Tier-Mensch-Beziehung
Uta Maria Jürgens

«Wir haben Verantwortung» – Himmel und Hölle in Mensch-Tier-Beziehungen

Sollen wir Wildtiere streng kontrollieren, einen Ausgleich zwischen menschlichen und tierischen Interessen finden oder ihnen den Freiraum lassen, art- und wesensgerecht zu leben? An dieser Frage entbrennen in der Schweiz regelmässig hitzige Debatten. Uta Jürgens, Psychologin und Forscherin zum Mensch-Tier-Verhältnis in der Schweiz, sieht darin das Aufeinanderprallen verschiedener Weltanschauungen.

Alles, was wir tun, gibt Auskunft darüber, was wir glauben. Nicht immer sind unsere Handlungen überlegt und abgewogen, doch gerade intuitive Reaktionen gründen in tief verankerten Überzeugungen, die uns heilig sind. Sie zeigen, wer wir sind.

«Man hat einen Schöpfungsauftrag», sagt Bea. «Ich wäre dafür, dass der Mensch seinen Schöpfungsauftrag wahrnimmt. Das Mutterschaf kümmert sich ja auch um das Lamm. Das weiss ganz genau, da drinnen», sie legt die Hand auf ihre Brust, «ich muss mich kümmern, sonst funktioniert es nicht!». Bea ist Schäferin. Ihre Berufung ist es, Kindern mit Hilfe ihrer «Mitarbeiter», wie sie ihre Schafe nennt, so viel wie möglich über artgerechte Weidetierhaltung, über Wildtiere und ein naturfreundliches Leben beizubringen. Entschieden trotzt Bea jeden Tag erheblichen Widrigkeiten von Witterung, Mittelknappheit und Bürokratie, um sich für die Vielfalt der Arten im Lebensraum Streuobstwiese ebenso wie für das Wohlergehen einzelner Lämmer, Raben oder Schmetterlinge einzusetzen. «Was wir machen, ist gut», sagt Bea. 

Aber Anne hasst eklige Tiere …

Anne ist Pastoralreferentin. Auch Anne ist überzeugt: «Ich glaube, dass der Mensch Verantwortung hat, dass die Rolle des Menschen ist, sich um die Lebewesen zu kümmern.» Aber Anne hasst eklige Tiere, vor allem Spinnen. Das bringt sie tagtäglich in einen Zwiespalt. «Ich bin dankbar für alles an Schönheiten in der Natur. Aber nicht für die Spinne. Das tut mir leid …». Anne tötet eklige Tiere. Danach entschuldigt sie sich bei ihnen, denn sie findet eigentlich nicht gut, was sie da tut. «Ich möchte vorsätzlich kein Lebewesen totmachen, sondern ich möchte, dass es den Lebewesen gut geht, wie es mir gut geht», aber: «ich habe keine Gewissensbisse beim Töten von Motten oder Schnaken. Weil ich da das Gefühl habe, die machen nichts Gutes, sondern die schaden nur. Da sehe ich keinen Sinn dahinter.» 

Der Schutzverantwortung des Menschen für seine Mitgeschöpfe, so Annes tiefes Empfinden, steht seitens der Tiere die Bringschuld gegenüber, dem Menschen angenehm oder dienlich zu sein.

Zwar weiss Anne, dass Spinnen natürliche Schädlingsbekämpfer sind, aber sie findet, «die Spinne bräuchte was Cooleres, was sie kann, um uns zu helfen, wo wir Menschen einen Nutzen von haben», wie das Eichhörnchen, das man gerne anschaut. Der Schutzverantwortung des Menschen für seine Mitgeschöpfe, so Annes tiefes Empfinden, steht seitens der Tiere die Bringschuld gegenüber, dem Menschen angenehm oder dienlich zu sein.

Respektieren oder Ausrotten?

Bea und Anne gibt es wirklich, wenngleich sie im echten Leben anders heissen. Ich habe sie und viele andere Menschen für mein Doktoratsprojekt interviewt, um die verschiedenen Verhältnisse zu untersuchen, die Menschen zu Tieren, vor allem zu Wildtieren, haben. 

