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Rafaela Estermann

Matchmaking zwischen Tunesien und der Schweiz

Wieso heiratet jemand, der sein Leben in der Schweiz verbracht hat, eine Frau, die dieses Land noch nie betreten hat? Kinder von Migrant:innen suchen sich in der Schweiz immer öfter Ehepartner:innen mit demselben Hintergrund. Mein Freund, Omair, ist ein solches Kind. Auf seiner Hochzeit in Tunesien begebe ich mich auf Spurensuche und versuche zu verstehen.

Der Kopf einer Kuh hängt vom Dachvorspann eines Hauses. Durch das trübe Glas eines Schaufensters sehe ich weitere Teile ihres zerlegten Körpers ausgestellt. Der Kuhkopf verschwindet so schnell aus meinem Blickfeld, wie er aufgetaucht ist. Auf ihn folgen schlichte und etwas trostlose Betonbauten, Männer, Frauen und Kinder in billiger Kleidung, die ihrem Alltag nachgehen und mit Waren vollgestopfte Geschäfte. Wir fahren durch die Strassen von El Alia im Norden von Tunesien – auf dem Weg zu einer Hochzeit. 

Eingeladen hat mich ein Freund aus der Schweiz. Mit drei Jahren kam er nach Zürich, wo er aufwuchs. Ursprünglich stammt seine Familie aus Tunis. Für ihn war es alles andere als geplant, eine Frau in Tunesien zu heiraten. Und doch ist seine Geschichte nicht die einzige von Menschen mit Migrationshintergrund in der Schweiz, in der eine Partnerin oder ein Partner im Herkunftsland der Eltern gefunden wurde. 

Gina, links im Bild und ich rechts, im Restaurant nach unserem Hochzeitsbesuch.

Gemäss einer Studie zweier Welscher Forscherinnen aus dem Jahr 2017 heiraten jüngere Menschen mit Migrationshintergrund immer häufiger untereinander und nicht mehr Schweizer Staatsangehörige. Dies liege unter anderem auch am Online-Datingmarkt, der es ermöglicht, auch an einem Ort, wo nur wenige Menschen mit demselben Hintergrund ansässig sind, diese ausfindig zu machen – oder auch den Suchradius massiv auszudehnen und damit die Menge an potenziellen Partner:innen zu erhöhen.

Wieso heiratet jemand, der sein Leben in der Schweiz verbracht hat, eine Frau, die dieses Land noch nie betreten hat? Wie läuft diese Partnersuche ab? Ich erzähle diese Geschichte bewusst aus meiner persönlichen Perspektive und nicht mit dem abstrakten Blick der Statistik. Denn sie erzählt sich persönlich so ganz anders als die Bilder, die die Statistik zeichnet. Ausserdem möchte ich nicht nur seine Geschichte erzählen, sondern auch zeigen, wie sich in dieser Geschichte Kulturen begegnen – wo sich mir neue Welten auftaten und ich einen neuen Blick auf dieses Thema gewann, weil Freundschaft die Basis dieser Geschichte bildet.

Omair

Ich lernte Omair eines späten Abends in meinem Büro kennen. Wir haben ein Gemeinschaftsbüro mit anderen Organisationen. Ich dachte, ich würde niemanden mehr antreffen, aber wie ich arbeitet Omair als Student zu verschiedenen Tag- und Nachtzeiten, weil er seine Arbeit rund um sein Jusstudium büscheln muss. Nach fünf Minuten Kennenlernen landeten wir sogleich tief in einer philosophischen Konversation über die Verbindung von Staat und Religion, Empirismus, über den Menschen und seine Funktionsweise. Dieses Gespräch war Ausgangspunkt einer Freundschaft. 

