschen den Jainismus, die meisten von ihnen leben in Indien. Es gibt zwei Zentren des Jainismus, im Südwesten (Karnataka) und im Nordwesten (Gujarat und Rajasthan). Im Zuge der globalen Migration von Arbeitskräften wanderten viele Jains nach Europa und Nordamerika aus. Diese weltweite Jain-Gemeinschaft gewinnt an Einfluss und vor allem die Jains in Nordamerika setzen neue Akzente, die in Indien nicht unumstritten sind. In der Schweiz leben etwa 100 praktizierende Jains.

Gewaltlosigkeit und der Respekt vor Tieren

Als wichtigstes Gebot für Mönche, Nonnen und Laien nennen Jains die Gewaltlosigkeit (Sanskrit ahimsa, «Nicht-Verletzen»). Gemäss dem Motto «Leben und leben lassen» dürfen Jains keine Lebewesen töten oder verletzen. Das schliesst nicht-menschlichen Lebensformen, also auch Tiere, Kleinstlebewesen und Pflanzen ein; selbst Erdklumpen und Steine gelten als beseelt. Alles Leben ist aufgrund der ihm innewohnenden Seelen gleichwertig. Tiere sind auch in der jainistischen Literatur und Kunst omnipräsent. Akte des Tierschutzes sind beispielsweise Teil der Legenden um die Jinas Parshva und Nemi; sie werden in der jainistischen Malerei oft illustriert. 

© Julia Del Negro

Beispiele aus der Geschichte zeigen, wie tief der Respekt vor Tieren im Jainismus verankert ist. So überzeugte 1582 der Jain-Mönch Hiravijaya Suri den Mogulkaiser Akbar, den Fleischkonsum zu beschränken. Kaum jemand weiss, dass Gandhis Konzept der «Gewaltlosigkeit» massgeblich vom Jainismus geprägt ist. Das Eintreten für Tierschutz und Tierrechte gehört heute weltweit zum Selbstverständnis der Jains. Bekannt sind vor allem die Krankenhäuser für Tiere, die bereits seit Jahrhunderten betrieben werden. 

Gewaltfreie Ernährung: Vom Vegetarismus zum Veganismus

Die meisten Jainas verzichten in ihrer Ernährung auf Fleisch, Fisch, Schalentiere und Eier. Auch bestimmte Wurzelgemüse sind verboten, weil man mit der Wurzel die Lebensgrundlage der Pflanze zerstört. Ausserdem riskiert man bei der Ernte, im Boden lebende Kleinstlebewesen zu vernichten. Also sucht man vergeblich nach Kartoffeln, Zwiebeln oder Knoblauch auf dem Speiseplan der Jains. Natürlich werden diese Speisegebote recht unterschiedlich umgesetzt. Viele Jains in der Schweiz essen durchaus Kartoffeln. Und überhaupt gilt es hier noch einmal zu unterstreichen, dass es im Jainismus eine kaum überblickbare Diversität nicht nur an Lehrmeinungen, sondern auch an Praktiken gibt.

Jains verzichten zunehmend auf tierische Produkte wie Milch, Butter und Joghurt, obwohl Milchprodukte traditionell wichtiger Bestandteil jainistischer Ernährung waren.

Überhaupt gehörte der Vegetarismus nicht von Anfang an zum jainistischen Selbstverständnis. In der jainistischen Literatur ist an verschiedenen Stellen von Fleischkonsum die Rede. Sie werden von vielen Jains als spätere Einschübe angesehen und ihre Bedeutung wird heruntergespielt. Stellt man sich jedoch die ersten jainistischen Wandermönche vor, liegt nahe, dass sie zunächst alle angebotenen Speisen annahmen; sie unterschieden sich darin nicht von anderen Bettelmönchen. 

Erst im Laufe der Zeit formten sich klarere Speiseregeln und Religionsgemeinschaften grenzten sich durch ihre Essensgewohnheiten voneinander ab. Für die Jains wurde das Essen zum Identitätsmarker: Die vegetarische Küche der Gläubigen gilt als gesund und schmackhaft. In den letzten Jahren lässt sich ein neuer Trend beobachten: Jains verzichten zunehmend auf tierische Produkte wie Milch, Butter und Joghurt, obwohl Milchprodukte traditionell wichtiger Bestandteil jainistischer Ernährung waren. Jains argumentieren, dass durch die Massentierhaltung den Tieren erhebliches Leid zugefügt wird und das der Sorge um das Tierwohl widerspricht. 

Indien, Rajasthan, Mewar, ev. Bundi, Begun Tikhana, 1800 – 1820, Pigmentmalerei auf Papier, Blattmass: 25,2 × 44,3 cm, Bildmass: 22,8 × 42,2 cm, Museum Rietberg (1952), Inv.-Nr. 2020.267, Provenienz: ?–1973: Sammlung Alice Boner, 1973–2020: Sammlung Eberhard und Barbara Fischer, Geschenk Eberhard und Barbara Fischer, Foto: Rainer Wolfsberger

Viele Jains praktizieren den Gewaltverzicht auch im Non-Food-Sektor, indem sie Produkte aus Leder und Kosmetik aus tierischen Rohstoffen vermeiden. Das Einstehen für Tierrechte ist für sie genauso wichtig wie die Unterstützung von Tierspitälern und  der Schutz bedrohter Arten und wilder Tiere.

