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Simone Horstmann

Religiöse Gewalt an Tieren

Tierschutz ist noch nicht im religiösen Mainstream angekommen. Das Christentum, Judentum und der Islam enthalten nicht nur Elemente ritueller Gewalt, sondern haben auch zur Abwertung von Tierleben beigetragen. Anhänger:innen dieser Religionen müssen sich endlich dem Gewaltpotential der eigenen Religion stellen, um es zu überwinden.

Manchmal frage ich mich im Stillen, was Tiere wohl zum Stichwort «Religion» zu berichten hätten. Vielleicht sollten wir sie einfach danach fragen. Ist die Begegnung mit Religion etwas, das ihnen schadet, oder etwas, das merklich Gutes für sie bereithält?

Wenn ich dazu die sechs Hühner interviewen würde, die in meinem Garten leben, seitdem ich sie aus einer industriellen Bodenhaltung gerettet habe, dann würden sie mir vielleicht Folgendes antworten – etwas harsch und direkt, aber so sind Hühner nun einmal: «Bleibt uns bloß vom Leib mit eurer Religion, liebe Menschen! Schlimm genug, dass ihr euch dank eurer Religion tatsächlich einbildet, eure eigene Spezies sei so unendlich wichtiger als alle anderen… aber dass ihr uns und so viele andere Tiere wie Sklaven haltet, uns einsperrt, uns unsere Kinder wegnehmt, und uns schließlich grausam – oder wie ihr es nennt: ‹human› – tötet und auch noch meint, all dies mit eurem Gott begründen zu können, der ja angeblich ‹die Liebe›, ‹die Barmherzigkeit› oder ‹die Gerechtigkeit› sein soll – das ist doch wirklich die Spitze der Verblendung. Wenn ihr also wirklich wissen wollt, was ich davon halte, dann sage ich es gerne: Religion – pfui Teufel!»

Nun, ich sagte ja, dass Hühner sehr direkt sein können. Der Punkt ist allerdings, dass sie mit ihrer Kritik nicht grundsätzlich falsch liegen. Wenn man Religion ausnahmsweise einmal nicht aus der immer schon gewohnten menschlichen Perspektive betrachtet, sondern die Perspektive anderer Tiere zugrunde legt, dann zeigt sich ein anderes Bild als die gewohnte Vorstellung von den freundlichen, zugewandten und friedlichen Religionen. Insbesondere die monotheistischen Religionen, um die es im Folgenden ausschließlich geht, verbindet zumindest in ihrem Mainstream ein Konsens über die religiös legitimierte Gewalt an Tieren. Direkt quälen soll man Tiere selbstverständlich nicht – aber gegen die grundsätzliche «Nutzung» von Tieren und gegen ihre Tötung vernimmt man so gut wie keine religiöse Widerrede. Keine dieser Religionen hat es zustande gebracht, sich grundlegend von dieser Gewalt zu distanzieren. Bestenfalls werden minimalste Tierschutz-Standards oder technische Hinweise zum Ablauf der Tiertötung religiös debattiert. 

Keine Absage an die Tötungsindustrie der Moderne

Selbst dort, wo es heute offensichtlicher denn je ist, dass beispielsweise der Verzehr von Tieren ernährungsphysiologisch unnötig ist, gelingt es den Religionen nicht, diese Erkenntnisse in ihre religiösen Binnendiskurse einzubeziehen: Ein bisschen mehr «Bio», etwas mehr «Nachhaltigkeit» und ein diffuses Plädoyer für mehr «Umweltschutz» werden zwar goutiert – aber eine Absage an die Tötungsindustrien der Moderne vernimmt man nicht. 

Wer heute den Finger in die Wunde legen will und diese Gewalt auch nur als solche benennt, muss schon damit rechnen, als Nestbeschmutzer:in verunglimpft zu werden. 

Natürlich kann man dem entgegnen, dass es Bewegungen gibt, die sich auch aus einem religiösen Selbstverständnis heraus für die Anerkennung von Tieren und beispielsweise für eine vegane Ernährung einsetzen. Aber wie marginal sind diese Gruppierungen gemessen am religiösen Mainstream? Auf welch erbitterten und eingefleischten Widerstand treffen diese Stimmen, die dazu aufrufen, Gewalt an Tieren endlich zu überwinden? Welche Gewalt begegnet denen, die Gewalt binnenreligiös diagnostizieren? Wer heute den Finger in die Wunde legen will und diese Gewalt auch nur als solche benennt, muss schon damit rechnen, als Nestbeschmutzer:in (als Tier also, wie die Metapher verrät) verunglimpft zu werden. 

