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Karénina Kollmar-Paulenz

Vom Ritual zum Achtsamkeitstraining: Die neue Diversität des tibetischen Buddhismus in der Schweiz

Seit der tibetische Buddhismus mit den ersten Migrant:innen in die Schweiz kam, hat sich viel verändert. Waren es früher Rituale, welche den Alltag der Tibeter:innen prägten, sind es heute Meditation und die Lehren des Buddhas. Die Diversität der tibetisch-buddhistischen Menschen in der Schweiz nimmt zu und die Religiosität wird immer individueller.

Vor kurzem erzählte mir eine junge Tibeterin, seit sie sich vertieft mit dem tibetischen Buddhismus auseinandersetze, würde sie sich häufig mit ihrer Grossmutter intensiv über die buddhistische Meditation und ihre philosophischen Hintergründe austauschen. Das hat mich sehr überrascht, denn gerade unter Tibeterinnen und Tibetern der ersten und der dritten Generation tun sich in Bezug auf ihre buddhistische Praxis und auch hinsichtlich ihres Verständnisses, was denn nun den Buddhismus überhaupt ausmache, oft genug breite Gräben auf. Die Tibeterinnen und Tibeter der ersten Generation, die vor mehr als 60 Jahren im Erwachsenenalter in die Schweiz kamen, wuchsen noch in Tibet auf und hatten dort den Buddhismus als selbstverständlichen Teil ihrer Alltagsrealität erfahren. 

Tibetischer Buddhismus: Rituale im Alltag

In seinen Herkunftsregionen, Tibet und den Himalayaländern, zeichnet sich der tibetische Buddhismus vor allem durch seine vielen Rituale aus, die auch heute noch den Alltag prägen. Man beginnt den Tag, indem man auf dem Hausaltar die Butterlämpchen anzündet, etwas Weihrauch verbrennt und sich in einem Bittgebet an den Buddha, oft aber auch an die persönliche Schutzgottheit richtet.

Muss man verreisen, bringt man kleine Opfergaben an Wegschreinen dar, oft an diverse Lokalgottheiten, die auch im heutigen buddhistischen Alltagsleben in Asien eine wichtige Rolle spielen. Man besucht Tempel, um von Mönchen Gebete für das Wohlergehen der Familie oder das Gelingen einer Prüfung lesen zu lassen. Und natürlich feiert man die buddhistischen Festtage. Letztere werden auch im Exil, in der Schweiz und anderswo, ausgiebig begangen. Diese Feste sind für die kulturelle Identität der Tibeterinnen und Tibeter sehr wichtig, und sie sind sicherlich die Anlässe, die Alt und Jung in der Diaspora vereinen.

Die traditionellen Ritualpraktiken hingegen, die für die ältere Generation sehr wichtig sind, betrachten junge Tibeterinnen und Tibeter eher mit Unverständnis und sehen sie oft als überholt und nicht mehr zeitgemäss an.

Tibeter:innen wollen heute Meditation lernen

Noch vor 60 Jahren war es sehr ungewöhnlich, wenn eine Laienbuddhistin meditierte oder gar philosophische Unterweisungen über buddhistische Lehren besuchte. Daher war ich so erstaunt, als ich hörte, dass auch ältere Tibeterinnen ein aktives Interesse an der Meditationspraxis zeigen, einer Praxis, die traditionell den Mönchen in den Klöstern offen stand, von der Laien aber früher ausgeschlossen waren. 

Für junge Tibeterinnen und Tibeter, die sich als BuddhistInnen identifizieren und ihren Glauben aktiv gestalten, gehört die Meditation heute zum religiösen Alltag.

Dass sich heute zunehmend auch ältere Tibeterinnen und Tibeter für Meditationspraktiken und buddhistische Belehrungen interessieren, liegt sicherlich am 14. Dalai Lama, der bis vor wenigen Jahren regelmässig buddhistische Belehrungen in der Schweiz hielt, an denen die tibetische Diaspora regen Anteil nahm. Für junge Tibeterinnen und Tibeter, die sich als Buddhist:innen identifizieren und ihren Glauben aktiv gestalten, gehört die Meditation heute zum religiösen Alltag.