Seither nehmen wir unsere Kaffee- und Mittagspausen regelmässig zum Anlass für philosophische Dispute. Unsere Kolleg:innen, nur wenige davon philosophisch interessiert, kennen unsere Leidenschaft für Philosophie und wenden sich meistens ihren eigenen Gesprächen zu, wenn wir einmal loslegen. Ich habe in meinem Bachelor im Nebenfach Philosophie studiert. Omair dachte, er müsse etwas «Anständiges» studieren, und so landete er in seinem Jusstudium, obwohl Philosophie wahrscheinlich seinem Herzenswunsch entsprochen hätte. 

Ein Blick nach draussen. Die Hochzeitsgäste treffen langsam ein.

Omair und ich haben so einiges gemeinsam. Nicht nur die Philosophie und dieselben Ideen und Themen interessieren uns. Wir sind beide Fantasy-Liebhaber:innen. Herr der Ringe und Harry Potter haben unsere Jugend geprägt, sie sind ein Teil unserer Identität. Omair trägt sogar einen Herr-der-Ringe-Ring an seiner linken Hand und trinkt seinen Kaffee aus einer Herr-der-Ringe-Tasse.

Wir wissen beide, ganz normal sind wir nicht.

Als hoffnungslose Romantiker:innen schauen wir beide gerne als Abwechslung zum grauen Alltag durch eine rosarote Brille auf diese Welt. Gefühlvolle und epische Musik, ob aus Omairs Anime-Serien, vom Soundtrack von Herr der Ringe oder ein gutes Stück Melody Metal berühren unsere romantischen Herzen. Omair weint gerne beim Schauen seiner Anime-Serien und ich weine wahrscheinlich bei jedem Film, den ich mir zu Gemüte führe. Wir sind beide fasziniert von dieser Welt und bräuchten 1000 Leben, um allen unseren Interessen und Leidenschaften den gebührenden Raum gewähren zu können. 

Wir wissen beide, ganz normal sind wir nicht. Wahrscheinlich könnte man uns auch als Nerds bezeichnen, auch wenn man uns das nicht unbedingt ansieht, aber zumindest für unsere Arbeitskolleg:innen ist das unbestritten.

Alle heiraten – auch Omair

2023 war bei uns im Büro-Stock das Jahr der Hochzeiten. Einer nach dem anderen hat geheiratet. Die meisten sind kurz vor oder nach 30 und also im besten Heiratsalter. Und so kam ich dann auch mit einer etwas anderen Heiratskultur in Kontakt. Ich selbst lebe seit vielen Jahren mit meinem Partner zusammen. Verheiratet sind wir nicht. Vielleicht heiraten wir einmal, vielleicht auch nicht. Bei Omair und seinen muslimischen Arbeitskolleg:innen ist das teilweise etwas anders. Für ihn war es nicht ganz so einfach – und doch in mancher Hinsicht einfacher als bei mir. 

Omair und seine Arbeitskolleg:innen haben in ihrem Umfeld erzählt, dass sie auf der Suche nach einer Ehefrau oder einem Ehemann sind. Und das Umfeld hat darauf reagiert. Es wurden passende Partner:innen vorgeschlagen und Dates vereinbart. Sie gingen zu Festen, an Veranstaltungen, auf gemeinsame Wanderungen – es sei ein richtiger Heiratsmarkt, erzählte mir Omair. 

Heiratsmärkte für Minderheiten

Ein solcher «Heiratsmarkt» ist wichtig für eine Minderheit, denn die Suche nach einem oder einer Partner:in gestaltet sich wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Daher unterhalten praktisch alle religiösen Minderheiten in der Schweiz Matchmakingsysteme. Es geht dabei nicht darum, unter sich zu bleiben, sondern jemanden zu finden, der die eigene Identität versteht, dieselben Interessen, Werte und religiösen Vorstellungen teilt. Gerade wenn es um die Kindererziehung geht, ist dies von besonderer Wichtigkeit, eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende und stabile Beziehung.

