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Meret Bannwart

Konversion – wenn nicht-religiöse Menschen religiös werden

Mindestens ein Drittel der Schweizer:innen bezeichnet sich als nicht-religiös. Was das jedoch bedeutet, ist sehr individuell. Diese Selbstbezeichnung hat viel mit dem Religionsbild der Menschen in der Schweiz zu tun, das eher negativ geprägt ist. Umso erstaunter sind viele Menschen, wenn nicht-religiöse Personen religiös werden. Meret Bannwart zeigt in ihrer Reportage zwei ursprünglich nicht-religiöse Menschen, die zum Islam und zum Hinduismus konvertiert sind.

Seit den 1970er Jahren zeichnet sich in der Schweiz eine starke Veränderung der religiösen Landschaft ab. Bis dahin waren Schweizer:innen mehrheitlich entweder römisch-katholisch oder reformiert. Drei Phänomene prägen seither die Entwicklung: die Säkularisierung,  Pluralisierung und Individualisierung. Nicht nur zählen sich immer mehr Menschen zu keiner religiösen Gemeinschaft dazu oder praktizieren nicht aktiv, auch steigt die Vielfalt der in der Schweiz ansässigen Religionsgemeinschaften.

Jeder und jede bastelt sich eine eigene Glaubenswelt, gerne auch angereichert mit Elementen aus anderen Religionen und Traditionen.

Der Anteil der Schweizer:innen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen, ist von einem Prozent im Jahr 1970 auf 31 Prozent im Jahr 2020 angestiegen. Durch Migration haben andere christliche wie auch nicht-christliche Gemeinschaften ihren Weg in die Schweiz gefunden. So ergänzen christlich-orthodoxe Kirchen, hinduistische oder muslimische Gemeinschaften die Schweizer Religionslandschaft. Ausserdem ist die Vielfalt auch innerhalb der Religionsgemeinschaften angestiegen, weil die individuell gelebte Religion immer diverser wird. Jeder und jede bastelt sich eine eigene Glaubenswelt, gerne auch angereichert mit Elementen aus anderen Religionen und Traditionen.

Bei der grossen Zahl an nicht-religiösen Menschen fragt es sich, wie diese die Welt wahrnehmen, ob sie wirklich an «nichts» glauben und aus welchen Gründen sich jemand als nicht-religiös bezeichnet. 

Wer sind eigentlich die «Nicht-Religiösen»?

Gerade zu Beginn weg: «Die» nicht-religiöse Person gibt es nicht. Säkular oder nicht-religiös zu sein, kann viele verschiedene Dinge bedeuten. So gibt es Gruppen, die klar als nicht-religiös bekannt sind, wie Atheist:innen, Humanist:innen oder Agnostiker:innen. Zugleich gibt es aber auch viele nicht sehr erforschte «Gruppen» von Menschen: die Indifferenten oder Distanzierten. Aber auch grundsätzlich spirituelle oder gläubige Menschen sagen über sich teilweise, sie seien nicht-religiös – häufig, um sich gegenüber Religion, wie sie sie erlebt haben, abzugrenzen. 

Atheist:innen, Humanist:innen und Agnostiker:innen beziehen häufig klar Stellung dazu, wie sie es mit Religion oder Gott halten. Viele Menschen, die sich als nicht religiös oder säkular bezeichnen, ordnen sich jedoch nicht in diese Gruppen ein. Sie sind indifferent oder distanziert gegenüber ihren jeweiligen religiösen Institutionen. Ihre Einstellung gegenüber Religion äussern sie vage und indirekt. Oft äussern Distanzierte, sie hätten einen Glauben an «irgendetwas Höheres», «irgendeine Energie», suchten den «Sinn des Lebens» oder glauben an «Reinkarnation». Präzise Weltanschauungen haben sie meist nicht. Vielleicht gehen sie auch an hohen Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten in die Kirche, doch bedeutet Religion in ihrem Alltag nicht viel. 

Dass viele Schweizer:innen keinen grossen Bezug zur Kirche oder Religion haben, bedeutet aber nicht automatisch, dass Religion und Glaubensvorstellungen per se aus ihrem Leben verschwunden sind – auch wenn ihnen dies nicht immer bewusst ist. Mit dem Aufkommen der Individualisierung hat sich das Verständnis und die Praxis von Glaubensvorstellung verändert. 