Darunter sind auch die Ansichten wie die von Paul und Alfons, die eine ganz andere Art von Verantwortung seitens des Menschen gegenüber Tieren sehen: Paul tritt als Tierrechtsaktivist dafür ein, dass Menschen sich gänzlich zurücknehmen und Tiere als selbstbestimmte Persönlichkeiten respektieren, so wie andere Menschen. Pferdewirt Alfons hingegen fordert, Wildtiere, die menschlichen Interessen schaden können, wie etwa Elstern und Wölfe, auszurotten. Solche Tiere seien wie Verbrecher, die man schliesslich auch für ihre Untaten strafend zur Verantwortung ziehe. 

Unsere tiefsten Überzeugungen zeigen sich in Beziehungen zu Tieren

Alles, was wir für Tiere tun – oder ihnen antun – zeigt das Bild, welches wir von uns und von unseren Mitlebewesen haben. Zwischen den Extremen von Bea und Paul, Anne und Alfons spannt sich die Vielfalt der Haltungen gegenüber Tieren auf. Gemeinsam ist diesen grundverschiedenen Mensch-Tier-Verhältnissen, dass sie auf das Engste mit Glaubenssätzen verwoben sind, die zu unserer Identität gehören. In manchen Fällen speisen sich diese Glaubenssätze aus den Lehren bestimmter Religionen oder Philosophien, in anderen aus individuellen spirituellen oder verstandesmässigen Quellen. Charaktereigenschaften, die wir mitbringen, Erfahrungen, die wir gemacht haben, und Wünsche, die wir für uns und für die Welt haben, sind ebenfalls wichtige Zutaten für unseren Umgang mit Tieren. 

© Julia Del Negro

Egal, ob wir wie Bea von der Idee eines Schöpfungsauftrags inspirierten Umweltschutz betreiben, wie Anne aus menschlicher Sicht unnütze Tiere von einer Fürsorgeverantwortung ausschliessen, wie Paul alle Lebewesen als personenhafte Gegenüber betrachten, oder wie Alfons Selbstjustiz angesichts mutmasslich übergriffiger tierlicher Täter üben wollen: Es sind letztlich unsere tiefsten Überzeugungen, die Niederschlag in Beziehungen zu Tieren finden. Glauben wir, dass die Welt für den Menschen geschaffen ist, auf dass er in ihr walte und über sie verfüge – oder dass er ein Wesen unter vielen Geschwisterwesen ist? Halten wir uns für aus der Natur herausgehoben und ihr gegenübergestellt – oder für mit ihr verbunden und in sie eingebettet? Sind wir überzeugt, das Weltgesetz sei «Fressen und Gefressen werden» – oder sehen wir eher ein Prinzip gerechten «Nehmens und Gebens» am Werk? 

Wildtiermanagement im Hoheitsgebiet des Glaubens

Nicht nur werden diese Fragen unbewusst aufgeworfen, wann immer wir Tieren begegnen, allzuvorderst Wildtieren. Denn diese repräsentieren die vermeintlich vom Menschen unterschiedene Sphäre der Welt, die Natur. Auch bestimmen unsere Antworten auf diese Fragen, wie wir reagieren. Das beginnt bei der Wahrnehmung. Wölfe, die sich Siedlungen nähern oder Spinnen, die durch unser Schlafzimmer laufen, werden von Anne und Alfons eher als aufmüpfige Störenfriede, gar mit geradezu berechnender Schädigungsabsicht wahrgenommen. Bea oder Paul haben dagegen eher das Empfinden, die Annäherungen geschähen in freundlich-neugieriger Absicht oder in gänzlicher Abwesenheit irgendeiner auf Menschen gerichteten Intention.

Vorstellungen von Wildtiermanagement berücksichtigen natürlich biologische Fakten, basieren aber auf subjektiven Annahmen über das Wesen und den Wert von Tieren.

Vor dem Hintergrund gegensätzlicher Glaubenssätze kann ein und dieselbe ökologische Tatsache zu völlig unterschiedlichen Zuschreibungen zu Tieren führen. Es folgen völlig unterschiedliche Handlungsempfehlungen und Taten. Sollen wir die Zahl und das Verhalten von Wildtieren streng kontrollieren, einen Ausgleich zwischen menschlichen und tierischen Interessen finden oder ihnen gänzlich Freiraum lassen, art- und wesensgerecht zu leben? Vorstellungen von Wildtiermanagement berücksichtigen natürlich biologische Fakten, basieren aber auf subjektiven Annahmen über das Wesen und den Wert von Tieren. Dies gilt für Vorstellungen aller Seiten: Schäfer:innen wie Theolog:innen, Tierrechtler:innen wie Jäger:innen. Denn wir alle betrachten die Wirklichkeit letztlich durch die Brille von Prämissen: Setzungen von richtig und falsch, gut und schlecht, die jenseits des Wissens im Hoheitsgebiet des Glaubens liegen. 