Zumutungsschwer und regelrecht religionsfeindlich erscheint vielen die Einsicht, dass es genuin religiöse Gewalt an Tieren überhaupt geben könnte. Dieser Eindruck ist sachlich ebenso absurd wie emotional nachvollziehbar: Niemand möchte die eigene Religion als Quelle von Gewalt begreifen, und dieses Ansinnen ist zweifellos richtig und wichtig.

Gewaltpotentiale in der Religion erkennen

Die Sache ist allerdings komplizierter. Damit nämlich die eigene Religion nicht als Quelle von Gewalt fungieren kann, ist es gerade wichtig, systematisch damit zu rechnen, dass sie sehr wohl Gewaltpotentiale enthält. Darin steckt also eine Paradoxie: Man muss Gewalt sichtbar machen, sie mitunter suchen, erkennen und benennen können, um sie zu überwinden. Friedlich sind Religionen nur dann, wenn sie außerordentlich sensibel für jedwede Gewalt werden. Wer Gewalt – sei es an Menschen oder an anderen Tieren – beenden will, muss sie deswegen zunächst ganz bewusst suchen. 

Es muss daher ein grundlegendes Eigeninteresse von Religionen an ihren eigenen Gewaltpotentialen geben. Dort, wo hingegen lediglich miesepetrig auf jede Kritik reagiert wird, die dann am besten noch reflexhaft als häretisch oder religionsfeindlich zurückgewiesen wird, kann ein solches Selbstaufklärungsintereresse nicht unterstellt werden. So werden Religionen sich selbst und anderen zum Problem.

© Julia Del Negro

Der eigentliche Skandal

Ein Bewusstsein für die Gewaltpotentiale von Religion wird leider allzu oft noch immer überlagert von Versuchen, Religion zu entschuldigen und wortreich zu erklären, warum die jeweilige Gewalt «nicht so gemeint», «eigentlich nicht so schlimm», «ganz natürlich» oder einfach «notwendig» sei. Häufig kann man beobachten, dass gerade das Stichwort «Massentierhaltung» die Funktion hat, religiös-goutierte Formen der Tiertötung zu entschuldigen und als die «bessere Alternative» zu verkaufen.

Das Problem ist aber nicht, dass religiös-favorisierte Formen der Tierhaltung/-tötung nicht dem Schema der «Massentierhaltung» entsprechen. Dass Religionen überhaupt das Töten von Tieren gutheißen und dazu aufrufen, ist der eigentliche Skandal. Der apologetische Modus geht aber meistens schnell darüber hinweg und verweist auf den beliebten Prügelknaben «Massentierhaltung», um die eigene Schuld zu übertünchen. 

Man wird von theologisch gebildeten Menschen erwarten dürfen, dass sie ihre Religion (und damit vor allem sich selbst) nicht permanent entschuldigen. Ein solcher Gestus entmündigt Religion und religiöse Menschen letztlich in einer Weise, die sie zugleich davon abhält, wirkliche Verantwortung zu übernehmen. Dort, wo Religion verwendet wird, um die eigenen Entscheidungen mit Verweis auf autoritative religiöse Normen oder Texte zu entschuldigen, sollte dieser Gestus auf berechtigtes Misstrauen und durchaus auch auf politischen Gegenwind treffen. 

Ich wünsche mir deswegen religiöse Diskurse, die sich nicht auf reaktionäre und zumeist weinerliche Apologien beschränken, mit denen sie sich vor jedweder noch so berechtigten Kritik abschotten. Im Gegenteil, sie sollten diese Kritik religionsproduktiv aufgreifen. Und also aus ihren Fehlern lernen können und wollen, und tatsächlich einen Gestaltungsanspruch gegenüber ihrer Religion haben. 

Drei Formen religiöser Gewalt

Was also gäbe es zu sehen, wenn die monotheistischen Religionen bereit wären, das Phänomen religiöser Gewalt an Tieren tatsächlich als solches zu erkennen und es nicht gleich apologetisch vom Tisch zu wischen? Zunächst einmal wird man erkennen, dass es nicht die eine Form religiöser Gewalt an Tieren gibt. Mir scheint zur besseren Differenzierung ein dreiteiliges Schema hilfreich. Religiöse Gewalt kann zunächst auftreten in ritueller Form, also immer dann, wenn es um die Opferung oder rituelle Tötung von Tieren geht. Es ist unstrittig, dass diese mit entsetzlichem Leiden, Panik und Todesangst verbunden sind. 

