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Christoph Ammann

Tiere als Mitgeschöpfe – Tierethik aus christlicher Sicht

Der Mensch als Ebenbild Gottes und Krone der Schöpfung: Dies ist eine Deutung der Bibel, mit der die Ungleichbehandlung von Menschen und Tieren begründet wird. Ebenbild Gottes ist der Mensch jedoch nicht einfach, er soll sich vielmehr als dieses erweisen – Ebenbild jenes Gottes, der Liebe ist und dessen Liebe keine Grenzen kennt. Auch nicht vor Tieren.

Ethik ist eine normative Disziplin. Sie interessiert sich weniger dafür, was ist, als dafür, was sein soll. Das gilt auch für die Tierethik, und natürlich auch für ein tierethisches Nachdenken in christlicher Perspektive. Dieses nimmt nicht in den Blick, wie Christinnen und Christen faktisch Tiere behandeln, sondern versucht zu explizieren, welche Konturen die Beziehung von Menschen zu Tieren annehmen sollte, und an welchen Leitbegriffen und Idealen Christ:innen ihre Wahrnehmung von Tieren ausrichten sollten. 

Der Begriff der Wahrnehmung ist dabei von besonderer Bedeutung, denn das Christentum wird hier nicht als eine Theorie verstanden, sondern als etwas wesentlich Praktisches: als eine bestimmte Art und Weise zu leben, als ein bestimmtes Verständnis von sich selbst, anderer Menschen und der Welt um eine:n herum. Einige der zentralen Begriffe, die diese Wahrnehmung leiten und das Leben von Christ:innen orientieren, sollen im Folgenden expliziert werden.

Geschöpf unter Geschöpfen

Der erste Zentralbegriff, der hier verdeutlicht werden soll, ist jener von Tieren als «Mitgeschöpfen». Dieser Begriff ist in biblischen Geschichten wie dem ersten Schöpfungsbericht in Genesis 1 verankert und ist für das Selbstverständnis von Menschen, die sich als Christ:innen verstehen, prägend. Der Mensch, der sich über seine «Umwelt» Gedanken macht, sieht sich selbst genauso wie alles, das ist, im Horizont des schöpferischen und guten Handelns Gottes. «Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen.» Mit diesen Worten beginnt Martin Luther denn auch die Erläuterung des christlichen Bekenntnisses in seinem Kleinen Katechismus. 

Als wesentlich leiblich existierendes Geschöpf ist der Mensch verletzlich und sterblich – wie andere Tiere auch. 

Dieser Punkt ist so basal wie bedeutsam: Die grundlegendste ontologische Aussage über den Menschen in theologischer Perspektive ist, dass er nicht Schöpfer, sondern Geschöpf unter anderen Geschöpfen ist. Er ist bedürftig, lebt im ständigen Austausch mit seiner Umwelt und ist zu seinem Überleben auf Nahrung genauso angewiesen wie auf Luft und auf die Fürsorge vor allem seiner engsten Bezugspersonen. Als wesentlich leiblich existierendes Geschöpf ist er verletzlich und sterblich – wie andere Tiere auch. 

Verletzliches, sterbliches Wesen

Der reformierte englische Theologe Colin Gunton spricht von der «ontologischen Homogenität» der Schöpfung, ein für die Antike äusserst bemerkenswertes anti-dualistisches Konzept. Der Mensch ist als leibliches Wesen Geschöpf, gutes Geschöpf. Jede Abwertung des Körperlichen gegenüber dem Geistigen ist damit abgelehnt. Der Mensch gehört nicht einer höheren ontologischen Sphäre an als die anderen Geschöpfe. Er lebt als verletzliches, sterbliches Wesen unter anderen verletzlichen Kreaturen.