Natürlich gewichten Menschen kulturelle und religiöse Aspekte ihrer Identität unterschiedlich. Während für die einen politische Einstellungen oder ihr Freizeithobby der zentrale Aspekt ihrer Identität darstellt, sind es für andere ihre religiösen Vorstellungen. Entsprechend suchen und finden auch nicht alle Menschen aus kulturellen oder religiösen Minderheiten eine:n Partner:in, der oder die sich derselben Minderheit zugehörig fühlt. Einige von Omairs Arbeitskolleg:innen haben so aber ihre Ehemänner und Ehefrauen gefunden. 

Alle warten auf das Eintreffen der Braut und des Bräutigams.

Man muss sich vorstellen, dass die Identität eines Menschen, der in der Schweiz aufwuchs und dessen Eltern aus einem anderen Land stammen, ein ganz eigenes «Gemisch» ist. «Ausländer» sind nicht einfach «Ausländer». Die Familiengeschichten, sozioökonomischen Voraussetzungen, der Ort in der Schweiz, wo man aufwächst, auf dem Land, in der Stadt, die religiösen Vorstellungen des engen Umfelds, aber auch der weiteren Umgebung, die Erlebnisse in der Schule, der eigene Bildungsweg – das alles und noch viel mehr formen die eigene Identität.

Die Identität, die entsteht, ist weder wirklich hier noch dort. Sie ist etwas ganz Neues. Und ja, jede Identität ist individuell, aber wir definieren uns eben auch über Zugehörigkeiten und geteilte Identitäten. Die Kinder von zugewanderten Menschen müssen hier aber einen Spagat machen zwischen der geteilten Identität der Eltern mit ihrem Umfeld und derjenigen der lokalen Gesellschaft, in der sie aufwachsen. Jemanden zu finden, der das versteht und mit dem man das teilen kann, ist sehr schwierig. Die Auswahl ist klein.

Es ging immer relativ schnell

Es ging immer relativ schnell. Sobald klar war, dass die Chemie stimmt, der richtige «Identitätsmix» im Gegenüber gefunden und die Lebens- und Familienplanung geklärt war, wurden Heiratspläne geschmiedet und innerhalb von einem Jahr auch umgesetzt. Es kam mir alles sehr zielstrebig vor, denn beiden Seiten schien von Anfang an klar zu sein, wohin die Reise geht. Die Matches scheinen irgendwie präziser, besser abgeklärt und die Absichten transparenter zu sein, als ich das aus den Tinder- und Bumbleerfahrungen meines anderen Umfeldes kenne.

Was Ehe ist, wie sie stattfinden soll und welche Art von Commitment erwartet wird, das alles scheint mir in diesem Heiratsmarkt unmissverständlicher und offener kommuniziert zu werden. Meine Arbeitskolleg:innen suchten ja auch nicht nach einer lockeren Beziehung, sondern nach Ehepartner:innen. Die Ernsthaftigkeit und Seriosität von beiden Seiten, das klare Ziel und die Transparenz ihrer Werte schienen ihnen nicht nur schmerzhafte Auseinandersetzungen zu ersparen, sondern auch sonst vieles zu vereinfachen. 

Im vorderen Teil des Raumes vor dem Sofa, wo die Braut sitzt, wird getanzt.

Im Vergleich mit meinem anderen Umfeld scheint mir diese Art und Weise des «Matchmakings» nicht nur erfolgreicher, sondern geradezu entlastend. Man ist nicht jahrelang zusammen, ohne zu wissen, ob das «wirklich was wird», hat keine Mühe, unangenehme Fragen nach Kinderwünschen zu stellen, obwohl man doch «keinen Druck» ausüben möchte. Zu wissen, wohin die Reise geht, macht vieles einfacher und geradliniger. 

