Tier-Mensch-Beziehung  ·  Veganismus
Alice Küng

Ist Veganismus eine Religion?

Eine vegane Lebensweise betrifft nicht nur die Ernährung, sondern fast das ganze Leben. Hobbys, Moralvorstellungen und das soziale Umfeld werden durch den Veganismus bestimmt. Zu Recht lässt sich diese Ernährungsphilosophie mit einer Form von Religion vergleichen.

Wer vegan lebt, verzichtet auf jegliche tierischen Produkte. Dazu gehören aber nicht nur Lebensmittel wie Milch oder Honig. Auch Lederschuhe, Zoobesuche und Schmerzmittel, die an Tieren getestet wurden, sind verboten. Das konsequente Verhalten erinnert an eine Form von Religion.

Veganer Alltag

Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung konsumiert regelmässig tierische Produkte. Ein veganes Leben kann daher eine Herausforderung sein. Vegan lebende Menschen prüfen nicht nur Inhaltsstoffe von Lebensmitteln, auch Herstellungsweisen von Kosmetikartikeln und Bestandteile von Kleidungsstücken kontrollieren sie. Daher müssen vegan lebende Menschen immer wieder aktiv nach Lösungen suchen, die sie mit ihrer Lebensweise vereinen können.

Andere Betroffene bevorzugen es, im Winter zu frieren, da sie keine warmen und veganen Schuhe oder Jacken finden.

Ein Beispiel sind Ferien. Inzwischen gibt es, obwohl es sich um eine Minderheit handelt, viele vegane Alternativen. Das ist aber noch nicht auf der ganzen Welt der Fall. Um dem Risiko zu entgehen, im Urlaub keine angemessenen Speisen zu finden, verreisen viele vegan lebende Menschen mit einem Koffer voll veganer Lebensmittel. Andere Betroffene bevorzugen es, im Winter zu frieren, da sie keine warmen und veganen Schuhe oder Jacken finden. Daher können vegan lebende Menschen, wie religiös lebende Menschen, die ihre religiösen Vorschriften ernst nehmen, in einer nicht vegan lebenden Gesellschaft auffallen.

Ein veganes Leben umfasst also nicht nur die Ernährung. Dennoch ist das Essen ein zentraler Bestandteil. Vergleicht man den Veganismus mit Religion, so kann das Kochen zu einem möglichen wichtigen Ritual werden. Oftmals wählen vegan lebende Menschen aber nicht nur die Bestandteile eines Gerichtes gezielt aus. Genauso wichtig ist, womit die Lebensmittel in Berührung kommen. Beim Grillieren nehmen vegan lebende Menschen tendenziell ihre eigenen Grillschalen mit. Sie meiden auch Pfannen, in denen in der Vergangenheit schon einmal Fleisch zubereitet wurde.

Vegane Gemeinschaft

Da die vegane Lebensweise sehr lebensumfassend sein kann, kann sie auch sehr identitätsstiftend wirken. Nach dem Sprichwort «Gleich und gleich gesellt sich gern» neigen auch vegan lebende Menschen dazu, ihre Mitmenschen gemäss ihrer eigenen Lebensweise auszusuchen. Das ist aber nicht immer leicht. Nicht mal ein Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt derzeit vegan. Viele vegan lebende Menschen fühlen sich daher automatisch zusammengehörig, wenn sie andere vegan lebende Menschen kennenlernen. Ähnlich fühlen sich Menschen gleicher Religionstraditionen einander zugehörig. 

© Julia Del Negro

So ist es kein Zufall, dass vegan lebende Menschen oft mit anderen Veganerinnen und Veganern zusammen sind und/oder zusammenleben. Auch ihre Partnerinnen und Partner oder Mitbewohnerinnen und Mitbewohner sollen in den eigenen vier Wänden keine tierischen Produkte konsumieren. Es gibt aber nicht nur vegane Pärchen und Wohngemeinschaften, sondern ebenso vegane Datingplattformen wie «VeganeSingels.ch». Diese Prozesse der Vergemeinschaftung und der Grenzziehung erinnert an Religionsgemeinschaften.