Um diese Verbundenheit mit den anderen Geschöpfen sollen Christ:innen nicht nur wissen, sie sollen sie auch empfinden und aus ihr heraus handeln. Mit der französischen Philosophin Corine Pelluchon, der es wie mir um eine (in ihrem Fall nicht-theologische) Ethik geht, «die tief an das rührt, was uns mit den anderen Lebewesen verbindet» (Ethik der Wertschätzung, 143), ist auf die besondere Rolle hinzuweisen, die dabei dem Mitleid zukommt. «Das Mitleid aktiviert das Band, das zwischen jedem von uns und den anderen fühlenden Wesen besteht […]»), schreibt Pelluchon (ebd., 145). Die Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit ist für Pelluchon «der Schlüssel, um für die anderen fühlenden Lebewesen, Wertschätzung aufzubringen.» (ebd., 125). 

Dieser Primat der Verwundbarkeit – der Einsicht in die eigene Verwundbarkeit und des Sensibelseins für die Verwundbarkeit der anderen – konvergiert mit einer christlichen Ethik, wie ich sie verstehe. Um das in der nötigen Tiefe zu explizieren, ist es aber nötig, die Perspektive der Mitgeschöpflichkeit mit dem christlichen Begriff der Liebe in Verbindung zu bringen.

Nächstenliebe ist nicht auf Menschen begrenzt

Dass der Begriff der Liebe für die christliche Ethik zentral ist, werden wohl nur Unkundige bestreiten. Die Einstellung der Nächstenliebe wird aber sehr häufig nur auf mitmenschliche Andere bezogen. Diese Begrenzung widerspricht aber, wie ich nun zeigen möchte, dem Geist einer der zentralen ethischen Erzählungen des Neuen Testaments: dem Gleichnis vom sogenannten «barmherzigen Samariter» aus Lukas 10. In Jesu Beispielerzählung wird ein Mann brutal zusammengeschlagen und am Wegrand schwer verletzt liegen gelassen. Weder ein Priester, der vorbeikommt, noch ein Levit (ein Tempeldiener) helfen ihm, obwohl sie ihn sehen. Ein Samaritaner aber hilft ihm, versorgt seine Wunden und bringt ihn in eine Herberge. 

© Julia Del Negro

Der Kontext, in dem Jesus diese Geschichte erzählt, ist die Frage, wie der Begriff «Nächster» im Doppelgebot der Liebe zu verstehen ist. Wer ist es, den wir gemäss der Torah lieben sollen? Die Art und Weise nun, wie Jesus mit dieser Frage umgeht, ist ethisch gleichermassen provokativ wie bleibend aktuell. Er weigert sich nämlich, den Begriff zu definieren, also objektive Grenzen anzugeben, wer beziehungsweise was unter den Begriff «Nächster» fällt. Diese Weigerung, den Begriff zu definieren, die im Kontext einer juristischen Hermeneutik eigentlich einer Bankrotterklärung gleichkommt, gilt es zu verstehen. 

Jesus will nicht angeben, wen wir nicht lieben sollen

Offensichtlich will der Jesus des Lukasevangeliums dem an ihm herangetragenen Bedürfnis nach unpersönlicher, begrifflich-objektiver Klarheit nicht nachkommen. Er beteiligt sich also nicht an der durchaus auch in der zeitgenössischen Ethik gerne geführten Diskussion, wo und wie die Grenze der ethischen Berücksichtigungswürdigkeit zu ziehen ist, um wen wir uns kümmern müssen und um wen nicht.

Der sachliche Grund liegt darin, dass Jesus nicht angeben will, wen wir nicht lieben sollen, wer uns ethisch gesehen egal sein kann. Stattdessen erzählt er eine Geschichte, deren Held ein Mensch ist, der sich von den anderen Protagonisten gerade dadurch unterscheidet, dass er den Verwundeten nicht nur sieht, sondern sich von diesem Anblick auch affektiv berühren lässt («und fühlte Mitleid»). Gerade dieser Samariter wird von Jesus als ethisches Vorbild präsentiert. Die eigentliche ethische Pointe der Geschichte wird aber in der Frage deutlich, die Jesus dem Fragesteller und damit auch uns stellt: «Wer […] ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden?»

