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Rosemarie Reintjes

Seelsorge.net – Virtuelle Lebenshilfe in Krisenzeiten

Die fortschreitende Digitalisierung hat auch die kirchliche Seelsorge erreicht. Immer mehr Menschen suchen virtuelle Wege, um Rat und Unterstützung in schwierigen Lebensphasen zu erhalten. Genau hier setzt die Plattform «seelsorge.net» mit der E-Mail-Seelsorge an. 

Seelsorge kann vieles sein: ein Gespräch, eine zugewandte Geste oder einfach nur Zeit für den anderen haben. Kirchliche Seelsorger:innen arbeiten zumeist professionell und sind theologisch und psychologisch ausgebildet. Ratsuchende finden bei ihnen Trost, Anteilnahme und Begleitung. Die Seelsorge ist eine Kernkompetenz der christlichen Kirchen. Aber auch andere Religionen kennen die Sorge um das Wohl der Menschen. 

Krisenbewältigung per E-Mail

«Danke, ich schaffe es jetzt wieder, ohne Hilfe zurechtzukommen. Du hast mir durch schwierige Zeiten geholfen. Du warst zum richtigen Zeitpunkt für mich da. Jetzt gehe ich meinen Weg wieder alleine weiter.» User, 48 Jahre 

Dieses Zitat steht beispielhaft für den oft positiven Verlauf einer E-Mail-Seelsorge. Bereits 1995 hatten die Gründer die wegweisende Idee, das Potenzial des Internets zu nutzen und virtuelle Lebenshilfe anzubieten. Seitdem stellt die Plattform Menschen die Möglichkeit zur Verfügung, mit Seelsorger:innen in einen digitalen Austausch zu treten. 

Im Laufe der Jahre haben sich die Anfragen verzehnfacht und mittlerweile engagieren sich fast 40 Seelsorger:innen ehrenamtlich bei seelsorge.net, darunter Pfarrer:innen, Psycholog:innen, Sozialpädgog:innen. Sie begleiten die Nutzer:innen persönlich per E-Mail. Seelsorge.net legt grossen Wert auf hohe Standards, insbesondere in Bezug auf die Anonymität und Beratung. Die User:innen können sich zudem auf eine professionelle Software sowie auf eine regelmässige Qualitätssicherung verlassen. 

Wer nutzt seelsorge.net?

«Das war erst einmal alles zusammengefasst. Ich habe bisher noch nie jemanden davon erzählt. Ich bin froh, dass ich hier alles aufschreiben konnte. Was kann ich tun?» Userin, 23 Jahre

So unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Themen, die sie bewegen. Von Schulproblemen und Liebeskummer, Trauer und Glaubensfragen, bis zu Familienkrisen und biografischen Neuorientierungen sind fast alle Lebensfragen vertreten. Weiterhin wenden sich User:innen mit Nöten wie Suizidgedanken, Gewalterfahrungen, Wohnungslosigkeit und psychischen Problemen an die Seelsorger:innen. 

Durch die Distanz des Mailverkehrs erfahren Betroffene, dass sie über das Unaussprechliche schreiben können. 

Insbesondere «Digital Natives», Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, nutzen die virtuelle Seelsorge. Für sie ist es nichts Neues, ihre Gedanken und Erfahrungen in sozialen Netzwerken zu formulieren. 

Bild: iStock/staticnak1983

Aber es gibt auch andere, für die die E-Mail-Seelsorge ein Weg ist, sich Hilfe zu holen. Nicht selten melden sich Menschen, denen es nicht möglich ist, ihre Probleme auszusprechen. Es stellen sich bei ihnen Redehemmungen ein, wenn sie ihre zum Teil zutiefst verstörenden Erlebnisse mitteilen wollen. Durch die Distanz des Mailverkehrs erfahren Betroffene, dass sie über das Unaussprechliche schreiben können. 

Was sind die Vorteile der E-Mail-Seelsorge? 

Die digitale Seelsorge bietet einen anonymen, niederschwelligen Zugang, jederzeit und von jedem Ort aus. Viele Ratsuchende schätzen gerade die zeitversetzte Kommunikation durch das Schreiben einer elektronischen Nachricht. Sie können ihre Botschaft und die Antwort des Seelsorgers oder der Seelsorgerin immer wieder lesen und reflektieren. Es bleibt ausreichend Zeit, um die Gedanken zu ordnen und zu entwickeln, um dann den Dialog fortzusetzen. 