Das Individuum im Zentrum

So ist es für viele zwar nicht attraktiv, fest in eine religiöse Gemeinschaft eingebunden zu sein, sonntags den Gottesdienst zu besuchen und den Worten des Pfarrers zu lauschen, dennoch schwören sie auf die Meditation in ihrem Yogakurs, konsumieren Demeter-Produkte oder helfen bei medizinischen Problemen lieber erst mit Globuli nach. Die Natur scheint in vielen nicht-religiösen Weltbildern eine wichtige Rolle zu spielen, als eine Macht, die nicht alles mit sich machen lässt, sich am ignoranten und ausbeuterischen Kapitalisten rächt. Sie ist gleichzeitig Heimat für den Menschen und Ort, von dem alle kommen und zu dem alle zurückkehren, voller Demut vor ihrer Schönheit, aber auch ihrer Wucht und hilflos gegenüber ihrer Macht.

Während sich die herkömmlich gelebte Religiosität über die Jahrtausende organisiert hat und in Institutionen eingegossen wurde, haben sich bei nicht-religiösen Weltbildern selten schon elaborierte und konsistente Theorien über diese Welt gebildet. Religiöse Eliten entwickelten in institutionalisierten Religionen Theologien, die dann durch das religiöse «Fussvolk» entweder freimütig interpretiert oder durch einen Staats- und Machtapparat vermittelt oder auch verordnet werden. Da die Entwicklung von nicht-religiösen Weltbildern noch nicht so weit zurückgeht und in eine Zeit des Individualismus fällt, sind sie noch weniger oder weniger offensichtlich institutionalisiert und auf die individuelle Entscheidung und das Individuum als Nullpunkt ihrer Wertesysteme ausgelegt. 

Das Festhalten an religiösen Dogmen oder ein sichtbares Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft wird mit Argwohn betrachtet und mit Zwang assoziiert.

Folgerichtig werden religiöse und spirituelle «Angebote» beliebig kombiniert und im Sinne des Individualismus ein eigenes Weltbild zusammengebastelt – dies ganz unverbindlich. Der Yogakurs kann abgebrochen werden, nach dem Heilpraktiker kann trotzdem die Hausärztin besucht werden. Das wirkt sich auf die Beziehung zu mehr traditionellen Formen von Religiosität aus. Das Festhalten an religiösen Dogmen oder ein sichtbares Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft wird mit Argwohn betrachtet und mit Zwang assoziiert. Religion sollte in den Augen vieler eine private Angelegenheit zwischen dem Individuum und Gott sein. An öffentlich gelebter Religiosität stören sich viele.

Lukas Stöckli im Krishna Tempel Zürich.

Wie Religion in der Schweiz wahrgenommen wird

Viele in der westlichen Gesellschaft sehen die Säkularisierung als Prozess der Gesellschaft weg von einem primitiven, religiösen Zustand hin zur Rationalität und Modernität. Modern zu sein bedeutet für viele Schweizer:innen, nicht-religiös oder säkular zu leben. Säkulare Menschen sind in ihrer Vorstellung freie und eigenständig denkende und handelnde Wesen. Das negative Gegenbild dazu ist für sie der religiöse Mitmensch. Oft werden religiöse Personen mit Unverständnis beäugt und als unfrei, abhängig und irrational abgestempelt. 

Neben der Einteilung in gut und schlecht wird Religion auch als «fremd» und «eigen» wahrgenommen.

Dieses Religionsbild ist stark historisch geprägt. Machtkonstellationen in Europa und der Schweiz, Religionskriege und die Aufklärung trugen dazu bei, diesen Religionsstereotyp zu bilden. Religion wird nun in positive und negative Aspekte unterteilt. Negativ sei sie, wenn sie zur Kontrolle, Unterdrückung und Machtausübung diene, Zwang, Indoktrination, Mission und einen absolutistischen Wahrheitsanspruch beinhalte. Eine solche Religion wird als nicht zeitgemäss, intolerant und fanatisch beurteilt. Sie sei häufige Ursache für Konflikte und Kriege. Positiv sei Religion, wenn sie Menschen Halt und Kraft oder auch Werte gebe oder zum Nachdenken anrege. 