Liebe bestimmt, wer mein:e Nächste:r ist

Im Unterschied zur anfangs gestellten Frage «Wer ist mein Nächster?» geht Jesu Frage nach innen und verlangt nach einer subjektiven, mein Selbstverständnis involvierenden Antwort. Im Blick ist eine ethische Aufgabe, keine theoretische, nämlich die, anderen zum oder zur Nächsten zu werden. Diese Frage kann ich nur mit meiner Existenz beantworten. Mit anderen Worten: Es geht um eine Transformation, die gleichermassen das Sehen wie das Fühlen und Handeln betrifft, ist es doch in Jesu Geschichte die Liebe, die im Verwundeten den Nächsten zu sehen vermag. Es ist wie bei Pelluchon: Das Mitleid, das affektive Getroffensein durch den Anblick des leidenden Anderen, ist das, was die Verbundenheit mit ihm aktiviert. Nächster wird der andere für mich, indem mir sein Leiden nahe geht.

Es heisst, dass wir nicht im Modus des unbeteiligten Zuschauers über unser Verhältnis zu Tieren und unsere Pflichten ihnen gegenüber nachdenken sollten.

Was hat dies nun mit unserem Verhältnis mit jenen nichtmenschlichen Anderen zu tun, die wir gewöhnlich mit dem Sammelbegriff «Tiere» bezeichnen? Es heisst, dass wir nicht im Modus des unbeteiligten Zuschauers über unser Verhältnis zu Tieren und unsere Pflichten ihnen gegenüber nachdenken sollten. Die Haltung des Samariters, die uns nahegelegt wird, ist vielmehr eine, die sich affektiv berühren lässt von der Situation des anderen. Eine christliche Sensibilität für das Leiden unserer nichtmenschlichen Mitgeschöpfe setzt also beim Mitgefühl für ihre beklagenswerte Situation an. Ihr Ideal ist gerade der für das Nicht-Heile sensible und von ihm bewegte Mensch. 

Ebenbild Gottes? Gott ist die Liebe!

Eine solchermassen am wahrnehmbaren, aber häufig unsichtbar gemachten Leiden der Tiere orientierte christliche Tierethik ist sich der Tatsache bewusst, dass die theologische Tradition, die Kirchen und viele sich als Christ:innen verstehende Menschen sich überhaupt nicht durch diese Sensibilität für die verletzte Würde unserer Mitgeschöpfe auszeichnen. Dominant war und ist leider in den Kirchen eine strenge Hierarchisierung von Mensch und Tier, mit einer Hochschätzung des Menschen und seiner Würde («wenig geringer als Gott», Psalm 8,6) und einer vergleichsweisen Geringschätzung aller anderer Lebewesen, die vielleicht nicht gequält werden dürfen, aber gegen deren Züchtung, Schlachtung, Nutzung und Kommodifizierung nur wenig auszusetzen ist. 

Hinter dieser tierethischen Nonchalance steht häufig eine Anthropologie, die den Menschen als Ebenbild Gottes und Krone der Schöpfung versteht. Dagegen haben diese Überlegungen anzudeuten versucht, dass der Mensch seinen Platz inmitten der Geschöpfe hat: Ebenbild Gottes ist der Mensch nicht einfach, er soll sich vielmehr als dieses erweisen. Ebenbild jenes Gottes, der Liebe ist («Gott ist die Liebe», 1Joh 4), ist der Mensch als einer, der mit den Augen der Liebe auf die Welt schaut, der sich berühren lässt durch das Leiden anderer, seien es Menschen oder Tiere. 


Vom Verfasser ist zum Thema u.a. erschienen:

  • Die Tiere der Theologie, in: R. Borgards (Hg.): Handbuch Tiere, Stuttgart: Metzler 2015, 281–288.
  • Tiere als Nächste und Mitgeschöpfe. Zum Ansatz einer Tierethik aus evangelischer Perspektive, in: M. Fehlmann, R. Niederhauser, M. Michel (Hg.): Tierisch! Das Tier und die Wissenschaft. Ein Streifzug durch die Disziplinen, Zürich: vdv Hochschulverlag 2015.

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Christoph Ammann hat über die Bedeutung von Emotionen promoviert und war bis 2017 Oberassistent am Institut für Sozialethik der Universität Zürich. Seit 2017 ist er reformierter Pfarrer in Zürich Witikon. Er ist Präsident des Arbeitskreises Kirche und Tiere (AKUT Schweiz).

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