Der Online-Heiratsmarkt geht über Landesgrenzen

Omair war nun seit einiger Zeit auf diesem Heiratsmarkt unterwegs und nicht fündig geworden. Und so ging er auch online auf die Suche. Auf «Muzz» finden sich Muslim:innen, wie man es von Bumble oder Tinder kennt. Muzz ist gemäss ihren eigenen Angaben die weltweit grösste Plattform für Muslim:innen, um einen «Match» für die Heirat oder auch für eine Freundschaft zu finden. Muzz wurde entwickelt, um Muslim:innen eine islamisch konforme (halale) Umgebung zu bieten, wo sie andere muslimische Menschen mit denselben religiösen Grundhaltungen ausfindig machen können. Das heisst, man läuft auf Muzz keine Gefahr, ungefragt Nacktbilder zu erhalten, und wenn man es möchte, können sogar Aufsichtspersonen für die Chats beigezogen werden. Religiöse Filter erlauben es, jemanden zu finden, der auch dieselben religiösen Vorstellungen vertritt. 

Er möchte seine Beziehung nach den Vorschriften des Korans leben.

Im Falle von Omair sind diese Vorstellungen durchaus tiefreligiös. Er möchte seine Beziehung nach den Vorschriften des Korans leben. Eine Beziehung ohne Heirat zu führen, ist für ihn nur sehr begrenzt möglich. Eine platonische Beziehung wäre in Ordnung, solange sie ohne jegliche Berührungen stattfindet. Auch andere Frauen berührt Omair nicht, was ich erst bei einer versuchten und gescheiterten Abschiedsumarmung, wie sie in meinem Umfeld unter Freunden üblich ist, herausfand. Also schon nach einer gewissen Zeit, in der unsere Freundschaft entstehen konnte. Andernfalls wäre ich wohl irritierter gewesen. Aber weil ich Omair kenne, kommen für mich die Deutungen dieser Handlung, wie man sie sonst in den Medien hört, gar nicht infrage. Ich denke nicht, dass Omair ein «veraltetes» Frauenbild hat, Frauen nicht respektiert, oder was man sonst so liest. Alle diese Deutungen erscheinen mir lächerlich, wenn ich meinen Freund Omair anschaue. Ich verstehe seine religiösen Gefühle, die ihn dazu bewegen, und respektiere sie. 

Omair und Khaoula sitzen auf dem Sofa auf der Bühne nach ihrem Einzug.

Nach einiger Zeit auf Muzz wurde Omair zusehends gelangweilt. Er fand niemanden, bei dem der Funke übersprang. Die Zahl an gut gebildeten jungen Musliminnen in der Schweiz, die seine Interessen und dieselben religiösen Vorstellungen wie er teilen, ist klein. Aus Jux dehnte er seinen Suchradius nach Tunesien aus. Es wäre ja auch gut und einfach, wenn er seine Heiratspläne irgendwann mal seiner Mutter offenbaren müsste, wenn die Frau aus Tunesien stammen würde. Er meinte, er wollte einfach mal schauen, welche lustigen oder komischen Figuren sich auf dem tunesischen Heiratsmarkt umtrieben. Und so fand er seine Frau. 

Zwei haben sich gefunden

Khaoula ist wie Omair ein grosser Anime-Fan. Zudem ist sie begeistert von koreanischen Serien und koreanischer Popmusik. Sie spricht sogar fliessend Koreanisch und wollte nach Südkorea studieren gehen, so gross ist ihre Faszination für die ostasiatischen Kulturen. Unterwegs in internationalen Firmen in Tunesien im Marketing-Bereich spricht sie fliessend Englisch. Als DJane ging sie in Tunesien ihrer Leidenschaft für Musik nach und trotz der räumlichen Distanz trafen sich Omair und Khaoula online in der Gaming-Welt, in der sie gerne ihre Freizeit verbrachten. Der Funke sprang also schnell und da auch ihnen beiden klar war, was sie wollten und suchten, fackelten sie nicht lange. In Omairs Antrag fehlte natürlich weder die Fantasy-Welt noch die gebührende Romantik. 