Der tibetische Buddhismus in der Schweiz ist heute diverser

Der tibetische Buddhismus hat sich geändert, beziehungsweise vielleicht nicht so sehr der Buddhismus selbst, aber die buddhistische Praxis oder das, was tibetische Buddhistinnen und Buddhisten in ihrem religiösen Leben für wichtig erachten. Die Praxis ist diverser geworden. Waren es früher noch die vielen Rituale, in denen die Lamas, die tibetischen Mönche, eine wichtige Rolle einnahmen, die den Alltag der Menschen begleiteten, sind es heute Fragen der richtigen Lebensführung, die ins Zentrum rücken. Wie gestalte ich mein Leben? Welche Werte verfolge ich? Wie kann ich die wichtigste buddhistische Tugend, das Mitgefühl, im Alltag adäquat umsetzen? 

Beim Besuch des Dalai Lama im Tibet-Institut in Rikon (Schweiz/ZH). Hier: Mönche warten mit anderen auf die S-Bahn in Rikon. Im zürcherichen Rikon steht das Klösterliche Tibet-Institut, das in den 60er Jahren auf den Wunsch und unter der Schirmherrschaft des Dalai Lama gegründet wurde. © Vera Rüttimann

Heute leben in der Schweiz mindestens 8000 Menschen, die einen tibetischen ethnischen Hintergrund haben. Neben den «alteingesessenen» Tibeterinnen und Tibetern, die seit den 60er Jahren in mehreren Wellen ins Land gekommen sind, kommen seit den 2000er Jahren vermehrt Asylsuchende aus der Tibetischen Autonomen Region zu uns, die heute einen Teil der Volksrepublik China bildet und immer wieder starken Repressalien ausgesetzt ist. So vielfältig wie die Herkunft der Menschen, so vielfältig ist auch ihre Religiosität, obwohl sich die meisten von ihnen als Buddhistinnen und Buddhisten verstehen. 

Tibet Institut Rikon als Ort der buddhistischen Lehre

Für die religiösen Belange der tibetischen Menschen in der Schweiz ist das klösterliche Tibet-Institut Rikon zuständig. Es wurde 1968 gegründet. Heute leben dort neun Mönche unterschiedlicher tibetisch-buddhistischer Schulen. In Rikon wird deutlich, wie sehr sich die Religiosität der Tibeterinnen und Tibeter im Exil geändert hat. An hohen tibetischen Feiertagen, so beispielsweise zum Neujahrsfest (nach dem tibetischen Mondkalender meistens im Februar) oder zu Sakha Dawa, an dem die drei wichtigsten Ereignisse im Leben des historischen Buddhas – seine Geburt, seine Erleuchtung, und sein endgültiges Nirvana – begangen werden, besuchen viele Menschen das Kloster. Ebenfalls werden die Dienste der Mönche in Anspruch genommen, wenn es um Beerdigungen geht. Sie werden alle nach Möglichkeit in traditioneller tibetisch-buddhistischer Manier begangen. 

Stattdessen wird der Buddhismus mehr als rationale Philosophie denn als Religion präsentiert.

Aber das Tibet-Institut in Rikon bietet inzwischen viel mehr als Rituale an: Regelmässig finden Einführungen in die tibetische Meditationspraxis statt. Man kann dort verschiedene Meditationstechniken lernen und es werden Belehrungen zu unterschiedlichen buddhistischen Themen angeboten. Für die nachwachsende Generation finden Einführungsveranstaltungen in den Buddhismus statt, die gar nichts mehr mit dem rituell geprägten Buddhismus zu tun haben, die diese Religion noch vor siebzig Jahren in Tibet geprägt hatte. Stattdessen wird der Buddhismus mehr als rationale Philosophie denn als Religion präsentiert. Eine wichtige Rolle spielt der Buddhismus auch als Lebenshilfe, so zum Beispiel das angebotene Achtsamkeitstraining, das hilft, den Alltag zu bewältigen.