Die Logik ist dabei stets, dass das Sterben von Tieren notwendig sei, um menschliches Leben zu schützen, zu bewahren, gar zu erlösen.

Mindestens ebenso wichtig ist aber auch eine weitere Dimension religiöser Gewalt an Tieren, die als Deutungsgewalt beschrieben werden könnte. Sie bezeichnet all jene Formen der Abwertung von Tieren, die dazu beigetragen haben, dass das Leben von Tieren nahezu bedeutungslos geworden ist. Die christliche Tendenz etwa, Tieren eine ewigkeitsfähige Seele abzusprechen, was sie zu ausbeutbaren und minderwertigen Wesen hat werden lassen, kann unter diese Kategorie gefasst werden.

Was diese beiden Formen der Gewalt gemeinsam haben, bringt schließlich eine dritte Kategorie zum Ausdruck. Religiöse Gewalt an Tieren hat eine biopolitische Form, das heißt: sie geht mit dem Versprechen einher, menschliches Leben zu steigern. Abrahams Entscheidung dafür, statt seines Sohnes einen Schafsbock zu opfern – eine Erzählung, auf die sich alle monotheistischen Religionen beziehen – kann als Grundnarrativ dieser biopolitischen Seite religiöser Gewalt an Tieren gelten. 

Die Logik ist dabei stets, dass das Sterben von Tieren notwendig sei, um menschliches Leben zu schützen, zu bewahren, gar zu erlösen. Von allen Formen religiöser Gewalt an Tieren ist diese biopolitische Ebene vielleicht am tiefsten in das kollektive religiöse Unterbewusstsein eingesickert: Stets setzt man voraus, dass menschliches Gedeihen das Sterben der Tiere notwendig braucht. Heute, im Anthropozän, zeigt sich deutlicher als je zuvor, wie fatal und schlichtweg falsch dieses Menschenbild ist, welche desaströsen Folgen auch das Schweigen der Religionen zur Gewalt an Tieren hat. 

Wir wissen heute: Eine gemeinsame Zukunft für den Menschen gibt es nur mit den Tieren – nicht mit «Versuchs-» oder «Nutztieren», sondern mit anderen Tieren, deren Leben ebenso bedeutungsvoll und gottgewollt ist wie das Leben von menschlichen Individuen.


Literatur

Simone Horstmann (Hg.): Religiöse Gewalt an Tieren. Interdisziplinäre Diagnosen zum Verhältnis von Religion, Speziesismus und Gewalt, Bielefeld: transcript 2021.

Simone Horstmann: Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? Eine theologische Spurensuche, Regensburg: Pustet 2020.

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Autor

  • Simone Horstmann

    Postdoc an der TU Dortmund im Fachbereich Katholische Theologie ||| Simone Horstmann ist Postdoc an der TU Dortmund im Fachbereich Katholische Theologie. Sie arbeitet zu den Themenfeldern Tierethik, postanthropozentrische Theologie und den Phänomenen religiöser Gewalt an Tieren. Zudem ist sie Gründungsmitglied des European Research Network «Transcending Species – Transforming Religion», das sich gegen einen religiös-imprägnierten Speziesismus einsetzt.

0 Gedanken zu „Religiöse Gewalt an Tieren

  • Capelli Paolo sagt:

    Ein sehr interessanter und aufschlussreicher Beitrag, herzlichen Dank! Die Perspektive des Tiers und die Frage Tierethik sind bislang viel zu wenig im religiösen und theologischen Diskurs erschienen und so viel ich weiss, noch weniger bis zur selbstkritischen Reflexion der sakralen Praxis vorgedrungen. So wie die Gesellschaft ihren Umgang mit Tieren stets überprüfen muss, haben auch die Religionen die Aufgabe, die Zusammenhänge von Macht, Gewalt und Missbrauch auch in Bezug auf den Umgang mit Tieren aufzuzeigen und schliesslich ihre grundlegende anthropozentrische Sichtweise zu überdenken.

  • Was für ein klarer, mutiger Text! Vielleicht hätten einige griffige Beispiele, etwa Hubertusmessen, betäubungslose Schlachtungen, oder Erntedankgottesdienste, in denen den Bauern(!) unkritisch für die Bereitstellung von Lebensmitteln gedankt wird, den Text noch griffiger – indes wahrscheinlich auch kontroverser – gemacht. Aber letztlich sind dies ja nur saliente Auswüchse der von der Autorin sehr schön herausgestellten Gundhaltung gegenüber unseren Mitwesen, die es zu ändern gilt.

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