Und so wurde geheiratet. Zuerst standesamtlich in Tunesien und schliesslich, einige Monate später, mit einem Fest in der Heimatstadt von Khaoula. In der Zwischenzeit gleiste Omair die Formalitäten mit dem Schweizer Staat auf. Bis die Behörden die richtigen Informationen am richtigen Ort gebüschelt hatten, mussten sie einige Umwege gehen, was Omair den einen oder anderen Nerv kostete. Nach «nur» sechs Monaten war jedoch alles bereit für Khaoula. 

Bis zu diesem Punkt hatte Khaoula noch keinen Fuss in die Schweiz gesetzt. Sie war zwar dran, Deutsch zu lernen. Doch ihre Liebe für diese komplizierte Sprache liess noch auf sich warten. Omair machte sich auch Sorgen. Was, wenn es ihr in der Schweiz nicht gefällt? Wenn sie sich hier nie zuhause fühlt? Aber zu viel daran denken mochte er nicht. 

Die Hochzeit

Wir, meine gute Freundin Gina und ich, bogen auf eine ungepflasterte Strasse ein, die zu einem kleinen Parkplatz und schliesslich zum Treppenaufgang einer Eventhalle führte. Unser Fahrer war etwas unsicher. Ist es das? Wir hatten lediglich einen Punkt auf Googelmaps, keine Adresse, denn es war keine wirkliche Strasse, an der sich die Halle befand. Genauso unsicher, stiegen wir aus und guckten uns verwirrt um. Wir wussten nicht genau, was uns erwarten würde. Omair selbst war erst an einer tunesischen Hochzeit und kein Fan von grossen Menschenmengen oder lauter Musik. Diese Hochzeit fand so mehr für das tunesische Umfeld als für das Paar selbst statt und war stark zusammengestaucht. Er konnte mir vorab also nur wenig erzählen. Die Organisation der Hochzeit hatte er fast vollkommen aus der Hand gegeben und freute sich schon sehr auf den Moment, an dem sie vorbei sein würde. Zum Glück, meinte er, gehe die Hochzeit nur vier Stunden, wo doch tunesische Hochzeiten normalerweise gerne eine Woche andauern könnten.

Einige Männer luden ihre Frauen ab und sassen auf einer Bank auf der linken Seite des Treppenaufgangs zusammen. Die beigen Steintreppen wurden flankiert von Büschen, die im Sommer wahrscheinlich schöne Blüten getragen hätten. Der Ort hatte für mich etwas Griechisches mit hohen Säulen zur linken und rechten Seite des Halleneingangs und hübschen Bodenornamenten. Gleichzeitig wirkte er auf mich künstlich und zweckmässig, wie man es von Minigolfanlagen kennt. Da war das viel zu grelle Licht einer Neonröhre über der Einfahrt, die dünnen Scheiben der Halle, die Plastikstühle und -tische. 

Khaoula tanzt in Begleitung der Frauenband durch den Raum.

Da wir niemanden kannten, waren wir uns nicht sicher, ob wir tatsächlich am richtigen Ort angekommen waren. Einige Frauen sassen rund um die Tische und schliesslich begann eine Frauenband zu spielen. Die arabische Musik dröhnte so laut in unseren Ohren, dass es schmerzhaft war. Da sich auch Kinder unter den Hochzeitsgästen befanden, stellten wir im Laufe des Abends die These auf, dass alle Anwesenden einen erheblichen Ohrenschaden haben mussten, um diese Lautstärke ertragen zu können. Regelmässige Hochzeitsbesuche von klein auf – sie erschienen uns alle routinierte Hochzeitsgäste zu sein – hatten sicher ihre Spuren hinterlassen. Wir setzten uns in der Nähe des Ausgangs auf zwei Stühle, in der Hoffnung unsere Trommelfelle zu schonen, noch immer unsicher, was die Lokalität betraf. 