Vegane Moralvorstellungen

Vegan lebende Menschen träumen oft von einer tierproduktfreien Welt, in der alle Menschen vegan leben. Um das zu erreichen, versuchen einige Veganerinnen und Veganer ihre Mitmenschen von der veganen Lebensweise zu überzeugen. Das wird sogar propagiert. Einige vegane Webseiten wie beispielsweise «Vegan.eu» rufen vegan lebende Menschen dazu auf, andere Personen zum Veganismus zu «bekehren». Das Sendebewusstsein für die Sache des Veganismus erinnert an eine religiöse Mission.

Der tierproduktfreie Idealzustand ist derzeit aber eine utopische Zukunftsvision. Obwohl der Veganismus in den letzten Jahren immer populärer geworden ist, lebt erst eine Minderheit der Schweizer Bevölkerung ein tierfreies Leben. Sollte sich diese Minderheit nicht zu einer Mehrheit entwickeln, beschwören einige vegan lebende Menschen negative apokalyptische Szenarien herauf. Hunger, Klimakatastopen und Krankheiten könnten die Menschen bedrohen. Ähnlich gibt es auch Religionstraditionen, die apokalyptische Zukunftsvisionen beschreiben. 

Vegane Argumente

Gründe vegan zu leben, werden viele genannt. Die drei häufigsten sind aber das Wohl der Tiere, die Umwelt und Ressourcenbewusstsein sowie die Gesundheit.

Tiere

Vegan lebende Menschen stellen die beiden Spezies Mensch und Tier gleich. Es soll keine Hierarchie zwischen ihnen herrschen und der Mensch dürfe keine Sonderstellung gegenüber den Tieren einnehmen. «Antispeziesismus», nennt sich diese Haltung. Wer Tiere ausbeutet oder gar tötet, handle diskriminierend. Denn Tiere würden nicht in die Kategorie der Dinge gehören. Diese Auffassung zeigt, dass sich hinter dem Veganismus eine klare moralische Überzeugung verbergen kann, so wie dies in gewissen Religionstraditionen auch der Fall sein kann. 

Gesundheit

Vegan lebende Menschen preisen den veganen Lebensstiel im Gegensatz zu einer Diät mit tierischen Lebensmitteln als gesünder an. Das Risiko für Erkrankungen wie Diabetes oder Krebs sowie Übergewicht sei mit einer rein pflanzlichen Ernährung geringer, wird argumentiert. Für eine gesunde Ernährung seien tierische Produkte «völlig unnötig».

Gleichzeitig taucht beim Thema Veganismus immer wieder die Frage nach Mangelerscheinungen auf. Dafür haben vegan lebende Menschen aber eine Lösung gefunden. Bestandteile, die nur in tierischen Produkten enthalten sind, wie das Vitamin B12, supplementieren viele mit Nahrungsergänzungsmitteln.

Umwelt

Vegan zu leben, soll nicht nur gut für die eigene Gesundheit sein, auch die Umwelt würde davon profitieren. Das Hautargument ist: Pflanzliche Produkte brauchen viel weniger Umweltressourcen als tierische. Um die gesamte Weltbevölkerung ernähren zu können und der Klimaerwärmung entgegenzuwirken, sei der Veganismus daher «das einzig Sinnvolle», so das Argument. Die Art, die eigene Überzeugung als die «einzig Wahre» wahrzunehmen, erinnert erneut an Religion.

Vegane Bekehrung

Wer sich für ein veganes Leben entscheidet, durchläuft oftmals einen Prozess, der an eine religiöse Bekehrung erinnert. Häufig erfahren betroffene Personen in persönlichen Begegnungen oder durch Medien erstmals vom Veganismus. Abschreckende Videos über Massentierhaltung und Schlachthöfe können dabei besonders eindrücklich wirken. Der Moment, in dem eine Person von der veganen Lebensweise erfährt, wird von Betroffenen im Nachhinein oft als «augenöffnend» beschrieben.

Häufig geht dem Veganismus eine vegetarische Ernährungsweise voraus. Diese wird aber bald überwunden, da der Vegetarismus «inkonsequent» sei.