Ideal und Wirklichkeit

Aus diesem Engagement für das Tierwohl lässt sich eine ökologische Vision der Welt ableiten. Gerade die Jains in Nordamerika sehen sich weniger als Anhänger:innen einer altehrwürdigen Religion im christlichen Sinne. Für sie ist Jainismus gelebte Nachhaltigkeit und entwickelt sich von der religiösen Praxis zunehmend zum Lifestyle. 

Wie lassen sich aber jainistische Vorstellungen mit der Globalisierung, wirtschaftlichem Wachstum und der Konzentration von Reichtum in den Händen weniger vereinbaren? Viele Jains kontrollieren inzwischen globalisierte Wirtschaftsbereiche wie Häfen, Flughäfen, aber auch den Abbau und Handel von Kohle, Kobalt oder Diamanten. Auch an der Spitze von Banken und Medienkonzernen stehen Jains. Die Aktivitäten des Multimilliardärs Gautam Adani, der aus einer jainistischen Mittelklassefamilie in Gujarat zum reichsten Inder und drittreichsten Mann der Welt aufstieg, machen immer wieder Schlagzeilen. Schon 2020 protestierten Umweltaktivisten in Australien gegen sein Carmichael-Kohleminenprojekt in Queensland, weil sie Kohlenstoffemissionen und Schäden am Great Barrier Reef befürchteten. Auch bei den Jains gibt es also den oft zitierten Widerspruch zwischen Theorie und Praxis.

Tierwohl und Fleischverbot bieten Potential für Konflikte und sollten in ihrer Komplexität verhandelt werden.  

Und noch etwas geht oft in der Debatte um das Tierwohl unter: Der Verzicht auf Fleisch steht in einem grösseren gesellschaftspolitischen Zusammenhang. In Indien leben neben der hinduistischen Mehrheit Muslime und Christen, für die Rind- respektive Schweinefleisch zum Speiseplan gehören. Wie lassen sich Forderungen nach Tierwohl, nach Reduzierung oder Verbot von Fleischkonsum mit dem Grundrecht freier Religionsausübung vereinbaren? Diese Frage gewinnt an Brisanz mit Blick auf die Bestrebungen von Jains, in bestimmten Pilgerzentren wie Palitana den Vegetarismus für alle Menschen zu erzwingen. 

Zudem hat die Diskussion um Tierwohl auch volkswirtschaftliche Dimensionen: Kaum jemand weiss, dass Indien 2022 der sechstgrösste Exporteur von Rindfleisch weltweit war und auch über eine grosse lederverarbeitende Industrie verfügt. Und wer fragt nach den Folgen von Schlachtverboten für Bauern, die ihre Rinder nicht ernähren können? Tierwohl und Fleischverbot bieten Potential für Konflikte und sollten in ihrer Komplexität verhandelt werden. 

Ausblick und Ausstellungshinweis

Bei allen Paradoxien und Widersprüchen sind Tierschutz und eine gewaltfreie Ernährung wichtige Voraussetzungen für das Überleben unserer Welt. Und vielleicht gibt der Jainismus wirklich Anstösse, über das Zusammenleben von Mensch und Tier neu nachzudenken? Das finden jedenfalls die Kurator:innen der Ausstellung «Jain sein: Kunst und Leben einer indischen Religion», die bis zum 30. April 2023 im Museum Rietberg zu sehen ist. Kunstwerke, Filme und ein interaktives Spiel laden sie zu einer Auseinandersetzung mit dem Jainismus und Fragen unseres Alltags ein.


Weitere Literatur:

Ludwig Alsdorf, The History of Vegetarianism and Cow-Veneration in India, übersetzt und herausgegeben von Bal Patil, Nichola Hayton und Willem Bollée, London: Routlege 2010.

Johannes Beltz, Michaela Blaser, Marion Frenger, Patrick Felix Krüger, Harsha Vinay, Jain sein: Kunst und Kultur einer indischen Religion, Zürich/Stuttgart: Museum Rietberg/Hatje Cantz 2022.

Johannes Beltz, «Indiens heilige Kühe – Methodische Überlegungen zur Ausbildung von Lehrpersonen im Schulfach ‚Religionen, Kulturen, Ethik‘ des Kantons Zürich und zum Lehrmittel ‚Blickpunkt 3 – Religion und Kultur’», in: Zeitschrift für Religionskunde, 10, 2022, S. 159-177; https://www.religionskunde.ch/images/Ausgaben_ZFRK/2022/ZFRK_10_2022_Beltz.pdf, Abruf am 02.02.23

Mirjam Iseli, Entstehung und Auflösung der Schweizer Jaina-Gemeinschaft, Baden-Baden: Tectum 2021

Katja Richard, «Jain-Food im Museum Rietberg: So köstlich kochen die strengsten aller Vegis», in: Blick am Sonntag, 15. Januar 2023; https://www.blick.ch/life/jain-food-im-museum-rietberg-so-koestlich-kochen-die-strengsten-aller-vegis-id18224507.html, Abruf am 05.02.2023

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Autor

  • Johannes Beltz

    Stellvertretender Direktor und leitender Kurator für indische und südostasiatische Kunst am Museum Rietberg in Zürich ||| Johannes Beltz ist stellvertretender Direktor und leitender Kurator für indische und südostasiatische Kunst am Museum Rietberg in Zürich. Er kuratierte zahlreiche Ausstellungen wie «Nächster Halt Nirvana – Annäherungen an den Buddhismus» (2018) oder «Jain sein – Kunst und Leben einer indischen Religion» (2022). Zudem unterrichtet er regelmässig an der Universität Zürich zu Hinduismus, Buddhismus und indischer Kunstgeschichte.

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