Über eine Stunde warteten wir, liessen die Musik durch unsere Knochen scheppern und beobachteten das immer dichterwerdende Gewusel an Frauen um uns herum. Die Frauen schienen die Lieder, die gespielt wurden, zu kennen. Sie sangen und klatschten mit. Manchmal standen sie aus ihren Stühlen auf und begannen vor Ort zu tanzen. Oder sie fanden sich, uns nicht-ersichtlichen Signalen folgend, im vorderen Teil des Raumes ein, um gemeinsam zu tanzen und verstreuten sich dann aus ebenso nicht-nachvollziehbaren Gründen wieder zu ihren Sitzplätzen. Jede sass, wo es ihr gerade passte. Stühle und Tische wurden verschoben und neu angeordnet. An einer Schweizer Hochzeit mit fester Sitzordnung unvorstellbar.

Und noch überraschter war ich, als sich die Miniröcke und die Maxikleider beim Tanzen zusammenfanden und ganz harmonisch auf und ab wippten. 

Im Kleidungsstil der Frauen taten sich einige Kontraste auf. Von maximalen Maxikleidern inklusive des Kopftuchs bis zu Miniröcken und wallenden Mähnen sahen wir alles in einem friedlichen Miteinander beisammen. Ich hatte in Absprache mit Omair ein knöchellanges Kleid, das insbesondere auch meine Schultern bedeckte, gewählt. Und so war ich einigermassen überrascht über die Freizügigkeit einiger Frauen. Und noch überraschter war ich, als sich die Miniröcke und die Maxikleider beim Tanzen zusammenfanden und ganz harmonisch auf und ab wippten. 

Nach einer Stunde des Wartens trafen Braut und Bräutigam ein. Sie in einem weissen, wallenden Kleid und einem weissen Kopftuch, er in einem adretten Anzug. Begleitet von Trommeln und dem trillernden Ruf der tunesischen Frauen traten sie in die Halle ein und schritten langsam in Richtung Bühne. Auf der Bühne befand sich vor einer Wand, vollkommen bedeckt von Plastikrosen, ein weisses Sofa, auf das sich die Braut setzte. Kurz wurde etwas auf arabisch zum Paar gesagt, für mich leider unverständlich. Danach wurde im Wesentlichen getanzt. Die Braut sass dabei auf dem weissen Sofa und nacheinander betraten verschiedene Gästegruppen die Bühne und schossen ihre Erinnerungsfotos. Zwischendurch tanzte die Braut im vorderen Teil des Raumes mit den anderen Frauen. Männer waren in der Halle grösstenteils abwesend. 

Omair erzählte mir, dass Hochzeiten in diesem Teil von Tunesien Frauensache seien. Die Männer würden entweder draussen warten oder ihre Frauen sogar nur zur Hochzeit fahren und wieder abholen. Gegen Ende der Hochzeit, aufgrund der Winterzeit war das schon gegen 8 Uhr abends, betraten die jungen Herren um den Bräutigam den Saal. Die meisten davon waren aus der Schweiz angereist. Sie machten ebenfalls Fotos mit der Braut und begannen auf der Bühne zu tanzen, hoben den Bräutigam in die Luft und erlaubten sich den einen oder anderen Scherz. Ich bin mir nicht sicher, ob eine solche Szene an einer rein tunesischen Hochzeit in dieser Region zum typischen Ablauf gehören würde. 

Zu essen gab es an der Hochzeit nur wenig. Es wurden kleine Böxchen mit Snacks und einem Süssgetränk verteilt. Für einige Gäste war das Erhalten der Boxen denn auch das Signal, die Hochzeit wieder zu verlassen. Omair erklärte mir, dass man in dieser Region von Tunesien auch aus Repräsentationszwecken zu Hochzeiten gehen musste, auch wenn man eigentlich lieber zuhause geblieben wäre. Man sei also nicht gezwungen bis zum Schluss zu bleiben, sondern müsse sich einfach zeigen. Was für mich also unvorstellbar gewesen wäre – das Verlassen der Hochzeit nach dem Essen, als wäre man nur dafür gekommen –, schien hier niemanden zu stören.