Wie wir als Mensch in der Welt stehen, so stehen wir Tieren gegenüber

Meine Forschung zeigt: Wie wir als Mensch in der Welt stehen, so stehen wir Tieren gegenüber. Bea leidet, wenn sie sich unfrei fühlt. Sie träumt von einer Welt ohne Zäune und Autos, in der ihre Schafe einmütig mit Rehen und Wildschweinen grasen. Beschützt von Herdenschutzhunden, die sie sich leisten kann, können sie auch mit Wölfen koexistieren. Anne hasst es, sich hilflos zu fühlen. Sie möchte gerecht gegen jedermann sein. Am liebsten wäre ihr, dass Spinnen und andere Kriechtiere ihr intuitiv fernbleiben, damit sie nicht in Ekel und Schrecken versetzt wird und sich gezwungen sieht, jene zu töten. 

Eigentlich wünscht sich Paul, in nahem Kontakt mit allen Tieren zu leben. In seiner idealen Welt begegnen Menschen und auch Tiere einander gemäss der goldenen Regel: «Was du nicht willst, das man dir tut …». Aber er geht davon aus, dass Menschen immer grausam gegenüber Tieren sein werden. So schwebt ihm realistischer vor, dass Tiere wie etwa Wölfe, die in Gefahr sind, Gewalt von Menschen zu erfahren, gut geschützt in sicherer Entfernung von ihnen siedeln sollen. Mit so einer Raumordnung wäre auch Alfons einverstanden – allerdings nicht zum Wohle der Wölfe. Er will umgekehrt seine Pferde vor Wölfen schützen, die seine Familie und deren Zucht sein Lebenswerk sind. 

Konflikte um Wildtiere: Nebenkriegsschauplätze zwischen Weltanschauungen

Die Hölle, die wir fürchten, und den Himmel, den wir uns wünschen, sie begegnen uns in unserem Denken und Fühlen, Fordern und Handeln Tieren gegenüber. Mensch-Tier-Beziehungen sind ein Brennglas für die Beziehung zum grossen Gegenüber der gesamten Aussenwelt. Deshalb kann es auf die Fragen im Miteinander von Menschen und Tieren sowie von Mensch und Natur keine «kleinen» Antworten geben. Es geht im Grunde nicht um Wölfe und Spinnen, Schafe und Pferde. Es geht darum, wer wir sind und wer wir sein wollen, als Einzelperson und als Gemeinschaft. Dies verhandeln wir an Fragen der Mensch-Tier-Beziehungen. Deshalb ist nicht verwunderlich, dass Begegnungen zwischen Menschen und Tieren so intensive Emotionen auslösen und dass die Positionen so unvereinbar sind. 

Denn letztlich sind die Auseinandersetzungen über die vielen Themen im Mensch-Tier-Verhältnis – Veganismus und Massentierhaltung, Jagdrechtsreformen und Rewilding, Einsatz von Insektiziden und Finanzierung von Massnahmen im Weidetierschutz – Nebenkriegsschauplätze der Auseinandersetzungen zwischen Weltanschauungen. Für eine «grosse» Lösung der gesellschaftlichen Herausforderungen im Umgang mit diesen Themen kommt demnach religiösen und weltanschaulichen Institutionen, darunter Kirchen und Glaubensgemeinschaften, aber auch Eltern, Lehrern und Vereinen, bedeutende Gestaltungsmacht zu. Sie sind in der Verantwortung, handelnd zu zeigen, wer sie sind.


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Autor

  • Uta Maria Jürgens

    Gastwissenschaftlerin an der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL in Birmensdorf ||| Uta Maria Jürgens hat Psychologie und Ethnologie in Kiel sowie Umweltwissenschaften an der Yale School of the Environment studiert. An der ETH Zürich promovierte sie über die Psychologie von Mensch-Wildtier-Beziehungen. Uta Jürgens publiziert über Mensch und Natur und entwickelt kreative Lösungen für eine gelingende Koexistenz von Menschen und Rabenvögeln. Sie ist Gastwissenschaftlerin an der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL in Birmensdorf. Über ihre Arbeit informiert sie auf www.uta.info.

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