Oft schreiben die User:innen mitten in der Nacht. Das Grübeln und die Nöte halten sie wach und es ist kaum jemand erreichbar. Die Verfügbarkeit der E-Mail-Seelsorge ist für die Schreibenden eine Entlastung und sie wissen, dass bald jemand auf der anderen Seite ihre Zeilen liest. Immer wieder gelingt zwischen Seelsorger:innen und User:innen eine tiefgehende seelsorgerliche Begleitung, die mitunter mehr als ein Jahr dauern kann. 

Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Religion? 

«Ich gehe nicht zur Kirche und glaube nicht an Gott. Darf ich trotzdem schreiben?» Userin, 16 Jahre

Seelsorge.net wird hauptsächlich von den reformierten und katholischen Kantonalkirchen der Schweiz finanziert. Die Seelsorger:innen beraten auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes. Danach sind alle Menschen gleich und von Gott geliebt. 

Es versteht sich von selbst: Jede und jeder ist willkommen, unabhängig von Herkunft und Religion.

Es versteht sich von selbst: Jede und jeder ist willkommen, unabhängig von Herkunft und Religion. Religiöse Fragen werden von den Seelsorger:innen erst dann aufgegriffen, wenn die Userin oder der User sie von sich aus thematisiert. In diesem Fall kann Spiritualität eine wertvolle Stärke und Hilfe sein. Nutzer:innen suchen zudem Antworten auf Glaubensfragen oder interreligiöse Probleme, zum Beispiel wenn der Partner oder die Partnerin eine andere Religion hat. 

Internetseelsorge ist keine Einbahnstrasse 

Der Dialog zwischen Seelsorger:in und User:in ist nicht einseitig – hier die Ratgebenden, dort die Ratsuchenden. Die Seelsorger:innen erhalten ebenso Inspiration und Impulse durch die User:innen. Diese wissen viel vom Leben und stellen sich mit Mut ihren Nöten und Herausforderungen. Ihnen gebührt grösste Anerkennung.


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Autor

  • Rosemarie Reintjes

    Kommunikationstrainerin, Coach, Seelsorgerin ||| Rosemarie Reintjes ist selbstständige Kommunikationstrainerin, Coach, Seminarleiterin und Fachautorin (www.kommunikationsberatung-reintjes.ch). Sie absolvierte ihre Ausbildung zur Kommunikationspsychologin am Schulz von Thun Institut, Hamburg. Ausserdem ist sie als Sozialdiakonin DDK tätig. Sie verfügt über einen Abschluss als Diplom-Sozialpädagogin (FH). Darüber hinaus hat sie Sozialwissenschaften, Geschichte und neuere deutsche Literatur studiert. Sie engagiert sich ehrenamtlich bei Seelsorge.net.

0 Gedanken zu „Seelsorge.net – Virtuelle Lebenshilfe in Krisenzeiten

  • Barthelmes sagt:

    Sehr geehrte Kollegin Reintjes bei seelsorge.net
    Danke für Ihre Zeilen zur Sache .
    Zwei Anmerkungen: vier : Zeichen in zwei Zeilen ermüden die Augen bei einem solchen schlichten Werbetext zur Seelsorge bei allem Respekt vor der Bemühung um inklusive Sprache.
    Zum anderen wirkt das abschliessende Selbstlob durch eine ehrenamtliche Mitarbeiterin eher verstörend. Und auch ein wenig unselbstkritisch. Möglicherweise ist hier auch ein Hinweis auf die Selbstkontrolle durch Supervisionsarbeit („Qualitätssicherung“) einen Hinweis wert. „Eine:r für alle“ tönt für die Gewinnung möglicher Gönner:innen eher dann glaubwürdig, wenn auch die Seelsorge durch die Gruppe (D. Stollberg) deutlich wird und manche Incidents nur im Miteinander angemessen einen Rat finden können. Wir sind halt auch nicht der Liebe Gott.
    Beste Grüsse eines Kollegen

    • Sehr geehrter Kollege
      Vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Gerne antworte ich Ihnen zu Ihren zwei Anmerkungen.
      Ich gebe Ihnen zu den Doppelpunkten recht. Ich habe mich für die inklusive Form entschieden. Aber wenn Ihnen diese Schreibweise Mühe macht, verzichte ich bei meiner Antwort darauf.
      Ich verstehe nicht ganz, wo Sie Eigenlob herauslesen? Vielleicht ein Missverständnis?
      Im letzten Abschnitt geht es mir darum aufzuzeigen, dass der Austausch zwischen Seelsorgerin und Userin auf Augenhöhe geschieht. Auch die User verstehen viel vom Leben und geben den Seelsorgern Impulse. Mir war es wichtig, das zu würdigen.
      Ich hoffe, ich konnte etwas zur Klärung beitragen.
      Beste Grüsse
      Rosemarie Reintjes

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