Ein Mischwerk

Als Religionswissenschaftlerin habe ich mich gefragt, was da in Tunesien an diesem Abend genau passiert ist. Denn das war keine «typische» Hochzeit, wie man sie sonst in diesen Teilen des Landes feiert. Es war ein Mischwerk, ein Versuch, zwischen verschiedenen Kulturen ein Ritual auszuhandeln, mit dem alle Seiten leben konnten. Menschen brauchen Rituale unter anderem, um bestimmte Ereignisse in ihrem Leben in das Kontinuum ihres Lebensablaufes einzuarbeiten. Wenn Ereignisse grosse Veränderungen mit sich bringen oder wichtige Stationen im Leben markieren, fühlen sie sich an wie Brüche im Leben. Rituale helfen hier, Übergänge zu schaffen und die Brüche zu glätten. 

Auch wir mussten noch ein Bild mit dem Brautpaar machen.

Normalerweise widerspiegeln Rituale gesellschaftliche Konventionen. Sie machen diese fassbar und für alle beteiligten erlebbar. Auch die an unsere heutigen Konventionen angepassten Rituale an den Hochzeiten meiner Freunde in der Schweiz widerspiegeln ihre Vorstellungen von der Welt, der Gesellschaft, Beziehungen und so weiter. Und diese Rituale werden in ihrem kulturellen Kontext verstanden oder eben nicht (mehr) verstanden. Wir können uns mit ihnen identifizieren, wenn sie unsere Vorstellungen und Normen widerspiegeln. 

Wie soll also eine Hochzeit zwischen einer jungen Tunesierin, Khaoula – Anime-Fan, internationale Marketingspezialistin, Gamerin, Kulturliebhaberin, DJane – und Omair, einem jungen Schweizer mit tunesischen Eltern, einem Philosophen im Herzen und doch in der Realität Juristen, einem nerdigen, interessierten, romantischen Muslim, aussehen? Sie ist ein individuelles Mischwerk, eine Aushandlung zwischen Identitäten und Kulturen.  

Omair hat sich während der ganzen Hochzeit mehrheitlich draussen aufgehalten, im Versuch, diesem Trubel und der lauten Musik zu entfliehen. Mir schien es, dass ihm all das genauso unbekannt war wie mir. Seine Identität und Vorstellungen spiegelten sich in der Hochzeit vor allem in ihrer Kürzung, seinen Fluchtversuchen, seinem sich Raushalten aus der Organisation, seinen Verhandlungen mit der Schwiegermutter über die Gästezahl, seinem Akzeptieren, dass ein Fest erwartet wurde. An diesem Abend begegnete nicht nur ich einer anderen Kultur, sondern auch Omair. 


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Autor

  • Rafaela Estermann

    Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch ||| Rafaela Estermann ist Religionswissenschaftlerin und die Redaktionsleitung von religion.ch. Ihre Schwerpunkte sind Nicht-Religion, Säkularität und der Diskurs über Religion und den Islam in der Schweiz. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Zürich in einem Forschungsprojekt (MORE) zum Religionsunterricht über den Islam in verschiedenen Religionsunterrichtsmodellen in der Schweiz, Deutschland und Österreich.

0 Gedanken zu „Matchmaking zwischen Tunesien und der Schweiz

  • Cajtinovic Sinan sagt:

    Guten Tag,
    Ich hätte eine neue Story für Sie!
    Warum heiratet jeder zweite Schweizer-Eidgenosse eine Frau aus den Fernosten wie Thailand, China Philippinen. Oder auch aus Südamerika wie Brazilien, Kolumbien, Kuba,etc.
    Ist das Liebe oder Menschenhandel?
    Kennen diese Frauen die Schweizerkultur oder Werte?

    Warum heiratet jeder zweite Schweizerin einen Afrikaner oder Lateinamerikaner, oder einen EU-Südländer?

    Freue mich auf den Bericht!
    Freundlich Grüsse
    S.Cajtinovic

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