Neben der Einteilung in gut und schlecht, wird Religion auch als «fremd» und «eigen» wahrgenommen. Der Islam ist hier ein Beispiel einer Religion, die sowohl als schlecht als auch als fremd gesehen wird. Der Katholizismus ist zwar schlecht, aber die eigene Religion. Der Buddhismus ist fremd, wird aber positiv bewertet und das reformierte Christentum wird im Gegensatz zum Katholizismus positiver gesehen und ebenfalls als eigene Religion wahrgenommen. 

Dieses Bild von Religion hat also einerseits mit religionshistorischen Entwicklungen zu tun, aber auch mit dem Zeitgeist und aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Und so beeinflussen nun sowohl dieses Religionsbild als auch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen die individuelle Ausgestaltung der eigenen Glaubenswelt. 

Gerade weil viele säkular lebende Menschen eher ein negatives Bild von Religion und religiösen Gemeinschaften haben, hat es Meret Bannwart interessiert, was einige dazu bewegt, aktiv eine Religion auszuleben und wie ihr säkulares Umfeld darauf reagiert hat. Dazu hat sie Manuela Türkel-Melillo, eine muslimische Konvertitin und Lukas Stöckli, einen hinduistischen Konvertiten, interviewt. 


Reportage:
Meret Bannwart
Text:
Rafaela Estermann ist Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleiterin von religion.ch. Ihre Schwerpunkte sind Nicht-Religion, Säkularität und der Diskurs über Religion und den Islam in der Schweiz. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Zürich in einem Forschungsprojekt (MORE) zum Religionsunterricht über den Islam in verschiedenen Religionsunterrichtsmodellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.

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Autor

  • Meret Bannwart

    Masterstudentin in Religionswissenschaft ||| Meret Bannwart, geboren 1995, ist Ende ihres Masterstudiums in Religionswissenschaft an der Universität Zürich. Sie hat einen Bachelor in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Religionswissenschaft. Nebenbei arbeitet sie bei Dialogue en Route als interreligiöse Guide und als freischaffende Journalistin fürs St.Galler Tagblatt. 

Ein Gedanke zu „Konversion – wenn nicht-religiöse Menschen religiös werden

  • Letztlich such jeder Mensch -bereits seit Urzeiten!- nach den drei Königsfragen, nämlich
    a) woher komme ich, b) wohin gehe ich und c) wozu sind wir auf Erden?
    Bis heute gibt es tausende von Büchern, aber immer noch keine verbindliche Antworten!
    Oder doch? Jeder Normale anerkennt sicher die Schöpfung und damit sollte -eigentlich- auch Jeder
    den Schöpfer akzeptieren, aber da fängt bereits die Überheblichkeit, der Narzissmus an!
    Wer will zugeben, dass es eine unsichtbare, höhere, allmächtige Institution oder Person
    gibt, die oder der alles lenkt.
    Der Schöpfer hat das Spiel (der Menschen) in der Hand, aber nie die Hände im Spiel!
    ist das nicht ein schöner Spruch, der auch sagt, dass wir jeden akzeptieren, achten und
    ernst nehmen müssen, wenn wir wollen, dass das Gegenüber -auch- uns akzeptiert.
    D.h. geben und nehmen, lieben und leiden, kommen & gehen ist bei jedem gleich und
    doch so verschieden.
    Eines ist seit Menschengedenken sicher, dass der Schöpfer noch keinen vergessen hat,
    denn jeder der geboren wird, hat einen Ablauf und muss gehen! Wohin hat noch
    keiner schlüssig beantwortet ausser der Schöpfer der eigentlich alles im Griff hat.
    Wir Menschen denken in 1 bis maximal ca. 110 Jahren, die Schöpfung kennt keine Zeit.
    Sollten wir nicht dem Schöpfer täglich dankbar sein, dass wir leben können/dürfen
    und eben -auch- ihn akzeptieren? Es geht auf jeden Fall damit Jedem besser!

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