Nachdem eine Person den Veganismus kennengelernt hat, setzt sie sich in der Tendenz mit der neuen Lebensweise auseinander. Sie beschafft sich Informationen und tauscht sich mit bereits vegan lebenden Menschen aus. Häufig geht dem Veganismus eine vegetarische Ernährungsweise voraus. Diese wird aber bald überwunden, da der Vegetarismus «inkonsequent» sei. Nachdem sich Personen schliesslich für eine gänzlich tierfreie Lebensweise entschieden haben, folgt eine lebensverändernde Reaktion. Sie streichen tierische Lebensmittel von ihrem Speiseplan, kaufen keine Daunendecken mehr und bauen ein neues soziales Umfeld auf.

Veganismus: eine Religion?

Ein zentrales Element, das im veganen Lebensstil aber fehlt, ist der Glaube an eine transzendente Gottheit. Ausserdem betrachten sich vegan lebende Menschen selbst in der Regel nicht als religiöse Personen. Die Antwort auf die Frage, ob der Veganismus eine Religion ist, lässt sich hier nicht beantworten. Was aber unbestritten bleibt, ist, dass vegan zu leben sehr umfassend ist und sich längst nicht nur auf die Ernährung begrenzt.

Religionsdefinition
In der Religionswissenschaft gibt es keine allgemeingültige Definition von Religion. Verschiedene Strömungen verstehen Religion auf unterschiedliche Art und Weise. Daher eignet sich nicht jede Religionsdefinition für einen Vergleich zum Veganismus. Um eine Ernährungsphilosophie als eine Form von Religion untersuchen zu können, müssen ausserdem brauchbare Vergleichspunkte festgelegt werden. Für diesen Artikel wurden die folgenden gewählt: Vorschriften, Rituale, Identität und Gemeinschaft, Glaubenssätze, absoluter Wahrheitsanspruch und Bekehrung.
Dazu kommt, dass jede religiöse Person eine Religionstradition anders auslebt. In diesem Artikel werden Vergleiche mit einer «Idealform» von Religion gezogen. Ob und auf wie viele Individuen der Vergleich schlussendlich zutrifft, bleibt offen. 

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Autor

  • Alice Küng

    Religionswissenschaftlerin und Diplomassistentin an der Universität Fribourg ||| Alice Küng ist Religionswissenschaftlerin und hat ihre Masterarbeit zum Thema Veganismus geschrieben. Anhand von Interviews mit vegan lebenden Menschen konnte sie Ähnlichkeiten zwischen Veganismus und Religion aufzeigen. Derzeit arbeitet Alice Küng als Diplomassistentin am religionswissenschaftlichen Institut an der Universität Fribourg. Sie schreibt ihre Dissertation zum Thema Religion im Diversity Management.

Ein Gedanke zu „Ist Veganismus eine Religion?

  • Die Antwort auf die Titelfrage „Ist Veganismus eine Religion?“ wird erst im letzten Abschnitt behandelt: „Ein zentrales Element, das im veganen Lebensstil aber fehlt, ist der Glaube an eine transzendente Gottheit“. Zudem beruft sich kaum ein Veganer auf ein Offenbarungswunder und Propheten. Somit kann die Titelfrage mit einem klaren NEIN be-antwortet werden. Alle anderen Abschnitte sind wenig relevant, oft übertrieben und manchmal falsch. So z.B. die Behauptung, dass es keine warme vegane Winterbekleidung gäbe. Da möchte ich bloss auf die neuen Füllmaterialien in Sportbekleidung hinweisen, die pro Gramm eine höhere Isolation als Daunen oder Wolle haben und zudem pflegeleichter als die tierischen Produkte sind. Auch die Schilderung des absoluten Antispeziesismus trifft für die meisten Veganer nicht zu. Auf das Gedankenexperiment „Du bist in einem Rettungsboot, das noch einen Platz hat, und im Meer schwimmen ein Mensch und ein sehr grosser Hund – wen nimmst Du auf?“ werden die meisten Veganer mit „Mensch“ antworten.

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