Vom Dalai Lama über Ethik lernen

Ein ganz neues, erst in den letzten beiden Jahren eingeführtes Angebot stösst auf reges Interesse vor allem bei den Jugendlichen: das sogenannte «SEE Learning», «soziales, emotionales und ethisches Lernen». Die US-amerikanischen Emory-Universität entwickelte dieses Bildungsprogramm in enger Zusammenarbeit mit dem 14. Dalai Lama. Es handelt sich um ein säkulares Ethikangebot. Die Teilnehmenden können damit menschliche Grundwerte gezielt kultivieren. 

Im Mittelpunkt steht das Mitgefühl, das als zentraler ethischer Wert im tibetischen Buddhismus gilt und im religiösen Alltag eine wichtige Rolle spielt. Auch im Schlussbericht einer Untersuchung zur buddhistischen Identität der Zweit- und Drittgeneration tibetischer Migrantinnen und Migranten in der Schweiz, die an der Universität Bern durchgeführt wurde, wird die Bedeutung des Mitgefühls für das Bewusstsein dieser jüngeren tibetischen Generation hervorgehoben.

Dieser neue buddhistische Weg führt vom kollektiven Erleben in der Gemeinschaft hin zu einer individuell geprägten Religiosität.

Mitgefühl, individuelle Meditationspraktiken, Lebenshilfe bis hin zu einer säkularen Ethik – dies alles sind Indizien, dass sich innerhalb der tibetischen buddhistischen Gemeinschaft in der Schweiz ein grundlegender Wandel vollzogen hat – weg von einem rituell geprägten hin zu einem eher intellektuell geprägten Buddhismus. Dieser neue buddhistische Weg führt vom kollektiven Erleben in der Gemeinschaft hin zu einer individuell geprägten Religiosität.

Der tibetische Buddhismus in der Schweiz wird individueller

Die Tendenz zur Individualisierung lässt sich auch in einer weiteren Entwicklung feststellen: Die tibetisch-buddhistische Schulzugehörigkeit spielte im traditionellen Tibet eine wichtige Rolle in der Identifikation der Menschen mit ihrer Gemeinschaft. Bei der ersten Generation der tibetischen Migrantinnen und Migranten war diese Frage noch enorm wichtig, wenn es beispielsweise ums Heiraten ging. Heute ist die Schulzugehörigkeit stark in den Hintergrund gerückt, und, wie die Berner Untersuchung gezeigt hat, viele Tibeterinnen und Tibeter der dritten Generation wissen oft gar nicht mehr, welcher tibetisch-buddhistischen Schule ihre Familie ursprünglich angehörte.

Die Tradition selbst im Sinne von ohne Nachdenken ausgeführten rituellen Handlungen, wie zum Beispiel das Niederwerfen vor Statuen des Buddha, wird vermehrt hinterfragt, auch wenn diese Handlungen meistens noch durchgeführt werden. Aber die kritische Reflektion auf den traditionellen Buddhismus der älteren Generation steht oft im Vordergrund.

Heute zeigt der tibetische Buddhismus in der Schweiz ein sehr vielfältiges Gesicht. Diese in den letzten Jahrzehnten herausgebildete Diversität hat aber nicht zu grösseren Konflikten zwischen den Generationen geführt, sondern, wie mir die junge Tibeterin vor Augen geführt hat, mitunter sogar zu einer Annäherung. Heute wird über Religion gesprochen, sie ist nicht mehr unhinterfragter Bestandteil einer gelebten Tradition. Die Diversität wird so zu einer Bereicherung und zeigt die Lebendigkeit der tibetischen Diaspora.


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Autor

  • Karénina Kollmar-Paulenz

    Professorin für Religionswissenschaft und Zentralasiatische Kulturwissenschaft an der Universität Bern ||| Karénina Kollmar-Paulenz ist Professorin für Religionswissenschaft und Zentralasiatische Kulturwissenschaft an der Universität Bern. Einer ihrer Lehr- und Forschungsschwerpunkte ist der Buddhismus in Tibet und in der tibetischen Diaspora in der Schweiz.

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